Reife Rotweine aus Bandol

Erinnern, geniessen

Text und Bild: Rolf Bichsel, Foodstyling: Barbara Schroeder

Grosse Rotweine aus dem provenzalischen Bandol reifen ewig. Sie sind Zeitmaschinen, die den Blick zurück erlauben. Doch Erinnerungen schmecken erst richtig gut, wenn man sie teilen kann, rund um eine gut gedeckte Tafel. Drei zeitlose, so einfache wie schmackhafte Gerichte, drei grosse Bandol, 10, 20 und 30 Jahre jung, und eine Handvoll Geschichten, die dazu ermuntern, in den Strudel des Gelebten zu tauchen und alte Erinnerungen aufzufrischen.

Weine erzählen ihre Geschichten. Ein Wein, der seine Geschichte vergessen hat, geschichtslos und damit gesichtslos geworden ist, reduziert sich auf ein einfaches, ziemlich unnötiges, zu kalorienreiches Nahrungsmittel. Ein Getränk, das durstig macht, statt den Durst zu löschen. Ein Getränk, das mitunter recht bitter schmecken kann. Versüsst wird Wein durch den Geist, der ihn durchdringt. Weingeist, mag sein, ist letzlich destillierter Alkohol, der uns in den Kopf steigt, zuerst anregt, dann beruhigt und uns schliesslich trunken macht. Oder eben: Geist seiner Geschichte. Nein, nicht der offiziellen, der langweiligen Lehrbuchgeschichte, die spannende Abenteuer auf so lapidare Phrasen reduziert wie: «Schon die alten Römer haben in Le Castellet Wein angebaut und in Amphoren gefüllt, den sie im Hafen von Bandol, von den Phöniziern gegründet, auf ihre Galeeren verfrachteten.»

Ich meine echte Geschichten, «Stories» nicht «History». Geschichten, die auf dem Nährboden der Erinnerung zur Legende werden. Erlebte, erduldete, erdachte und erträumte Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Das Gute an solchen Erzählungen: Sie altern gut und schmecken mit zunehmender Reife immer besser. Jung mögen sie unausgegoren, ungeschliffen, ungeschickt aus dem Hirnkokon schlüpfen, drohen auch mal, im Keim zu ersticken, stolpern mit weichen Knien über die Lippen, kämpfen wankend um ihr Gleichgewicht, plätschern kantig und herb ins Glas. Doch auf dem Kompost reicher, gelebter Tage, auf dem Mulch von Erlebnis und Erfahrung treiben sie aus, setzen Blätter an und tragen stolze Früchte.

Aus gestern mach heute

Im Leben ist immer jetzt, nie gestern oder morgen. Morgen ist eine flimmernde Fata Morgana und Gestern das zuerst wie ein Strohfeuer auflodernde, doch ebenso rasch verglimmende Fegefeuer des Gelebten, in dem Erinnerungen aufflackern wie die Glut, in die man verzweifelt bläst, weil man nicht will, dass sie ausgeht. Wein ist der Lift, der uns auf der Timeline nach unten bringt, ist wie Orwells Zeitmaschine. Jahrgang 1988? Recht kühle Witterung, regnerischer Sommer, doch milder Herbst. In den USA träumte Ronald Reagan vom Krieg der Sterne. In Genf wurde der Weltklimarat der UNO ins Leben gerufen. In Lhasa demonstrierte die Bevölkerung für die Unabhängigkeit Tibets. Im Norden von Borneo wurde eine neue Insel entdeckt. In Amsterdam starb der Trompeter Chet Baker nach einem Sturz aus dem Fenster in der zweiten Etage. In Dublin gewann die frankokanadische Sängerin Céline Dion den Eurovision Song Contest für die Schweiz. In La Cadière-d’Azur wurde unter Aufsicht von Claude Jouve-Ferec, der Besitzerin von Lafran-Veyrolles, die Ernte eingebracht und zu einem tintenfarbenen, abgrundtiefen, schon nach wenigen Monaten im Fass geheimnisvoll nach Fichtenharz und Meer duftenden Wein verarbeitet.

Vier Jahre später packte ein verwirrter junger Mann, der nicht recht wusste, was er wollte in seinem Leben – Weinen, Kochen, Schreiben, Fotografieren, Musizieren? –, sechs Flaschen davon in den Kofferraum seines roten Volkswagens. Sie sollten im noch gähnend leeren, viel zu feuchten Gewölbekeller zu den anderen Kellerschätzen kommen. Sie waren dazu bestimmt, Jahrzehnte den Schlaf des Gerechten zu schlummern, auf dass sie dereinst den Gaumen des heute noch feucht-ohrigen, dann aber in Unehre ergrauten Sammlers flüssiger Erinnerungen erfreuen würden. «Öffnen sie diesen 1988er ja nicht zu früh!», mahnte in weiser Voraussicht Madame mit erhobenem Zeigefinger, bevor sie die Hand zum Abschied reichte. «Hier halten wir nichts von der Mode der pflegeleichten Rotweine für den raschen Konsum. Hier machen wir Wein für Generationen.» Wortwörtlich: Lafran-Veyrolles, eines der ältesten Weingüter von Bandol, steht seit dem 19. Jahrhundert im Besitz der gleichen Familie.

Und dann eine Nachricht: erhalten am 18. Februar 2019, Absender der 1996 geborene Sohn des einstigen Käufers. «Génial, le vieux Bandol», meinte er. Der geniale alte Bandol? Lüften wir das offene Geheimnis, verzichten wir auf das ohnehin löcherige Inkognito: Die zweitletzte Flasche Lafran-Veyrolles 1988, mit meiner Zustimmung (als ob es die brauchte, Wein gehört geteilt, erst recht mit seinem Nachwuchs) aus meinem mittlerweile gut gefüllten Keller abgestaubt. Die letzte opfere ich eben, um auf das Wohl des Lesers anzustossen. Geduld bringt nicht nur Rosen, manchmal entkorkt sie auch alte Horizonte neu.

Was ich damit sagen will? Das muss jeder selber wissen. Geschichten sind manchmal die eigenen. Erzählen sich jedem anders. Lassen den Intellekt links liegen und dringen wie gute Musik direkt in Herz und Bauch. Vielleicht hätte ich doch Barpianist bleiben sollen. Da muss man sich nicht durch Zeilen quälen, um seinen Kropf zu leeren und sein Herz überfliessen zu lassen, und guten Wein zu trinken gibt es da auch.  Sommer 2000 – ein neues Jahrtausend schlüpfte aus dem Ei und reckte gähnend die Flügel. Suchmotore katalogisierten das Dasein, und im weltumspannenden Spinnennetz platzten Seifenblasen. Über den Rebterrassen von Château Pibarnon, geformt wie ein römisches Amphitheater (ohne die alten Römer geht wirklich nichts in Sachen Wein), kreisten Möwen oder Kormorane oder wie die Viecher auch immer heissen mögen. Sie imitierten mit kreischender Stimme und schlecht gestimmtem Schnabel Alice Cooper. Restanques werden lokal diese alten, von modernen Bulldozern neu modellierten Terrassen genannt, auf denen Reben wachsen, umgeben von Zypressen, Olivenbäumen, Kiefern und Rosenlorbeer.

«Verwitterter Kalk über Ablagerungen von blauem Lehm sorgen für die besondere Eleganz und Klasse unserer Weine. Blauer Lehm wie auf Château Pétrus», schloss der kommunikationsgewandte Weingraf und lud galant zur Mittagstafel. Eric de Saint Victor, der eben die Nachfolge seines Vaters Henri angetreten hatte, ist bis heute für Pibarnon zuständig. Er liess wie dieser ein paar Jahre zuvor, bei meinem ersten Besuch auf dem Gut, eine gegrillte Goldbrasse auftragen. Merke: Kein Rotwein schmeckt so gut zu gegrilltem Meerfisch wie ein ausgereifter, grosser roter Bandol.

Doch eigentlich begann alles ja noch viel, viel früher. Wir schrieben das Jahr 1983. Ich war mit einem Quartett unterwegs, das sich seine Provenceferien mit Strassenmusik finanzierte. Wir spielten Ska, alte Standards und überhaupt alles, was uns gerade unter die Tasten, Saiten und Drumsticks kam. Die Ausbeute, die wir jeden Abend in einer Plastiktüte auf die Nationalbank in Avignon brachten, war sehr zum Unmut der Bankangestellten. Sie mussten Abend für Abend Berge von Kleingeld abzählen und reichten uns maulend die pastellfarbenen Papierblättchen, mit denen wir Rollen aus klimperndem Kleingeld drehten. Sie reichte von Cents bis Zehn-Franc-Talern – die Ausbeute, sagte ich, war reichlich, so reichlich, dass wir uns ein luxuriöses Abschiedsmahl leisten wollten. Nämlich in L’Isle-sur-la-Sorgue, in einem kleinen, von einer Miniaturausgabe einer ewig lächelnden, aus dem Elsass gebürtigen Dame geführten Familienbetrieb, wie sie heute im Zeitalter des Franchisings nicht mehr existieren. «Ich werde euch ein unvergessliches Mahl zubereiten, das etwas Fleisch auf eure abgemagerten Gerüste bringt», versprach sie, als wir den Tisch für den Abend reservierten.

Sie hielt ihr Versprechen voll und ganz. Das Lammgigot in Brotteig, begleitet von Hügeln von Gemüse und Bratkartoffeln, duftete unvergleichlich nach Zitrone und Thymian, war rosa, saftig und zart und damit perfekt gegart. Es bleibt so unvergesslich wie der Rotwein, den wir uns, in völliger Unkenntnis jedweder önologischer Sophisterei, von der Hausherrin aussuchen liessen: ein roter Bandol, «der grösste Rotwein der Welt, besser als all dieser neureiche Schnickschnack aus Bordeaux.» Alte Liebe rostet nie, schon gar nicht, wenn sie durch Leib, Mark und Magen geht. 
Dass Bandol bis heute zu den grössten Rotweinen der Welt gehört, beweist nicht nur der nostalgische Rosa-Brillen-Blick zurück, der nie garantiert, dass eine heiss gekochte Geschichte nicht zur zu oft aufgewärmten Legende verkommt. Erst kürzlich war es, im Keller von Domaine Tempier. Daniel Ravier, der Verantwortliche des Gutes, der die von der Familie Peyraud gehaltene Domäne seit 2013 biodynamisch bestellt, tauchte die Pipette ins Fass und liess ins Glas tröpfeln, was ich morgen einmal mehr wehmütig als unvergessliche Erinnerung aus dem Gehirnschlund fischen werde: Migua, Tourtine oder Cabassou, Weine schierer Komplexität, Rasse und Kraft.

Erinnerungen sind nur etwas wert, wenn man sie teilt, sie preisgibt, entstaubt, entsakralisiert, von den Fesseln der verlorenen Zeit befreit. Doch bei Gott, nicht als überkontrastreiche, detaillose Hochglanzbilder aus dem iPhone auf Instagram, als Seelenstriptease-Diashow für gelangweilte Gäste, als Multimediatortur mit Surround-Sound 5.1. Ich kenne keine treffendere Form dafür, als sie sauber und kulant auf einem Teller anzurichten, sie leise und sanft ins Glas gleiten zu lassen. Ich tue das mit meinen: Jeder darf das mit getrost seinen Erinnerungen tun. Jeder soll seine eigenen Zutaten, Zubereitungsarten, Weinschätze aus der Remise des Erlebten klauben. Jeder ist Koch und Kellermeister seines Schicksals und sollte nie blind Rezepte kopieren. Was folgt, ist nicht mehr als ein Denkanstoss dazu, seine eigenen Geschichten zu teilen und seine Gäste zu ermuntern, das Gleiche zu tun. Ich breche hier eine Lanze für die grossen Roten aus Bandol, weil sie Teil meines Initiationspfades in Sachen Wein darstellen. Tun sie das ganz ungehemmt mit ihren ureigenen kostbaren Kellerschätzen.

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