«Sommeliers sind Künstler»

Interview mit Raimonds Tomsons, Sommelier-Weltmeister 2023

Text: Anick Goumaz / Foto: z.V.g.

Als echter Wettkämpfer zählte Raimonds Tomsons von Anfang an zu den Favoriten auf den Titel «Bester Sommelier der Welt». Er gewann diesen Titel am 12. Februar 2023 in Paris, nachdem er beim letzten Wettbewerb im Jahr 2019 den dritten Platz belegt hatte. Da er bereits eine Trophäe als bester Sommelier Europas und Afrikas besitzt, hat der 42-jährige Lette nun Zeit, in seiner Heimatstadt Riga weitere Projekte zu verwirklichen. Er spricht mit uns über seine Erfahrungen, verrät uns seine Vision für die Sommeliers von morgen und gibt Tipps für die nächsten Kandidaten des Swiss Wine List Award.


Den ASI-Wettbewerb «Bester Sommelier der Welt» zu gewinnen, verändert das Leben. Wie hat sich Ihr Leben seit dem Finale am 12. Februar 2023 verändert?

Mein Leben hat sich sehr verändert. Erstens habe ich über 20 000 Follower auf Instagram (lacht). Ich war in den sozialen Netzwerken immer eher passiv präsent. Jetzt muss ich mich mehr damit beschäftigen. In der heutigen Zeit ist das sehr wichtig. Die Aufmerksamkeit der Medien, sei es in Lettland oder international, ist für mich eine neue Dimension. Aber es ist ziemlich angenehm! Und natürlich haben sich viele Türen geöffnet. Ich erhalte Einladungen, die neue Möglichkeiten eröffnen. Es ist gar nicht so einfach, die richtige Wahl zu treffen, das muss ich noch lernen. Denn «Nein» sagen mag niemand gern.

Welche Türen haben sich denn schon geöffnet, bzw. welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Ich arbeite für eine Gruppe, die ein Gourmetlokal betreibt und die Weine nach Lettland importiert. Wir werden einen «Pop up Wine Shop» eröffnen, der uns dabei helfen wird, die Geschmäcker der lokalen Kundschaft kennenzulernen, bevor wir mit einem grösseren Laden starten. Aktuell setze ich meine Tätigkeit als Sommelier im Restaurant fort, mindestens einen Tag pro Woche. Das ist wichtig, denn die Gäste wollen mich sehen. Den Grossteil meiner Zeit verbringe ich jedoch damit, mich um den Vertrieb zu kümmern, indem ich die Winzer auf ihren Weingütern oder Messen besuche.

Sommelierwettbewerbe werden von immer mehr Menschen wie die Olympischen Spiele betrachtet.

Das stimmt! Wir wurden von Tausenden von Zuschauern im Saal in Paris beobachtet! Seit den Wettbewerben 2016 in Mendoza und 2019 in Belgien hat sich der Wettbewerb verändert. Man hat den Eindruck, als würde man in eine riesige Arena kommen wie ein Gladiator im Kolosseum! Auch wenn sie keine Sommeliers sind, sondern einfach nur grosse Weinliebhaber, begeistern sich immer mehr Menschen für die Wettbewerbe. Die Art und Weise, wie die Wettbewerbe organisiert sind, macht sie auch für Amateure attraktiver. Auf der Bühne sind echte Bars mit Restauranttischen und Servicepersonal aufgebaut. Wie in einem Theater!

War der ASI-Wettbewerb vor Ihrem Sieg in Lettland bereits bekannt oder wurde der Wettbewerb durch Sie bekannt?

Das Interesse stieg, als ich 2017 Bester Sommelier in Europa und Afrika wurde, und stieg noch weiter, als ich einen dritten Platz beim Wettbewerb Bester Sommelier der Welt in Belgien im Jahr 2019 erreichte. Diese Titel haben unseren Berufsstand bekannter gemacht. Es geht nicht nur darum, zu probieren und zu beraten. Die Leute sind sich weder bewusst, wie viele Kenntnisse man haben noch wie viel Zeit man für die Ausbildung aufwenden muss.

Sind Sie in ihrem Land nun bekannt wie ein bunter Hund?

In gewisser Weise ja. Viele Passanten gratulieren mir auf der Strasse. Das ist natürlich toll. Ich schreibe sozusagen eine weitere «Erfolgsgeschichte» für Lettland, auch wenn wir schon viel haben!

Kennen Sie Schweizer Weine?

Ich habe die Schweiz nur einmal besucht, und zwar die Bodensee-Region. Dort habe ich einige Weine probiert. Aber wie Sie wissen, trinken die Schweizer mehr als 90 Prozent ihrer produzierten Weine selbst. Auch wenn ich nur wenige  Weine probiert habe, habe ich sie für den Wettbewerb studiert – die Anbaugebiete, die Rebsorten, die Stile, die Grand Crus und Regionen. Als kleines Weinland ist die Schweiz relativ kompliziert. Die Begriffe der Weinbezeichnungen sind schwer zu merken, umso mehr, wenn man das Land selbst nicht besucht hat.

In Paris wurde Ihnen eine Frage zur Rebsorte Gamaret gestellt…

Ja, das war leicht für mich, denn ich hatte auf meiner Pinnwand alle Informationen über die Rebsorten, insbesondere die Kreuzungen in der Schweiz.

Viel diskutiert wurde die Aufgabe, ein veganes Menü mit alkoholfreien Getränken zu kreieren. Wie haben Sie dies gelöst?

Wir bieten solche Menüs bereits in dem Restaurant in Riga an, in dem ich arbeite. Wir kreieren selbst gemachte alkoholfreie Getränke. Also war ich gut vorbereitet. Es ist ein Thema, das immer beliebter wird; ich hatte auch die Vermutung, dass ein solches Menü Teil des Wettbewerbs sein würde. Allerdings war ich dann doch ein wenig überrascht, denn die Getränke, zu denen wir befragt wurden, waren sehr spezifisch. Das waren nicht die Bereiche, in denen ich das beste Ergebnis erzielte. Aber offenbar hat es dennoch gereicht (lacht).

Ist der Trend zu alkoholfreien Getränken nur eine Modeerscheinung oder die Zukunft in der Sommelier-Branche?

Beides. Wir stellen fest, dass die Gäste weniger trinken. Immer mehr Restaurants bieten ausgezeichnete alkoholfreie Getränke an. Der Trend ist bemerkenswert, global und entwickelt sich stetig weiter. Sommeliers müssen sich nicht auf diesen Bereich spezialisieren, aber sie sollten sich diesen Produkten öffnen und damit beschäftigen. Vielleicht wird es in der Zukunft einen «Sommelier für alkoholfreie Getränke» geben. Baristas sind bereits in Mode gekommen, es gibt Bier-Sommeliers und natürlich Barkeeper – ein etablierter Beruf... Wenn der Trend sich also im gleichen Tempo weiterentwickelt, wie wird dann der nächste Schritt aussehen?

Abgesehen von dem Thema alkoholfreie Getränke, welche Fragen des Wettbewerbs haben Ihnen am meisten Kopfzerbrechen bereitet?

Abgesehen von all dem theoretischen Wissen, ist es am schwierigsten, die Ruhe zu bewahren und die richtige Einstellung zu haben. Ich war zwar gut vorbereitet, aber mir war bewusst, dass ich beim letzten Wettkampf in Belgien 2019 nicht mit dem Druck umgehen konnte. Um mich also auf das Finale in Paris einzustimmen, wurde ich von einer Psychotherapeutin betreut, um es dort zu schaffen, mein Selbstvertrauen zu bewahren, mich nicht von Angst und Stress lähmen zu lassen und gleichzeitig Freude zu haben. Das hat gut funktioniert.

Welche Tipps haben Sie für zukünftige Teilnehmer am Swiss Wine List Award?

Eine gute Weinkarte muss nicht sehr lang sein. Was ich persönlich suche, ist die Überraschung. Ich möchte die Leidenschaft und die Persönlichkeit des Sommeliers spüren. Eine Karte mit vielen grossen und bekannten Namen interessiert mich weniger. Ich mag Vielfalt, im wahrsten Sinne des Wortes. Man sollte nicht versuchen, es allen recht zu machen, sondern sein Zielpublikum begeistern. Das Konzept zwischen dem Küchenchef und der Weinkarte ist natürlich ebenfalls von grösster Bedeutung.

Welche Entwicklungen auf den Weinkarten sind Ihnen in den letzten Jahren aufgefallen?

Die geografische Vielfalt ist gewachsen sowie die Produktvielfalt, wie z. B. Bier, Sake, alkoholfreie Getränke oder Weine ohne Zusätze. Auch führen heute mehr Restaurants eine Weinkarte, die man früher nur in wirklich guten Häusern fand. Heute ist es dank Systemen wie dem Coravin möglich, (das es ermöglicht, den Wein glasweise zu servieren, während die Flasche hermetisch verschlossen ist, Anm. der Red.) dass Weinkarten komplexer und prestigeträchtiger geworden sind. Auch fällt mir auf, dass heutige Weinkarten echte Weinerlebnisse und -entdeckungen bieten, zum Beispiel mit einem neuartigen Konzept anstelle der Sortierung nach Appellationen.

Welche Fehler sehen Sie am häufigsten auf Weinkarten?

Das Klischee einer Weinkarte, die nur grosse Produzenten anbietet, hat sich hartnäckig gehalten. Es ist nichts dagegen einzuwenden, Weine von grossen und bekannten Weingütern im Keller zu haben, aber das Verhältnis muss stimmen und abwechslungsreich sein. Sonst langweilen sich die Gäste. Ich vergesse nicht, dass ein Restaurant ein Geschäft ist. Von guten Leuten im Service zu profitieren, hat seinen Preis. Und die grossen Weinmarken helfen dabei, das Geschäft profitabel zu machen.

Gibt es noch Herausforderungen, wenn man der beste Sommelier der Welt ist?

Meine Frau erwartet im Juli ein Kind. Das ist eine Herausforderung. Ansonsten möchte ich diesen Titel mit grossem Respekt tragen und andere inspirieren, so wie mich andere inspiriert haben.