Jeder Jahrgang ist ein neues Abenteuer

Interview Nicolas Greinacher Chefredakteur VINUM

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Linda Pollari

Nicolas Greinacher ist ab Januar 2026 der neue Chefredakteur von VINUM. Was sind seine Visionen für das Heft, und wie tickt er ganz persönlich als Wein-liebhaber? Thomas Vaterlaus, der bisherige Chefredakteur von VINUM, fühlt seinem Nachfolger auf den Zahn.

Nicolas, du übernimmst mit VINUM die redaktionelle Verantwortung für eine bald «50-jährige Lady». Was hast du für Pläne und Visionen?

Nun, zuerst einmal habe ich grossen Respekt vor dem, was VINUM heute ist. Ich spüre da viel Fachkompetenz und Weingeschichte. Da gibt es natürlich auch die Gefahr, dass man zuweilen etwas zu elitär agiert. Wein darf auch Spass machen. Das Heft soll Lebensfreude und Sinnlichkeit vermitteln. Änderungen am Heftkonzept müssen aber behutsam vorgenommen werden. Ich könnte mir vorstellen, den Kulinarik-Teil weiter auszubauen. Immerhin werden 80 Prozent aller Weine zum Essen genossen.

VINUM wird gleichermassen von Profis wie von Weinliebhaberinnen und Weinliebhabern gelesen, ein Problem?

Nein, aber sicher eine Herausforderung. Die grosse Kunst ist, den Profi nicht zu langweilen und gleichzeitig den Einsteiger nicht zu überfordern, sondern ihn so zu begleiten, dass seine Liebe zu Wein kontinuierlich weiterwächst. Ich sag’s mal so: Die Kunst für ein Magazin wie VINUM ist sicher, inhaltsmässig immer wieder «die richtige Flughöhe zu finden».

Gibt es in diesem Traditions-Heft «alte Zöpfe», die du gerne abschneiden möchtest?

Man muss sich immer fragen, ob gewisse wiederkehrende Inhalte noch zeitgemäss sind. Beispielsweise die Bordeaux Primeurs. Sicher, das war mal eine grosse Sache, heute aber längst nicht mehr. Ich habe über einen Zeitraum von 20 Jahren selber Bordeaux «en primeur» gekauft und muss feststellen, dass gewisse Weine aktuell im Markt weniger kosten, als ich damals bezahlt habe. So gesehen hat sich das erledigt. Andererseits boomt der Weintourismus. Er kann die Umsatzrückgänge im klassischen Weinmarkt teilweise sogar kompensieren. Das ist ein Thema, das laufend an Bedeutung gewinnt.

Wichtig ist in VINUM auch der Guide-Teil mit den Wein-Bewertungen für unsere Leserschaft. Du hast jahrelange Erfahrung als Degustator. Wie würdest du dich als Verkoster charakterisieren?

Was die Ratings anbelangt, würde ich mich als konservativen Verkoster einstufen. Ich halte den Trend zu immer noch höheren Punkten für falsch. Vor 20 Jahren war ein 90-Punkte-Wein eine Referenz, heute braucht es bald 95 Punkte, damit sich ein Wein wirklich über die Benotung profilieren kann. Was mich besonders ärgert, ist die Inflation der 100-Punkte-Weine. Legendäre Gewächse wie ein La Tâche 1962 oder ein Château Rayas 1985 sind ohne Zweifel 100-Punkte-Weine, aber ich denke nicht, dass jede Traubensorte, jedes Weindorf und letztlich jeder Winzer ein 100-Punkte-Rating überhaupt erreichen kann.

Hohe Punkte sind aber natürlich für Weinmedien ein Profilierungskonzept…

Klar, die Winzer freuen sich, die Händler auch. Und sie kommunizieren ja auch meistens jene Quelle, bei der sie am besten abgeschnitten haben. Und das entsprechende Medium kann durch hohe Ratings mehr Geld verdienen, etwa durch den Verkauf von Stickern, die dann auf den Flaschen prangen. Aber diesbezüglich ist meine Meinung ganz klar: VINUM sollte beim Vergeben von Punkten immer zuerst an seine Leser denken. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn jemand einen 100-Punkte-Wein entkorkt und dann nach dem ersten Schluck denkt: Was, das soll jetzt Weltklasse sein?

Du glaubst also, dass man sich mit einer differenzierten Bewertungspraxis langfristig mehr Respekt verschaffen kann?

Ja durchaus. Das Wichtigste ist, dass die Bewertung beim Geniessen des Weins nachvollziehbar ist. Interessanterweise habe ich zumeist mit jenen Winzern die spannendsten Gespräche geführt, deren Weine ich nicht so hoch bewertet habe wie andere. Ich trug meine Argumente für das Rating vor, und vielfach konnte der Winzer meinen Standpunkt nachvollziehen, selbst wenn er es persönlich anders sah. Aber das ist ja das Schöne am Wein. Es ist keine Mathematik, sondern es geht letztlich um individuelle Wahrnehmung.

Was sind deine frühesten Erinnerungen im Zusammenhang mit Wein?

Das sind die Sonntagabende in meinem Elternhaus. Ein stets wiederkehrendes, faszinierendes Ritual. Meine Mutter kochte etwas Besonderes, mein Vater ging in den Keller und kam mit einer Flasche Wein zurück. Mein Vater sagte später, dass eine der ersten Wortkombinationen, die ich aussprechen konnte, «Grand Cru Classé» gewesen sei. Später habe ich meine Maturaarbeit über die Weine der Genferseeregion geschrieben. Und im Zwischenjahr nach der Matura verbrachte ich unter anderem drei Monate in der australischen Weinmetropole Adelaide.

Trotzdem sollte es dann doch einige Zeit dauern, bis du auch beruflich zum Wein gefunden hast?

Ja, ich habe mich zwar immer mit Wein befasst, auch darüber geschrieben, hauptberuflich habe ich aber andere Dinge gemacht. Mehr als zehn Jahre war ich im Rohstoff- und Metallhandel tätig. Während der Covid-Zeit habe ich  mich dann beruflich neu orientiert und bin in den Weinjournalismus eingestiegen.

Du verkostest, vor allem für die Internetplattform «Vinous» von Antonio Galloni, bis zu 5000 Weine pro Jahr. Hast du eigentlich immer noch Freude daran, oder ist es für dich heute einfach ein Job?

Das Degustieren bereitet mir immer noch genau gleich viel Spass wie am ersten Tag. Jeder Jahrgang ist wieder ein neues Abenteuer. Es ist wie eine nie aufhörende Schule. Du versuchst, den neuen Jahrgang zu erlernen, ihn zu verstehen und ihn aufgrund der Verkostung der früheren Jahrgänge einzuordnen. Es ist schwierig zu beschreiben, wie ich mich fühle, wenn ich beispielsweise vor den neuen Fassmustern von Jean-Louis Chave sitze, aber es ist immer ein sehr bewegender Moment.

Du hast eine besondere Beziehung zu den Crus von der Rhône, warum?

Weil ich für die Plattform «Vinous» für das Rhônetal zuständig bin, verbringe ich seit 2023 jedes Jahr rund einen Monat im Rhônetal. In meiner Jugend war ich durch Parker natürlich wie viele andere auch sehr auf Châteauneuf-du-Pape fixiert. Jetzt, wo ich mich intensiv mit dem Gebiet beschäftige, ist für mich immer mehr die nördliche Rhône in den Fokus gerückt. Es gibt da nicht nur die Kultweine aus Hermitage, sondern sehr charaktervolle Crus für vergleichsweise wenig Geld.

Hast du auch einen persönlichen Tipp für die Weisswein-Trinker von VINUM?

Ich denke, Chablis ist in Bezug auf das Verhältnis zwischen Qualität und Preis aktuell fast nicht zu überbieten.

Dann sind dies auch die Weine, die du ­privat am liebsten trinkst?

Ich denke, ich bin ein offener Weingeniesser, ein Pinot aus der Bündner Herrschaft kann mir genauso viel Freude bereiten wie ein griechischer Assyrtiko. Aber ich geniesse mengenmässig sehr moderat, im Durchschnitt kaum mehr als eine Flasche pro Woche. Ich versuche ein gesundes Leben zu führen, mit entsprechender Ernährung und viel Sport. Ich greife morgens lieber zur Gewichts-Hantel als zum Aspirin. Genuss ist ja nicht von der Menge abhängig. Ein Schluck Wein kann genauso viel Genuss bereiten wie eine ganze Flasche.

Vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche dir alles Gute und auch viel Spass bei deiner neuen Tätigkeit als Chefredakteur von VINUM.