Von Geisenheim an den Bodensee

Ruderboot-Mythos und Zukunftswein

Text: Harald Scholl, Foto: GettyImages / Westend61, GettyImages / Peter Allgaier

Die Geschichte beginnt mit einem Ruderboot. So will es zumindest der Mythos: Irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts sollen ein paar listige Winzer Reben aus dem schweizerischen Thurgau gestohlen und sie über den Bodensee ans deutsche Ufer gebracht haben. Die damals noch nicht existierende Bundesrepublik, so könnte man meinen, verdankt ihre ehemals beliebteste Weissweinsorte also einem klandestinen Akt der Rebpiraterie.

 

Auch wenn Historiker die Geschichte als romantischen Unsinn abtun, lebt der Mythos natürlich weiter. Und nicht nur in Erzählungen – mancher Winzer vom nördlichen Seeufer spielt noch heute augenzwinkernd mit dem Bild des rebellischen Rebpiraten. Auf Etiketten, in Kellerführungen oder im Gespräch mit Touristen taucht das Motiv immer wieder auf. Oder wie ein nicht genannter Winzer aus Meersburg freimütig zugibt: «Ob es stimmt oder nicht – die Geschichte mit dem Boot verkauft sich einfach besser als ‹Züchtung in Geisenheim›». Was unbestritten richtig ist. Völlig richtig. Und diese Legende passt ja auch wirklich zum Bild des Bodensees: ein wenig weltentrückt, charmant und traditionsbewusst – aber eben auch erfinderisch. Und vielleicht ist es gerade dieses augenzwinkernde Spiel mit der Legende, das dem Müller-Thurgau seine sympathische Bodenständigkeit verleiht. Denn auch wenn die Herkunft wissenschaftlich belegt ist, bleibt Platz für Geschichten, die die Sorte mit der Landschaft verweben, aus der sie nicht stammt, aber in der sie sich heimisch fühlt. Wie so oft in der Weinwelt ist die Wahrheit wenig spektakulär, dafür umso aufschlussreicher.

Kein Diebstahl, sondern Züchtung

Der Müller-Thurgau ist keine alte Rebsorte, die heimlich über den See gerudert wurde, sondern ein wissenschaftliches Produkt des 19. Jahrhunderts. 1882 kreuzte der Schweizer Botaniker Hermann Müller, geboren im Kanton Thurgau, tätig am Königlichen Institut in Geisenheim, zwei Reben miteinander. Lange dachte man, es seien Riesling und Silvaner gewesen – eine Erklärung, die nicht nur plausibel klang, sondern auch den Siegeszug der Sorte beförderte. Erst moderne DNA-Analysen enthüllten Anfang der 2000er Jahre die wahre Kreuzung: Riesling × Madeleine Royale, eine frühreife Tafeltraube. Der Müller-Thurgau war damit nicht nur das Kind eines Irrtums, sondern auch ein Paradebeispiel für das, was die Rebenzüchtung des 19. Jahrhunderts leisten wollte: frühreife, robuste Erträge, geringe Ansprüche und dennoch eine gewisse Fruchtigkeit. Hermann Müller selbst war kein eigensinniger Bastler, sondern ein Forscher von Rang. Nach seiner Ausbildung in Wädenswil und Stationen in Deutschland und Frankreich trat er 1876 eine Stelle als Assistent in Geisenheim an, wo er bald schon für seine systematische Herangehensweise an Kreuzungsversuche bekannt war. Der spätere Professor kehrte erst 1891 in die Schweiz zurück, wo er das heutige Forschungsinstitut Agroscope mitbegründete. Dort wurde seine Züchtung, zunächst als Riesling × Silvaner verbreitet, rasch zu einem Exportschlager, vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich und Luxemburg. Dass der Müller-Thurgau in den 1950er bis 1970er Jahren zur mengenmässig bedeutendsten Weissweinsorte Deutschlands aufstieg, ist kein Zufall. Er war kalkulierbar, gut zu handhaben und ertragreich. Ein Wein, der zur Zeit passte – in die Wirtschaftswunderjahre, die ersten Urlaubswellen, die neue deutsche Leichtigkeit. Dass damit auch ein gewisses Imageproblem entstand, gehört ebenso zur Geschichte der Sorte wie ihre Renaissance in den Händen anspruchsvoller Winzer.

Der Bodensee – Heimat des Klassikers

Kaum eine Region in Deutschland ist so eng mit Müller-Thurgau verbunden wie das nördliche Ufer des Bodensees. Hier, zwischen Meersburg, Hagnau, Salem und Lindau, gedeiht die Sorte seit über hundert Jahren auf Muschelkalk, Molasse und Moränenböden, vom See moderat klimatisiert. Rund 70 Prozent der Rebfläche sind mit weissen Sorten bestockt, und der Müller-Thurgau führt die Rangliste immer noch ungebrochen an. Dabei war es ausgerechnet die Winzergenossenschaft Hagnau, gegründet 1881, die der Sorte nach dem Zweiten Weltkrieg zum Durchbruch verhalf. Unter der Ägide des legendären Schulmeisters und Önologen Heinrich Hansjakob wurden grossflächig Müller-Thurgau-Reben gepflanzt. Der Wein sollte mild, fruchtig und zugänglich sein – der ideale Begleiter für die aufstrebende Urlaubsdestination Bodensee und eine neue Generation deutscher Weintrinker. Noch heute ist der Stil der Weine geprägt von Leichtigkeit, Muskatanklängen, blumigen Noten und moderatem Alkohol. Müller-Thurgau ist hier kein Statement, sondern eine Lebensart. Und genau darin liegt sein Wert: authentisch, unkompliziert, regional fest verwurzelt.

Auch touristisch spielt die Rebsorte eine unterschätzte Rolle. Auf nahezu jeder Weinkarte der Region steht ein Müller-Thurgau, meist halbtrocken oder feinherb – oft als erste Wahl zum Bodenseefelchen oder zu frischen Salaten mit Kräutern aus dem Garten. Für die vielen Tagesgäste und Urlauber ist dieser Wein ein unkomplizierter Einstieg in die regionale Weinkultur: leicht verständlich, trinkfreudig und mit klarem Bezug zur Landschaft. Ob bei Weinwanderungen, in der Vinothek oder auf dem Ausflugsschiff – der Müller-Thurgau ist oft der erste Kontakt zur heimischen Weinszene.

Viele Betriebe nutzen genau diesen Wiedererkennungswert – mit Etiketten, die See-Idylle zeigen, mit Anekdoten über die «…kleine weisse Rebe von nebenan» und mit Weinen, die nicht überfordern, sondern einladen. Der Müller-Thurgau ist am Bodensee mehr als nur eine Sorte. Er ist Identitätsstifter, Imageträger und – trotz aller Leichtigkeit – ein ernst zu nehmendes Kulturgut.

Neue Stimmen, neue Stile

Während der Müller-Thurgau am Bodensee seiner klassischen Rolle treu bleibt, entdeckt ihn andernorts eine neue Winzergeneration – und interpretiert ihn radikal neu. Nicht mehr nur als sommerlichen Terrassenwein, sondern als ernsthaften, herkunftsgeprägten Weisswein mit Anspruch. Dabei geht es nicht um eine neue Mode, sondern um das ernsthafte Bestreben, eine unterschätzte Sorte zu rehabilitieren – mit Methoden, die sowohl auf Tradition als auch auf Innovation setzen. Was bleibt? Der Müller-Thurgau ist gekommen, um zu bleiben. Am Bodensee als leichter, duftiger Sommerwein – tief verwurzelt in der Region, generationsübergreifend beliebt. Und in anderen Ecken Deutschlands als neuer Klassiker im Werden: eigenständig, pur, manchmal auch unbequem. Die Rebsorte, die einst als Synonym für Massenwein und Liebfrauenmilch stand, ist heute dabei, ihr Image grundlegend zu wandeln. Nicht durch Marketing, sondern durch Handwerk. Nicht mit grossen Gesten, sondern durch stille Qualität. Und vielleicht ist es gerade das, was den neuen Müller-Thurgau so überzeugend macht: dass er seine Geschichte kennt – und jetzt endlich eine neue schreibt.

vinum+

Weiterlesen?

Dieser Artikel ist exklusiv für
unsere Abonnenten.

Ich bin bereits VINUM-
Abonnent/in

Ich möchte von exklusiven Vorteilen profitieren