Dossier Rhône Sud

Cairanne: Wein aus dem gelobten Land

Text: Barbara Schroeder, Fotos: Rolf Bichsel

Umwege sind das Salz des Lebens, dachte ich mir, als ich nach 50 Kilometern Irrfahrt mein Ziel, das gemäss Google Maps keine zehn Kilometer entfernt liegen sollte, immer noch nicht erreicht hatte. Natürlich hätte ein Blick auf mein GPS genügt, die missliche Situation zu vermeiden. Doch das gab mein Dickkopf nicht zu. Darum rollte ich weiter über einsame, holprige Strassen, kam so noch mehr vom Weg ab und lernte dafür die grünen Flanken der Region der Baronnies mit ihren stolz um die Schultern geschwungenen Pelzschärpen aus lila Lavendel kennen, und musste laut lachen, als ich endlich mein «Ziel» erreichte, das sich als baufälliger, fensterloser Schuppen mitten im Niemandsland entpuppte, der zufälligerweise den gleichen Namen trug wie der Ort meines eigentlichen Rendezvous, das ich vorsorglich gecancelt hatte.

Was anfangen mit dem Rest des Tages? Ich beschloss, die Rückfahrt in die Zivilisation so anzutreten wie die Hinfahrt, das heisst, einfach den Zufall spielen zu lassen und nur Wegweisern zu folgen, die zu Orten führten, die ich garantiert noch nie aufgesucht hatte. Ich wurde mit Vinsobres bekannt, das an einem stolz aufragenden Felsen zu kleben schien, fuhr durch Valréas, Visan, Tulette, glitt einen Hang hinunter und den nächsten wieder hinauf, schlängelte mich durch eine Passstrasse – und trat urplötzlich mit voller Kraft auf die Bremse, so wie man das nie tun sollte, selbst auf mutterseelenalleinsamen Strassen. Gebremst hatte ich so spontan, weil ich mich einen kurzen, aber geradezu magischen Moment lang für Bulle Ogier hielt im Film «Obscured by Clouds» (mit der Musik von Pink Floyd) gespielt von meinem Fast-Namensbruder Barbet Schroeder.

Ausblick ins Weinwunderland

Vor mir lag, ins dunstige Abendlicht gebadet, ein Wunderland mit weitem, geradezu märchenhaftem Panorama. Zur Rechten zog sich eine zackige Bergkette hin, die sich später, als ich langsam zu mir gekommen war und wieder Karte lesen konnte, als Dentelles de Monmirail entpuppen sollte, die teilweise die Sicht auf den vornehm verschleierten Mont Ventoux verdeckten. Im Hintergrund vor mir patroullierten in Reih und Glied die Reben der weiten Ebene des Plan-de-Dieu. Zur Linken wanden sich langgezogene Hänge, die ebenfalls ganz mit Reben bestockt waren, und dahinter in der Ferne vermutete ich die mir vertraute Zivilisation, mit Saint Cécile des Vignes, Orange, Châteauneuf-du-Pape, der gemächlich Richtung Mittelmeer plätschernden Rhône. Star und Zentrum der einmaligen Komposition war jedoch das lauschige Dorf im Vordergrund, dessen Häuser sich rund um eine Kirche schmiegten, die, beschützt von einer alten Festungsmauer, ganz oben auf einem Hügel thronte. Ich hatte Cairanne vor mir, mit seinen erstklassigen Hanglagen und Terrassen im Osten und Norden und dem steinigen Garrigues-Plateau im Süden, die etliche Jahre später dafür sorgten, dass Cairanne zum selbstständigen Rhône-Cru wurde, und sollte die Ecke nie mehr vergessen.

Ganz ehrlich: Ohne meine zerstreute Verfahrerei wäre ich nie auf Cairanne aufmerksam geworden. Schliesslich gibt es fast hundert Dörfer, die zur AOC Rhône Villages gehören. Doch nach meiner zufälligen Begegnung liess mir Cairanne keine Ruhe mehr. Ich war überzeugt davon, dass dieser faszinierende Ort früher oder später besondere Aufmerksamkeit verdienen würde, und nahm erfreut zur Kenntnis, dass Cairanne 2016 zum Cru der südlichen Rhône aufstieg und damit fortan ganz offiziell zur Elite der Rhône-Weine gehörte.

«Cairanne hat nur einen Nachteil: Die AOP ist noch nicht bekannt genug. Doch das wird sich rasch ändern!»

Pierre Amadieu

Nun ist Cairanne nicht die einzige Villages-Gemeinde, die in den letzten zwei Jahrzehnten zum Cru aufgestiegen ist, nur die bisher letzte. Weil nicht alle wie ich das Glück haben, auf Abwege zu geraten, ist Cairanne für viele Weinfreunde die grosse Unbekannte geblieben. Das ist schade und ungerecht. Doch das hat auch Vorteile. Cairanne wurde Cru, als die Zeit für modische Weltweine abgelaufen war, und ist folglich nie auf diesen Holzweg eingeschwenkt. In Cairanne gibt es auch keine eigentlichen Winzerstars. Die Substanz von Cairanne wird von einer ordentlichen Anzahl ausgezeichnet arbeitender Familien gebildet, die oft seit alten Zeiten in der Gemeinde ansässig sind und ihr Wissen und ihre Erfahrung an die nächste Generation weitergeben, die in vielen Betrieben in den Startlöchern steht. Ein weiterer Qualitätsgarant ist die ausgezeichnet arbeitende Genossenschaftskellerei.

Der Aufstieg zum Cru mag (noch) keine Wunder bewirkt haben, doch qualitativ hat er zweifellos einiges in Bewegung gebracht. Cairanne kann es diesbezüglich mit allen Konkurrenten aufnehmen. Dass Cairanne eine Appellation mit Zukunft ist, belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass auch eine ganze Anzahl bekannter auswärtiger Rhônebetriebe heute Reben in Cairanne besitzt, darunter etwa Pierre Amadieu aus Gigondas, der hier 2019 die Domaine des Hautes Cances erworben hat. «Cairanne hat jede Menge Vorteile und nur einen Nachteil: Die Appellation muss mehr für ihr Image tun. Qualitativ stimmt hier alles!», sagt der erfahrene Weinfachmann begeistert.

Erstaunliche Bandbreite

Cairanne besitzt ausgezeichnete und vielfältige Böden, ein ideales Klima, ist weder zu gross noch zu klein, landschaftlich einmalig und – nicht zuletzt dank dem Rebbau – erstaunlich unberührt geblieben. Doch der eigentliche Motor der Appellation sind wie bereits angetönt die Frauen und Männer, die an ihr Dorf glauben und hart daran arbeiten, erstklassige Weine zu erzeugen. Auf allen Gütern, die ich hier in Cairanne je besucht habe, war der Empfang ungemein herzlich und direkt, egal, ob ich mich als Touristin oder offizielle Fachfrau outete. Doch Schnickschnack und Glitterkulissen suchen notorische Selfiejäger vergebens. Die Keller sind einfach und funktionell, aber mit allem ausgestattet, was es für moderne Kelterarbeit braucht. Der Wein steht im Zentrum aller Anstrengungen, und er entsteht erst einmal in den ausgesuchten Lagen des Crus. 

Zu den Besonderheiten der Appellation gehört die erstaunliche Bandbreite an Weinstilen. Hier gibt es kein Einheitsdiktat, höchstens einen gemeinsamen Nenner, mit dem jeder Weinmacher auf seine Art umgeht, oft mit mehreren Cuvée-Varianten. Jeder Winzer ist stolz auf seine persönliche Handschrift und verteidigt diese leidenschaftlich. In Cairanne ist Vielfalt naturgegeben – buchstäblich. Das beginnt mit der Terroirstruktur, die besonders komplex und vielfältig ausfällt (siehe nächste Doppelseite). Die meist arg kargen Böden aus Lehm und Kalk, Kies und Sand in unterschiedlicher Menge, entweder auf Terrassen oder an Hängen gelegen oder auf dem Les Garrigues genannten, steinigen Plateau, sind mit den traditionellen roten Rhônesorten bestockt. Auch in Cairanne ist die Grenache-Traube die wichtigste Rotweinsorte. Doch gerade in den letzten Jahren hat sich erwiesen, dass ein gewisser Prozentsatz von Varietäten wie Carignan oder Cinsault das Resultat verbessert.

Der Sortenspiegel allein erlaubt sehr unterschiedliche Assemblagen. Doch weil die meisten Winzer Reben in mehreren Lagen der Appellation besitzen, was als unbestreitbarer Vorteil gilt, werden auch Terroirs fast immer vermischt. Grundweine aus besonders zuckerreichen Trauben können so zum Beispiel mit Grundweinen ausbalanciert werden, die mehr Säure besitzen. Gerade dank solcher Assem­blagen wirken Weine aus Cairanne trotz des für die Region typisch hohen Alkoholgehalts immer ausgewogen und besitzen oft nicht nur erstaunliche Fruchtigkeit und Frische, sondern auch Finesse. Ein klassischer roter Cairanne imponiert selten durch vordergründigen Extrakt, sondern durch erstaunlich feinkörnige Gerbstoffe, die selten den fruchtig-würzigen Charakter übertönen. Die für Cairanne charakteristischen, verführerischen Noten von Backgewürzen und Garriguekräutern gesellen sich oft schon im Jungwein zu den Noten frischer Beeren und erst recht nach zwei, drei Jahren Lagerung. Sie stammen nur zu einem extrem kleinen Teil vom Holzausbau, der hier sehr zurückhaltend angewendet wird, sondern von der Traube selber und sorgen für besondere aromatische Komplexität.

Wer an den Süden denkt, denkt meistens an Rotwein, allenfalls ergänzt durch Rosé. Auch in Cairanne dominiert der Rotwein, der weit über 90 Prozent der Produktion ausmacht. Doch der Anteil der Weissweine nimmt zu. Beim Erstellen der AOC-Regeln für das Cru Cairanne kam es zu einigen Diskussionen. Die Winzer, die auf Rosé verzichten und dem Weisswein eine Chance geben wollten, waren in der Mehrheit. Wie recht sie hatten, zeigt die heutige Lage auf dem Weinmarkt. Schlagen sich Rotweine mit Absatzproblemen herum, fehlt es auch im Rhônetal an trockenen Weissen. Doch nicht der fluktuierende Weinmarkt hat den Entscheid für weisse Cairanne beeinflusst, sondern des Terroir selber. Cairanne besitzt einfach beste natürliche Voraussetzungen für die Produktion von Weissweinen. Nicht nur die relativ kühlen sandigeren Lagen bekommen Sorten wie Clairette oder Grenache Blanc, sondern auch die Lagen von Kalk und Lehm.