Il campione del luogo
Tessiner Merlot im Umbruch
Text: Nicole Harreisser, Foto: Vinattieri

Der Weinbau im Tessin musste sich immer wieder an neue Gegebenheiten anpassen. So erkoren die Tessiner Winzer vor etwas mehr als 100 Jahren den Merlot zu ihrer neuen Leitsorte. Heute stellen Klimaerwärmung und ver-ändertes Konsumverhalten neue Herausforderungen. Wie reagieren die Winzer? VINUM suchte bei einem Newcomer-Weingut und einem renommierten Topbetrieb nach Antworten.
Das Tessin steht für Sommer, Sonne und Dolce Vita. Der Kanton im Süden der Schweiz mit rund 2500 Sonnenstunden lässt viele Urlauberherzen höherschlagen. Die Begeisterung, die Alpen und das schlechte Wetter hinter sich zu lassen und in eine schon mediterran angehauchte Welt einzutauchen, lässt viele Autofahrer geduldig Schlange stehen, wenn mal wieder nur Blockabfertigung am Gotthard möglich ist. Zu verlockend sind die kulinarischen Genüsse der Region und vor allem auch die Weine, allen voran der Merlot. In der Regel kommt er als Rotwein daher, aber auch Merlot Bianco und Merlot Rosato sind im Kommen. Man könnte glauben, der Merlot sei ein Kind des Tessins, so sehr ist das Tessin mit der Sorte verbunden. Tatsächlich aber reicht die bewegte Geschichte des französischen «Einwanderers» nur gut hundert Jahre zurück. Weinbau wird im Tessin schon seit Jahrtausenden betrieben, als Teil landwirtschaftlicher Mischwirtschaft. Mit dem Auftreten des Echten Mehltaus im Jahr 1846 wurde der Weinbau vor grosse Herausforderungen gestellt. Damals war der Rebsortenspiegel noch gross, meist wurde im Mischsatz angebaut und nach eigenem Gutdünken oder Familientradition für den Hausgebrauch vinifiziert. Als dann schliesslich 1878 erstmals der Falsche Mehltau auftauchte, brach die Weinproduktion zusammen. So hatte die knapp 20 Jahre später auftretende Reblaus leichtes Spiel mit den bereits geschwächten Reben und richtete in weiten Teilen des Tessins grosse Schäden an. Kein Mittel half, das Tessin als Weinbaukanton stand vor einer immensen, ja existenziellen Krise.
Meilensteine im Tessiner Weinbau
Es musste eine andere Lösung gefunden werden, um den Tessiner Weinbau aus der Krise zu führen. Gesucht wurde eine besser an die neuen Gegebenheiten angepasste europäische Rebsorte, die im mediterranen Klima und aufgepfropft auf amerikanische Unterlagsreben der Region zu neuer Blüte verhelfen konnte. Es wurde ein Wanderlehrstuhl geschaffen, der die oftmals nur unzureichend ausgebildeten Weinbauern anleiten und unterstützen sollte. Erste Merlot-Stöcke wurden 1904 / 1905 auf Initiative des Agronomen und Pharmakologen Alderige Fantuzzi, der den Wanderlehrstuhl besetzte, in einem Versuchsrebberg gepflanzt. Der erste Jahrgang eines Tessiner Merlot wurde 1906 gekeltert, der Wein analysiert und als positiv bewertet. Er überzeugte schlussendlich auch die Skeptiker, die an den alten Sorten festhalten wollten. Der Merlot hat sich sehr gut an das Tessiner Klima angepasst, er reift früher, liefert gute Erträge und ist krankheits- und fäulnisresistenter. Der erste Merlot-Rebberg wurde auf dem Weingut Vallombrosa in Castelrotto gepflanzt. Auch qualitativ wurden in den kommenden Jahren weitere Erfolge sichtbar: 1925 wurde erstmals ein Tessiner Merlot bei der landwirtschaftlichen Landesausstellung in Bern mit Gold ausgezeichnet.
Um die Qualität der Merlot-Weine zu fördern und auch dem Konsumenten einen Hinweis auf Qualität zu geben, wurde 1948 eine eigene Qualitätsbezeichnung «Vini ticinese», kurz «Viti», geschaffen. Dieses Gütesiegel wurde nach einer sensorischen Prüfung der Merlot-Weine vergeben, um deren Qualität hervorzuheben. So gelang es Stück für Stück, die Geschichte und den Erfolg des Merlot im Tessin ins Laufen zu bringen.
Aber leider gleicht die Geschichte der Sorte im Tessin einem ständigen Auf und Ab. Die Konkurrenz durch die billigen italienischen Weine machte den Winzern schwer zu schaffen, der Weingeschmack nördlich des Gotthard war ein ganz anderer als im Süden. Wer hier verkaufen wollte, musste einen gefälligeren Wein kreieren, und so wurde der «neue» Merlot trinkiger und süffiger. Als weiterer wichtiger Meilenstein im Tessiner Weinbau gelten die frühen 1980er Jahre, als einige zugewanderte Winzer aus der Deutschschweiz einen neuen Merlot-Stil schufen, inspiriert durch die Gewächse des Bordeaux, weg vom süffigen Landwein. In den ersten Jahren noch belächelt, sind es heute renommierte Betriebe, die damals den Stein ins Rollen brachten. Sie konnten damals Rebflächen erwerben und neu bepflanzen – ganz nach ihren Vorstellungen. Auch beim Ausbau beschritten sie neue Wege, um lagerfähige, vielschichtige Weine zu keltern. Die Barrique fand Einzug in die Tessiner Keller. Diese Winzer gelten als Wegbereiter des «modernen», eleganten Stils, der auch bald auf die eingesessenen Winzer und Weinhändler überschwappte.

Seit einigen Jahren sieht man sich nun zwei neuen Herausforderungen gegenüber: Erstens die fortschreitende Klimaänderung, welche die Winzer vor immer grössere Probleme stellt. Hinzu kommt die generell sinkende Nachfrage vor allem bei den jüngeren Generationen und das geänderte Konsumverhalten, das auf einen neuen Weintyp zielt. Die Prognosen reichen von einem Rückgang von optimistisch geschätzten 15 Prozent bis hin zum Worst Case mit 30 Prozent bis zum Jahr 2030. Unter diesen doch etwas düsteren Prämissen ein neues Weingut zu gründen, könnte man als mutig bezeichnen. Aber wenn der Wein die absolute Leidenschaft ist, wirft man alles in die Waagschale. Alles oder nichts, den Job kündigen, um die Berufung zum Beruf zu machen.
So gründeten Gianni, Etienne und Julian Cristini ihr Weingut Cantina Cristini e Figli in Camorino. Aber ganz bei null haben sie nicht begonnen, Weinbau gab es schon immer in der Familie: Gianni, der die Weinbauschule in Bordeaux besucht hat, hat bereits seit Ende der 1980er Jahre eigene Weine vinifiziert und ab 2000 auch im Barrique ausgebaut. Damals wurde alles noch in der heimischen Garage vinifiziert, und das bereits mit beachtlichem Erfolg. Die beiden Brüder sind im Rebberg aufgewachsen und waren von Kindesbeinen an mit dem «Weinvirus» infiziert. Später haben sie unzählige weitere Erfahrungen im Piemont und der Toskana gesammelt. 2022 haben sich die Drei nach vielen Überlegungen entschlossen, Nägel mit Köpfen zu machen und ihr eigenes Weingut zu gründen. Dazu pachteten sie zum ursprünglichen, nur einen Hektar grossen Rebberg weitere Flächen hinzu. So haben sie heute insgesamt drei Hektar in 28 kleinen Parzellen rund um Bellinzona und produzieren insgesamt rund 16 000 Flaschen, mehrheitlich Merlot. «Das ist auch das Maximum», meint Etienne, «mehr können wir in unserem Team im Moment nicht stemmen.» Etienne ist der «Chef de Cave», sein Bruder Julian, der staatlich geprüfter Weinbauer ist, ist für die Rebberge verantwortlich. Bei der Weinbereitung arbeiten Vater und Söhne Hand in Hand zusammen.

Klein, aber fein
Ihr Traum stellt die Geschwister oft vor Herausforderungen, alles wird von Hand gemacht, Maschinen können in den kleinen Parzellen fast nicht eingesetzt werden. Bei der Bearbeitung ihrer Weinberge stellen sie auch mit ihrer im Vergleich kurzen Erfahrungszeit deutliche Unterschiede fest. Mit ihrer kleinen Manpower konnten sie nicht alle Rebzeilen früh im Jahr entblättern. Die Rebstöcke, die erst später entblättert wurden, hatten sich besser entwickelt und lieferten im Herbst die besseren Trauben. «Es sieht allerdings etwas wild aus, wenn wir erst spät entblättern und die Reben in Form bringen. Uns ist die Qualität der Trauben wichtiger als ein ’schöner’ Rebberg.» Die Brüder versuchen, so wenig wie möglich in die Entwicklung einzugreifen, und würden gerne auch komplett auf biologischen Anbau umstellen, aber das sei im Moment noch nicht möglich. Sie arbeiten, soweit es geht, nach biologischen Grundsätzen und fördern mit Zwischenbegrünung die Artenvielfalt im Rebberg. Noch haben sie einen traditionellen Rebsortenspiegel mit Merlot, Pinot Noir, Cabernet Franc und ein ganz wenig Johanniter. Der Merlot wird reinsortig mit und ohne Barrique ausgebaut, aber auch als Blend.
«Es war mutig, in einer klassischen Weinregion und in diesen Zeiten ein neues Weingut zu gründen.»
Etienne Cristini, Cantina Cristini e Figli
Besonders spannend und zukunftsweisend ist der weisse Blend aus Merlot, Pinot Noir und seit dem Jahrgang 2024 etwas Johanniter. Den Anbau von Piwi-Sorten im grossen Stil sehen die Cristinis für sich noch nicht. Für sie ist das Tessin die Region, in deren einzigartigem Mikroklima der Merlot besonders gut gedeiht. Für jeden Wein haben sie einen ganz besonderen Namen gewählt, der jeweils eine Geschichte erzählt. Der weisse Blend Antares ist benannt nach dem roten Stern im Sternbild des Skorpion, dem Sternzeichen der drei. Kerberos steht für ihre drei Köpfe, die in eine Richtung gehen wie der dreiköpfige Höllenhund aus der griechischen Mythologie. Synthesis steht für die Vereinigung zweier Dinge, hier der Blend von Merlot mit Cabernet Sauvignon. Nicht nur die Namen ihrer Weine wurden sorgfältig ausgewählt, sondern auch das Etikettendesign – mit dem Ziel, eine besonders hohe Wiedererkennbarkeit für die Konsumenten zu schaffen. Heute ist es deutlich schwerer, Weinliebhaber für neue Weine zu gewinnen und diese für ein neues Weingut zu begeistern. Für das junge Unternehmen war der Anlass ’cantine aperte’ ein voller Erfolg. Zahlreiche Weinliebhaber nutzten die Gelegenheit, die Weine vor Ort zu entdecken. Es zeigte sich deutlich, dass zunehmend auch andere Rebsorten neben dem Merlot gefragt sind.
Bei der Weinbereitung arbeiten sie mit klassischen Methoden, einen Teil der Trauben lassen sie am Stock antrocknen, um den Weinen mehr Struktur, Körper und Konzentration zu geben. Für den Barriqueausbau kommen ausschliesslich Fässer einer Tonnellerie aus dem Burgund mit Medium-Toasting zum Einsatz, teils neu, teils in zweiter und dritter Belegung. Die Barrique soll unterstützen, die Frucht aber nicht überdecken. «Unsere Weine sollen einladend sein, mit Frucht und Eleganz.»
Der Erfolg gibt ihnen recht: Kerberos und Synthesis aus ihrem ersten Jahrgang 2022 wurden beim «Mondial du Merlot» beide mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Sie sind offen für Neues, es gibt einen Weisswein, den sie in einer speziellen Amphore ausbauen, die weniger porös ist und so weniger Oxidation zulässt. Ein roter Amphoren-Wein soll folgen. Noch arbeiten sie in einer angemieteten Kellerei, aber das soll sich in Zukunft ändern.
Vielfältiges Terroir
Ein Weingut, das bereits verschiedene Entwicklungen im Tessin durchlaufen hat, ist Vinattieri, das in diesem Jahr sein 40-jähriges Jubiläum feiert. Die letzte grosse Änderung gab es vor rund fünf Jahren, als Michele Conceprio als Direktor im Weingut einstieg. Mit starken Wurzeln im Tessin ist er dem Merlot seit über 30 Jahren eng verbunden. Seinen ersten Jahrgang hat er 1992 in einem schwierigen Jahr vinifiziert und über die Jahre vielfältige Erfahrungen gesammelt. «Im täglichen Arbeiten sind mir die Veränderungen der Jahre weniger bewusst, als wenn ich zurückblicke», räumt er ein.

Vinattieri bewirtschaftet heute insgesamt 100 Hektar Rebflächen, die mehrheitlich mit Merlot bepflanzt sind. Das Alter der Reben liegt im Durchschnitt bei 30 Jahren, der jüngste Rebberg wurde vor 14 Jahren gepflanzt. Eine Erweiterung ist nicht geplant, da lediglich kleine Parzellen zur Verfügung stehen würden, die in der Bearbeitung zu aufwändig wären. Eine Ausnahme ist ein Projekt mit einer Fläche von zwei Hektar, das in Planung ist. Bei der Bearbeitung der Rebberge hat sich einiges getan: Es wird nach biologischen Grundsätzen gearbeitet. Die Flächen zwischen den Rebzeilen sind begrünt, beim Entblättern werden nicht mehr alle Blätter entfernt, um die natürliche Konkurrenz zu fördern. Auch der Rückschnitt erfolgt sehr behutsam. Die Entwicklung läuft langsamer, aber mit besserem Ergebnis. Die Trauben sind besser vor der zunehmenden Sonneneinstrahlung geschützt, und die notwendige Apfelsäure wird bewahrt. Die Ernte erfolgt in mehreren Durchgängen und mit sehr sorgfältiger Planung. Rund zwei Wochen vor der Haupternte für die roten Merlots werden die Trauben an den jüngeren Trieben für den weiss vinifizierten Merlot geerntet. Nur die besten Trauben bleiben länger am Rebstock, um in aller Ruhe zur Perfektion zu reifen – für die grossen Rotweine. Die Trauben werden vor dem Pressen für eine Nacht stehen gelassen und auf zehn Grad heruntergekühlt, um eine optimale Vergärung zu garantieren. Eine weitere Veränderung der letzten Jahre ist der gesunkene Anteil an Appassimento-Trauben, den Trauben, die am Stock getrocknet werden. Diese werden nur noch für fünf bis sechs Tage hängen gelassen. Der Unterschied ist in den neueren Jahrgängen deutlich zu schmecken, sie sind leichter, eleganter.
«Wir müssen vorausschauend denken und flexibel sein, um unsere Qualität zu bewahren.»
Michele Conceprio, Vinattieri
In den letzten fünf Jahren hat sich der Anteil an weiss ausgebautem Merlot auf 20 Prozent verdoppelt. Damit ist für Vinattieri die Grenze erreicht – der Fokus liegt ganz auf den grossen Rotweinen. «Einen guten Weisswein zu machen ist einfach, aber einen schönen Rotwein, das ist eine ganz andere Geschichte», sagt Michele Conceprio. Er kennt die Parzellen so gut, dass bereits im Weinberg festgelegt wird, wie die Trauben weiter verabeitet werden und in welche Tanks und Fässer sie kommen. Dank des grossen Fassbestands ist ein individueller Ausbau der einzelnen Parzellen möglich. Diese Erfahrung und Planung ist essenziell, um beste Qualität zu produzieren. Heute sind noch vergleichsweise grosse Fässer mit 7000 Litern im Einsatz, getrennt für Rot- und Weissweine. Mit dem geplanten Umbau und der Erweiterung der Kellerei wird in neue, kleinere Tanks und Fässer investiert, inklusive neuer Füllanlage, um alles an einem Ort zu haben. Die neuen Tanks werden alle mit Temperaturkontrolle ausgestattet sein und maximal 5000 Liter fassen. So können die Fässer in Zukunft für die Bereitung von Rotweinen wie auch von Weissweinen eingesetzt werden. «Wir brauchen diese Flexibilität, Weisswein ist im Trend, und wir wissen nicht, wohin die Reise geht.» Die Vinifikation von Weissweinen dient in schwierigen Jahren auch als Absicherung und stabiles Auffangnetz. Dank grosser Nachfrage sind sie schnell verkauft und bringen Cashflow. Die Rotweine liegen mindestens zwei Jahre im Keller, bevor sie auf den Markt kommen.
Weitaus länger reifen einige der grossen Jahrgänge des Vinattieri Rosso im Keller. Vinattieri verfügt über eine grosse Bibliothek gereifter Jahrgänge. So können interessierte Weinliebhaber Vertikal-Verkostungen auf Anfrage buchen. Speziell ist das Setting: Es wurde ein schwarzer Verkostungsraum geschaffen, um die Sinne für den Wein zu schärfen und ein intensives Erleben zu ermöglichen.