Rebsorte Müller-Thurgau

Die verkannte Rebsorte?

Text: Andrea Heinzinger, Foto: frogfisher fotographer / Peter Aldag, Rolf Nachbar, z.V.g.,Stefania Casagranda, DWI, Alessandro Eccel

Von Everybody’s Darling zum Stiefkind: Müller-Thurgau. Die einst meistangebaute Rebsorte Deutschlands ist seit Jahren kontinuierlich auf dem Rückzug. Der Müller-Thurgau gilt heute vielen als langweilig, simpel und zu beliebig. Aber es gibt auch Winzer, die zeigen, dass «Müller» auch anders kann und damit die Vorurteile auf beein-druckende Art und Weise entkräften.

Müller-Thurgau? Für Jancis Robinson eine allenfalls «mittelmässige Züchtung». Die britische Weinautorin nennt die Rebsorte einen «Unheilbringer des deutschen Weinbaus», das Gros der Weine findet sie «flau» und von «vager aromatischer Blumigkeit». Eine Einschätzung, die sich in Verkostungen leider oft bestätigt. Was die Anbaumengen angeht, hat die Sorte ihre besten Zeiten definitiv hinter sich. Seit Mitte der 1990er Jahre ist die deutsche Anbaufläche um mehr als die Hälfte zurückgegangen, auch in Österreich ist die Sorte auf dem Rückzug (wenngleich immer noch beliebt in Niederösterreich).

Die immer mal wieder gefeierte Renaissance des Müllers lässt hier bislang auf sich warten. Dennoch, all dies darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Müller weiterhin eine Rolle spielt. In Deutschland liegt er mit einem Gesamtanteil von über 10,5 Prozent sogar deutlich vor besser beleumundeten Sorten wie etwa Weiss- und Grauburgunder (6 beziehungsweise 7,6 Prozent). Auf beachtliche fast 23 Prozent kommt man in Franken. In der Schweiz und auch im Trentino ist er die dritthäufigste weisse Rebsorte. Ein Hauptproblem des Müllers ist sicher, dass er bis heute kein eindeutiges Profil entwickelt hat. Für viele ist und bleibt er ein gesichtsloser Zechkumpan. Dabei gibt es durchaus einige hochkarätige Weine, die das Potenzial des Müllers unter Beweis stellen.

Modewein der Stunde null

Seinen Namen verdankt er dem Botaniker Hermann Müller aus dem Schweizer Kanton Thurgau, der ihn in den 1880er Jahren in Geisenheim züchtete. Er wollte, so seine Idee, das Beste der beiden Rebsorten Riesling und Silvaner vereinen: Aromatik und frühe Reife. Als «Müller-Thurgau» trat die neue Sorte bald ihren Siegeszug an. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in denen viele Rebflächen in Folge von Reblausbefall gerodet und neu bepflanzt werden mussten, kam der Müller mit seiner starken Wuchsfreudigkeit vielen wie gerufen.

«Man muss Müller ernst nehmen, um einen anspruchsvollen Wein daraus zu machen.»

Christian Stahl

Erst über hundert Jahre später sollte sich bei einer DNA-Untersuchung herausstellen, dass gar nicht Silvaner, sondern Madeleine Royale eingekreuzt worden war – durch Spontanbestäubung. So richtig los ging es mit dem Müller dann in den Jahren des Wirtschaftswunders.

Als dankbarer Massenträger war er in einer Zeit, in der mehr auf Masse denn auf Klasse gesetzt wurde, ein echtes Erfolgsmodell. Ausladend, säurearm und halbtrocken bis restsüss ausgebaut, trafen die charakteristisch muskatfruchtigen Weine den Geschmack der Zeit. Anfang der 1970er Jahre war Müller Deutschlands meistangebaute Rebsorte. Auch als Bestandteil der berüchtigten restsüssen Cuvée Liebfraumilch reüssierte er. (Wein-)Geschmack aber ändert sich. Als der gehobene Markt mehr und mehr nach trockenen Weinen mit Struktur und frischer Säure fragte, wurden dem Standard-Müller seine Süsse und Behäbigkeit zum Verhängnis. Es ist kein Wunder, dass ihm irgendwann in den 1990er Jahren der Riesling den Rang ablief. Der Marketing-Coup, den Müller als «Rivaner» (ein Name, der noch auf die früher vermutete Herkunft aus Riesling und Silvaner zurückgeht) zu vermarkten und ihm eine frischere, modernere Stilistik zu verpassen, konnte das Image letztlich nicht stärken.

Hat der Müller eine Zukunft?

In einer Welt, in der Riesling zum Motor einer deutschen Wein-Renaissance und der Herkunftsgedanke immer zentraler wird, hat es der Müller schwer. Viele Betriebe kultivieren zwar alte Müller-Bestände, nutzen diese aber oft nur als Cuvée-Partner oder zur Bereitung einfacher Basisqualitäten. Ein Umdenken allerdings scheint sich abzuzeichnen. «Mittlerweile kann man sogar wieder Müller-Thurgau aufs Etikett schreiben, und er wird trotzdem gekauft», sagt Thomas Schenk (Weingut Schenk, Franken). Mit einem Pét Nat, der die duftige Aromatik des Müllers in den Fokus stellt, beweist er, dass auch ein Müller Zukunftsmusik spielen kann. Das zeigt auch Markus Drautz vom Weingut Drautz-Able, Württemberg, der vor kurzem seine Müller-Bestände sogar erweitert hat, mit einem an die Stilistik eines Piemonteser Moscato angelehnten Secco. Und an der Staatlichen Meister- und Technikerschule für Weinbau und Gartenbau Veitshöchheim illustrierte mit dem Projekt «…sagt der Müller» die Abschlussklasse 2023, dass Müller «mehr kann als einfach».

Landauf landab gibt es jede Menge moderner Müller-Spielarten, deren Ausstattung mal ironisch, mal trendy mit dem Müller-Image spielt. Allesamt sind sie trinkig und aromatisch, keine Frage. Dennoch sind das in der Regel keine Weine, die mit grossem Reifepotenzial oder herausragenden organoleptischen Merkmalen beeindrucken. Um die Frage zu beantworten, ob Müller dazu überhaupt in der Lage ist, lohnt zunächst der Blick über die Alpen: In Südtirol sind drei Prozent der Anbaufläche mit Müller-Thurgau bestockt. Im angrenzenden Trentino steht der Müller an dritter Stelle nach Chardonnay und Pinot Grigio. Steil und hoch sind die Weinberge, aus denen Pojer & Sandri das Lesegut für den Palai holt. Auch in Martin Gojers (Weingut Pranzegg) Gemischtem Satz «Tonsur» mischt Müller-Thurgau aus den Höhenlagen oberhalb von Bozen mit.

Der Kult-Müller aus Südtirol

Ist es also die Höhenlage, die dem Müller auf die Sprünge hilft? Christof Tiefenbrunner sagt ja. Er leitet in fünfter Generation Castel Turmhof – Tiefenbrunner. Aus seinem Keller kommt mit dem Vigna Feldmarschall von Fenner einer der berühmtesten Müller. Sein Vater Herbert pflanzte die Sorte im Jahr 1972 auf dem Hochplateau des Fennberg. Bis heute gilt der auf tausend Meter Höhe liegende, nach Süden hin ausgerichtete und im Norden von einem Bergrücken vor dem Nordwind geschützte Weinberg als höchstgelegene Müller-Thurgau-Pflanzung Europas. Dass Tiefenbrunner vor 50 Jahren ausgerechnet Müller-Thurgau wählte, hatte zum einen mit dem frühen Reifezeitpunkt der Sorte zu tun. So konnte er sich sicher sein, dass die Trauben auch in der Höhe gut ausreifen würden. Zum anderen schätzte er das Terroir: Zu der extremen Sonneneinstrahlung kommt hier rund um die Hofstatt, wo die Familie seit Generationen ihre Sommerfrische verbrachte, ein ganz besonderer Boden. Auffallend rot, mit einem sehr hohen Mineralsalzgehalt.

Dazu kommen schluffig-lehmiger Sand, Porphyr- und Granitbrocken, darunter eine Dolomit- und Kalkschicht. Ein geologischer Cocktail, der den Weinen aus der Vigna Feldmarschall von Fenner (der Name geht auf einen Urahn der Familie zurück) Kraft, Tiefe und Brillanz verleiht. Im Keller verzichtet man auf grössere Eingriffe, um diesen Cool-Climate-Wein so pur und terroirtypisch wie möglich zu belassen. Eine kurze Maischestandzeit sorgt für zarte Phenolik, die spontane Gärung in grossem Holz und Beton sowie ein halbjähriges Lager auf der Feinhefe tun ein Übriges. Der Wein, der schon mehrfach die «Tre Bicchieri des Gambero Rosso» erhielt, zählt zu Italiens Topweinen.

Die Stilistik freilich hat sich über die Jahre hinweg verändert. Erntete Herbert Tiefenbrunner noch alles in einem Durchgang, geht man heute bis zu vier Mal durch die Reihen. Und erntet im letzten Schritt, so der Jahrgang es zulässt, edelfaule Trauben. Dass beim Feldmarschall seit dem Jahrgang 2008 bewusst mit Botrytis-Würze gearbeitet wird, dürfte wohl die grösste stilistische Veränderung unter Christof Tiefenbrunner und seinem Kellermeister Stephan Rohregger sein. «Der Botrytisanteil ist zwar gering, aber er sorgt nochmal für ein Extra an Länge und Komplexität, und dank dieser zuletzt gelesenen, sehr reifen Trauben pendelt sich der Restzucker dann bei etwa drei bis vier Gramm ein», bringt Tiefenbrunner die Besonderheit des Feldmarschalls auf den Punkt.

«Mikroklima, Boden und Ertrag prägen den Charakter eines Müllers.»

Christof Tiefenbrunner

Wie sich in Vertikalverkostungen immer wieder aufs Neue erweist, ist dieser Müller-Thurgau extrem langlebig. Dies liegt, betont Tiefenbrunner, zum einen natürlich am absolut gesunden Traubenmaterial, zum anderen an der besonderen Herkunft der Trauben. Auf über tausend Metern ist die Sonneneinstrahlung sehr stark, und das führt zu einer ausgeprägten, sehr definierten Aromatik. Dazu kommen die deutlichen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht, die die Säureentwicklung unterstützen.

Der moderne Müller aus dem Taubertal

Aus dem fränkischen Taubertal, genauer gesagt aus dem Hasennest, das sich bei Tauberzell bis auf 400 Meter Höhe über dem Flusslauf erstreckt, kommt Christian Stahls gleichnamiger Müller. Seit Anfang der 1980er Jahre wächst die Rebe hier. Übrigens der Müller, mit dem auch Stuart Pigott von sich reden machte, als er im Jahr 2010 mit einem eigenen Wein aus eben dieser Parzelle den Beweis antrat, dass Müller auch Grossen Gewächsen Paroli bieten kann. Dieses Müller-Urteil mag heute in Vergessenheit geraten sein, Stahls Hasennest aber gilt inzwischen als Paradebeispiel eines modernen Müllers. «Ein guter Müller macht richtig Arbeit», stellt der Winzer klar. «Man muss sich gut um ihn kümmern, ihn ernst nehmen.» Den Durchbruch brachte der Jahrgang 2003, nicht zuletzt, da die Trauben in diesem legendär heissen Jahr perfekte Reife zeigten: «Das Taubertal ist im Grunde ein Profiteur des Klimawandels. Hier war es immer deutlich kühler als etwa am Main.

Jetzt holen wir hier auf, dem Müller bekommt das gut. Und noch sind die Nächte an der Tauber kühl genug, damit die Trauben am Ende gute Säurewerte aufweisen.» Denn eines ist klar: Terroir und Lage müssen stimmen, damit der Müller zwar einerseits seine Aromatik ausbilden kann, aber andererseits auch Frische und Säure erhalten bleiben. Stahl setzt konsequent auf Ertragsreduzierung, die ebenso entscheidend ist wie der Lesezeitpunkt: Um optimale Ergebnisse zu erzielen, gehen Stahl und sein Team bis zu sechsmal durch die Reihen. Ins Töpfchen kommen nur absolut gesunde Trauben, Botrytis ist hier keine Option. Anders als eine zarte Phenolik, die auf eine längere, temperaturkontrollierte Maischestandzeit zurückgeht. Je reifer die Weine aus dem Hasennest werden, desto cremiger wird die Säure, desto ausdrucksvoller wird die Aromatik, die Stahl in der Intensität irgendwo zwischen Riesling und Sauvignon einordnet.

Der Unkonventionelle aus dem Rheingau

Phenolik ist auch eines der Geheimnisse des herausragenden Müllers «Jott» (wie «J») von Achim von Oetinger. Der «Jott» ist das Ergebnis einer langwierigen Auseinandersetzung mit der Rebsorte und ihrem Potenzial. Aber nicht nur das: Achim von Oetinger geht seit 2008 konsequent einen eigenen Weg, probiert und tüftelt, schafft bemerkenswerte Charakterweine. Mainstream sucht man hier vergeblich, das illustriert auch der «Jott» auf sehr aromatische Weise. Die Reben sind über sieben Jahrzehnte alt und geben nur noch minimalen Ertrag. Im Hause von Oetinger machte man daraus traditionell Traubensaft, Wein daraus zu vergären, war lange kein Thema gewesen. Bis von Oetinger im Jahr 2011 hier auf in seinen Augen perfektes Traubenmaterial stiess und begann, spontan zu experimentieren. Sein Ziel: Müller mit sanfter Phenolik.

Der Weg dorthin: nicht immer leicht. «Nach vier Tagen auf der Maische roch das Ganze unangenehm und erinnerte an Spargelwasser. Es hat sich aber gelohnt, die Nerven zu bewahren. Am Ende wurde die Aromatik (wieder) frisch und grün.» Im Grunde macht er den «Jott» bis heute so, hinzugekommen ist im Laufe der Jahre ein Anteil von 20 bis 30 Prozent ganz in den Gärtank gegebener Trauben. Nach der Spontangärung liegt der Wein dann neun bis elf Monate auf der Vollhefe, um die Textur zu verfeinern. Das Ergebnis: ein knochentrockener Wein mit enormem Reifepotenzial.

Drei Dinge braucht der Müller…

So unterschiedlich die Herangehensweisen an die polarisierende Sorte auch sein mögen: Um den Müller als «wertige Sorte» zu positionieren, muss sie ernst genommen werden.

«Phenolik verhilft dem Müller zu einem grösseren Reifepotenzial.»

Achim von Oetinger

Wer den Ertrag konsequent auf ein Minimum reduziert, ein gutes Laubwandmanagement nutzt, um den Trauben gerade die richtige Menge an Sonnenstrahlen zu geben, und den Lesezeitpunkt im Auge behält, hat gute Chancen.Auch eine Maischestandzeit für mehr Phenolik kann dem Müller auf die Sprünge helfen. Dennoch, und da sind sich auch die Winzer, die mit herausragenden Interpretationen glänzen, einig: Eine Müller-Thurgau-Renaissance ist wohl nicht zu erwarten.

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