Interview mit Evgeny Chichvarkin, Gründer von Hedonism Wines

Zar Alexander IV.

Interview: Eva Maria Dülligen, Fotos: Eva Maria Dülligen

Er ist Zielscheibe russischer Geheimdienste und ein politischer Skeptiker vor dem Herrn. Er schert sich keinen Deut um Leute, die ihn als exzentrischen Vogel brandmarken, und setzt stattdessen noch einen drauf. Evgeny Chichvarkin hat die Londoner Weinszene aufgemischt wie kein anderer je zuvor. Mit seinem High-End-Weinshop Hedonism im Nobelviertel Mayfair polarisiert der russischstämmige Geschäftsmann ebenso wie mit seinem eigenwilligen Weltbild. Wir haben ihn in seinem kleinen Weinimperium besucht.

Herr Chichvarkin, soeben hat ein Kunde 22 Flaschen Bordeaux für 8540 britische Pfund mit abgezählten Banknoten erworben. Ist das Alltag im Hedonism?
Das war ein indischer Restaurantbesitzer, ein Stammkunde. Solche Käufe sind keine Ausnahme, sie finden mindestens einmal am Tag statt. Wir haben hier Weine und Spirituosen im Wert von einigen Millionen Pfund – die muss man schliesslich an den Mann bringen.

Und wie funktioniert das?
Wenn ich das auf ein Rezept runterbrechen würde: mit einem Mix aus Mut, Kreativität und Spürsinn. Als ich 2008 nach London kam, habe ich gemerkt, dass etwas schiefläuft mit dem Weinhandel hier. Man musste nahezu darum betteln, bedient zu werden. Da schlug einem die pure Arroganz entgegen: Ist mir doch scheissegal, ob ich dir eine Flasche Wein verkaufe oder nicht. Und das in einer der reichsten Städte der Welt. 

In den britischen Medien wird behauptet, es sei eine Flasche Tempranillo gewesen, die den Stein endgültig ins Rollen gebracht habe.
Zu einem besonderen Anlass wollte ich ein paar Flaschen 2001er Roda Cirsion aus der Rioja für je 170 Pfund kaufen. Ich erwähne den Preis, weil das ja keine Peanuts für den Anbieter sind. Also habe ich wild rumtelefoniert, bei Harrods, Berry Bros. und so weiter nachgefragt. Als ich mit der Liste durch war und die kürzeste Lieferzeit sechs Wochen betragen hätte, wusste ich, dass ich selbst ein Weingeschäft aufmache.

Was machen Sie konkret anders im Hedonism?
Kürzlich war ich auf dem Münchner Flughafen, wo auf dem Boden eines Weinladens eine verstaubte Doppelmagnum von Bollinger vor sich hin fristete. Unglaublich. Wir inszenieren unsere Bouteillen wie Diven, verkaufen fünfmal mehr Magnums von Dom Perignon als andere Londoner Weinshops. Dann unser Service. In den beiden Wochen vor Weihnachten zum Beispiel sind wir wegen des enormen Andrangs so aufgestellt, dass niemand länger als zwei Minuten an der Kasse warten muss.

Sprechen wir über die Zeit vor London. Im Alter von 22 gründeten Sie Evroset, eine Mobilephone-Firma, die zum grössten Unternehmen dieser Art in Russland aufstieg – mit einem jährlichen Umsatz von drei Milliarden US-Dollar. Dann die Flucht bei Nacht und Nebel. Was war passiert?
Aufgeblüht ist Evroset unter der Regierung Jelzins. Als Putin an die Macht kam, änderte sich das schlagartig. Schliesslich war Russland von einem demokratischen Reformer in die Hände eines despotischen Oligarchen gefallen. Ich war denen zu gross geworden. Also hing mir die Justiz die Entführung eines Evroset-Mitarbeiters an. Als es richtig eng wurde – Observation, Verhöre et cetera –, bin ich auf der Autorückbank eines Freundes liegend nachts mit einem englischen Visum in der Tasche zum Moskauer Flughafen und von da ab nach London-Heathrow.

Das war ganz offensichtlich ein One-Way-Ticket. Sie stehen auf der Fahndungsliste, und Sie vermuten sogar, auf der Todesliste russischer Geheimdienste zu stehen: realistisch oder Paranoia?
Die Jagd auf mich hat ja an der britischen Grenze nicht haltgemacht. Es ist sicher keine Paranoia, wenn man drei Russen mit dunkler Ray-Ban-Brille und Sonnenblumen-Kernen zwischen den Zähnen gegenüber seiner Wohnung für Agenten hält. Umso wichtiger, öffentlich so sichtbar wie möglich zu sein. Vor der letzten Wahl in Russland bin ich mit einem Megaphon vor der russischen Botschaft hier rumgelaufen und habe zum Boykott gegen Putin aufgerufen. Ausserdem spende ich für den Oppositionellen Alexei Navalny. Da stösst auch Putins Humor an seine Grenzen.

«Die Leute sehen mich mit meinem gezwirbelten Schnurrbart und Schuhen, die aussehen wie Pantoffeln. So what? Sie kommen trotzdem, um ihre Flasche Wein hier zu kaufen.  »

Also würden Sie ihn nicht auf ein Gläschen Wodka zu sich nach Hause einladen?
Er würde mir ja auch keinen Eiskübel mit einer Flasche Roederer Cristal in die Moskauer Gefängniszelle bringen lassen.

Sie sagen, dass Sie erst seit einigen Jahren auf den Geschmack von Champagner gekommen seien. In Ihrer Moskauer Zeit, so die hiesige Presse, hatten Sie ein Faible für Wodka und danach für plakative Rotweine aus Kalifornien.
Ich hatte nie eine Vorliebe für Wodka. Mit meinen russischen Freunden habe ich Bier getrunken, aus Schweden oder Deutschland. Was den Wein betrifft, stimmt es, dass ich bis Ende 30 die Explosion im Mund geliebt habe: wuchtige Shiraz und Grenache aus Napa Valley. Wenn man jeden Tag von den besten Weinen der Welt umgeben ist, kommt man auf den Geschmack von Nuancen. Langsam taste ich mich an schön gereifte Bordeaux und Chardonnays aus dem Burgund heran.

Kommt bei Ihnen also auch ein minera-lischer Riesling aus Moselaner Steilterrassen auf den Tisch?
So weit bin ich noch nicht. Ich befinde mich mitten in einem Reifeprozess. Lernen ist für mich eine lebenslange Aufgabe. Ein deutscher Philosoph soll mal gesagt haben, alles Festgestellte gehöre in die Pathologie.

Haben Sie deshalb in den Regalen alle Flaggschiffe der deutschen Riesling-Szene, obwohl Sie selbst keinen trinken?
Meine goldene Regel als Weinhändler ist, nie nur das anzubieten, was den eigenen Präferenzen entspricht. Jeder Weinliebhaber hat seinen eigenen Gusto. Deshalb führen wir ein Sortiment mit rund 5000 verschiedenen Weinen. Ein selektiver Bauchladen sozusagen.

Der teuerste Wein im Hedonism ist ein 1811er Château d’Yquem für 98 000 britische Pfund. Muss ich eine goldene Kreditkarte haben, wenn ich hier Wein kaufen will?
Genau das ist nicht unser Konzept. Du kannst hier eine Magnum von Romanée Conti aus 2005 für 65 000 Pfund kaufen. Aber auch einen Verdelho aus dem neuseeländischen East Valley für 11,50 Pfund. Wir bieten 700 Weine unter 30 Pfund an. Einen Laurent Perrier Non Vintage bekommen Sie hier günstiger als im Supermarkt Tesco.

Eine Londoner Weinbloggerin hat mal gepostet: Für mich ist das Hedonism eher ein Ferrari-Showroom als ein Fine-Wine-Mekka.
Ein anderer Weinblogger hat darauf geantwortet: Das Hedonism provoziert vielleicht Ekel und Neid. Wein als Bling-Bling – aber was für eine Selektion!

Wie gehen Sie mit Vorurteilen und Anfeindungen um?
Der Mensch braucht Vorurteile. Das gibt ihm Sicherheit. Als reicher Russe ist man schnell ein bildungsferner Oligarch, ganz gleich, was man macht. Viele nennen mich exzentrisch. Im Hedonism läuft Musik von Joy Division oder Janis Joplin, von der Decke hängen Kunstfinger, die eine Flasche Shiraz der Winery Sine Qua Non halten. Die Leute sehen mich mit meinem gezwirbelten Schnurrbart und Schuhen, die aussehen wie Pantoffeln. So what? Sie kommen trotzdem, um ihre Flasche Wein hier zu kaufen.

Sie bezeichnen sich selbst als anarchistischen Kapitalisten. Was meinen Sie damit?
Vom Kommunismus bin ich geheilt. Als Kind stand ich in Moskau andauernd in 400 Meter langen Warteschlangen, nur um eine Rolle Klopapier zu ergattern. Menschen prügelten sich um eine Packung Zigaretten. Gerne würde ich Corbyn von der Labor Party, der England in einen sozialistischen Staat verwandeln will, oder sonstige Kaviar-Marxisten für einen Monat in diese Zeit der Sowjetunion beamen. Und wenn sie wieder zurück sind, mit ihnen noch mal über das sozialistische Paradies diskutieren. 

Aber warum anarchistischer Kapitalist?
Den Raubtier-Kapitalismus lehne ich ab, weil der sich selbst zerfleischt. Aber auf dem Boden einer funktionierenden Wirtschaft lässt sich in Unternehmen mit flachen Hierarchien und unpopulären, aber guten Ideen einiges realisieren. Ich für meinen Teil lasse den Hedonism-Mitarbeitern kreativen Raum und werde dafür mit teils genialen Ideen belohnt.

Machen Sie sich als Wein-Unternehmer Sorgen zum Thema Brexit?
Nein. Was ist zum Beispiel mit Romanée Conti passiert? Nach dem Referendum 2016 wollten die nichts mehr nach England verschiffen. Haben dann doch brav weiter geliefert. Wenn es knallhart kommt, also der No-Deal-Brexit ansteht, gibt es immer noch die Abnehmer in China, USA, Indien und so weiter. Dann gehen alle bei uns bestellten Europa-Weine von da direkt in diese Länder. 

Für den inländischen Handel könnte es trotzdem eng werden. Der indische Restaurantbesitzer von vorhin müsste wahrscheinlich mehr als 8540 Pfund für 22 Flaschen Bordeaux hinblättern.
Abwarten und Earl Grey trinken.

Kann man sich bei den Trophäen-Weinen, die Sie im Hedonism führen, überhaupt vor Fälschungen schützen?
Die Gefahr ist allein deshalb schon ausgeschlossen, weil mein Chef-Einkäufer Alistair Viner heisst: Er ist der Beste seines Fachs, verfügt über seit Jahrzehnten gewachsene Kontakte zu Négociants und Auktionshäusern. Wir bekommen die Icon-Wines von Latour, Tenuta dell’ Ornellaia und anderen Flagships mit entsprechenden Reliefs und Prooftags.

Nicht weit von hier auf dem Piccadilly haben Sie mit dem Restaurant «Hide» im Jahr 2018 den nächsten Coup gelandet. Schon nach einem halben Jahr kam der erste Michelin-Stern. Wie schafft man das in Londons Zentrum mit Hunderten von Fresstempeln?
Ob das ein Coup war, wird sich zeigen, den Break Even Point erwarte ich in ungefähr zehn Jahren. Ein Anreiz ins «Hide» zu gehen, ist, dass man alle Weine aus dem Hedonism bestellen kann. Ein weiteres USP ist die Architektur. Durch spezielles Glas kann man die Gäste von aussen nicht sehen – deshalb «Hide». Aber von innen kann man auf den Green Park gucken. Allein die gaudieske Treppe, die über drei Etagen führt, hat 100 000 Pfund gekostet. Von der formidablen Küche der Koch-Ikone Ollie Dabbous will ich gar nicht erst anfangen. Ich glaube, ich bin der häufigste Gast da.

Kochen Sie auch selbst?
Ich liebe es, zu kochen. Für meine Kinder, meine Lebensgefährtin und mich. Was, hängt ganz von meiner Stimmung ab. Der Schwerpunkt liegt aber eindeutig auf Seafood undauf ganzen Meeresfischen mit mediterranen Kräutern.

Was liegt bei Ihnen zuhause in Chelsea im Wein-Schrank?
Passend zum Seafood sehr viel Jahrgangs-Champagner: Paul Roger, Remi Krug und der Rosé Brut Roederer Cristal, Jahrgang 2008, mit seinem samtigen Auftakt und dieser unglaublichen Präzision.

Ein interessantes T-Shirt übrigens, das Sie da tragen. Wen bildet das Konterfei ab?
Das ist Zar Alexander II., ein reformistischer Geist. Er hat die Leibeigenschaft der Bauern abgeschafft und die Zensur gelockert. Er hat aber leider auch Alaska an die USA verscherbelt. Sein Lieblings-Getränk war übrigens Roederer Cristal.

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