Tourismus & Reisen

«Faszination Fachwerk»

Text: Eva Maria Dülligen, Fotos: Martina Denker, Mende, Boris Lehner, Mende, z.V.g., Antje Seeling, Pfisterter, Dorda, Klaus Fader, Danijel Grbic

Neidköpfe starren grimmig von Fassaden herab, Pferdehäupter auf Dachgiebeln grinsen einander an und Löwengesichter fletschen am Fachwerk bedrohlich die Zähne. Was vor etlichen Jahrhunderten dazu diente, sich Dämonen vom Leib zu halten oder das Glück anzulocken, ist heute Touristen-Attraktion.

Auf satten 3500 Kilometern zwischen Elbe und Bodensee führt die Deutsche Fachwerkstraße durch eine Blütezeit architektonischer Geschichte und zieht Menschen aus der ganzen Welt in ihren Bann. Einer der Teilabschnitte in dem gesamtdeutschen Fachwerk-Hopping schlängelt sich entlang des Ländle, durch Neckartal, Zabergäu und Remstal und endet am Bodensee. Die sternförmige Regionalstrecke von Mosbach bis Meersburg fächert ihre Fachwerklandschaften in nicht minder prickelnden Weinlandschaften auf, akzentuiert durch schöne Winzerhöfe und prachtvolle Steillagen. So ist es logisch, dass sich neben Backstuben oder Feinkostläden hinter Fachwerkfassaden in malerischen Altstadtgassen solche reihen, die die historischen Backsteingebäude mit lokaltypischer Kost bis hin zu Michelin-Stern gekrönter Küche auffüllen. Selbstredend mit ausgefeilten Weinpositionen auf der Karte. Aus über einem Dutzend zertifizierter Fachwerkstädten Württembergs drei herauszufiltern, die eine Höchstnote verdienen, ist schlichtweg unfair, weil etwa Eppingen, Marbach, Waiblingen und viele mehr mindestens genauso viel Fachwerk-Atmosphäre mit entsprechendem Kunst- und Genussprogramm versprechen wie unsere Favoriten Besigheim, Vaihingen und Schorndorf. Die drei bilden ein Bermuda- Dreieck des Fachwerks westlich und östlich des Neckars mit kurzen Distanzen zueinander und steinwurfnahen Weingärtner-Genossenschaften. Fachwerkfans mit Neigung zu gutem Rebsaft, feiner Küche und Events vom Weinfest bis zum Pop-Konzert können sich auf den folgenden Seiten einen Vorgeschmack abholen.

Tipp 1

Stäffele nuff, Stäffele naa

Bescheiden geht anders. Der Slogan «Deutschlands schönster Weinort Besigheim » provoziert, das Superlativ genauer unter die Lupe zu nehmen. Dass die Urahnen des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama in der Gemeinde des mittleren Neckartals einst ihre Heimat hatten, sei eine spannende Randnotiz. Erster Prüfstein soll die Fachwerk-Ästhetik im mittelalterlichen Stadtkern sein: Zwischen einer beachtlichen Dichte von Fachwerkbauten reiht sich das Dreigiebelhaus, eines der ältesten Fachwerkhäuser der Stadt, dessen Kaufladen und drei Gewölbekeller im 21. Jahrhundert zu Buchhandel und Kleinkunstkeller verwandelt wurden. Etwas weiter weg gelegen sorgte das alles überragende Rathaus – Ende des 15. Jahrhunderts erbaut – mit einem Tanzsaal für Stimmung beim Volk. In welche Richtung auch immer der Besucher vom Marktbrunnen im Kern von Besigheim startet, stößt er auf architektonische Leckerbissen: Stadtapotheke, Wengerterhaus oder die Stadthalle Alte Kelter. In der rund 430 Jahre alten Kelter, deren Gewölbe-Keller ein 27 480 Liter fassendes Holzfass hütet, hatte die Weingärtner-Genossenschaft Besigheim früher ihren Sitz. Zur modernen Stadthalle umfunktioniert, finden dort nun Kino-Events und Konzerte statt und die Felsengarten-Kellerei bietet in der Vinothek ihre Gewächse aus den umliegenden terrassierten Steillagen an. Genau in diesen wird es Ende Juli in der «Schrägen WeinNacht» rundgehen. Hoch über dem Neckar, mitten in den Hängen der Felsengärten wird in lauer Sommernacht Party gefeiert: Den Live-Auftritten verschiedener Bands zwischen den Reben folgt ein Feuerwerk auf der gegenüberliegenden Seite des Weinbergs. Stäffele nuff, Stäffele na geht es für Weinwanderbegeisterte über 412 Stufen der «Himmelsleiter». Die Naturstein-Treppe führt steil hinauf auf den Panoramaweg, wo die Weinkanzel – eine Aussichtsplattform – mit Blick auf die bildhübsche Altstadt wartet. Wer seine Waden lieber schont, lehnt sich im Oldtimer-Bus oder in dem elektrischen Tuk-Tuk zurück und lässt sich über die Weinbergwege kutschieren. Bei Trollinger und Lemberger zu Schweinsbäckle oder Omas Rahmsauerbraten lässt man den Abend mit oder ohne Muskelkater in einem der schönsten Weinorte Deutschlands ausklingen.


Der passende Wein

Felsengartenkellerei

Cuvée Neunundvierzig Grad Sparkling Rosé

13,5 Vol.-%

Sein Name ist eine kleine Liebeserklärung an Besigheims französische Partnerstadt Ay, die ebenfalls auf dem 49. Breitengrad liegt. Nach 24 Monaten auf der Feinhefe wird die feinperlige Cuvée eine Liebeserklärung an den Genießer. Wildhonig in der Nase, samtige Textur mit Anklängen von Orangenzeste und Toffee. Pinot Noir, Pinot Meunier und Chardonnay stehen in schöner Balance.

Preis: 12,90 Euro | www.felsengartenkellerei.de

 

Tipp 2

Vaihingen mit F

Möchte man sich nicht als Dumpfbacke outen, spricht man Vaihingen besser mit der Initiale «F» wie Fachwerk aus. Womit wir auch schon beim Thema sind. Denn die Vaihinger Innenstadt wird von dieser architektonischen Epoche durchzogen. Die ältesten Fachwerkhäuser der Stadt am Enz-Ufer strecken ihre Giebel an der Mühlstraße und am historischen Marktplatz gen Himmel. Seit 1987 trägt der Ort den Titel «Internationale Stadt der Rebe und des Weins». So lassen sich Lagen-Gewächse auf dem Marktplatz inmitten barocker Fachwerkbaukunst und mit Blick auf Schloss Kaltenstein tiefenentspannt genießen. Einst Residenz der Grafen von Vaihingen überragt das Schloss als Wahrzeichen den Weinort. Reste der mittelalterlichen Stadtmauer und der 1492 erbaute Pulverturm bilden die rahmende Kulisse um einen Kern, der auch kulinarisch aufgeladen ist. Wir kehrten im Gourmet-Restaurant «Lamm Rosswag» ein, um hinter Fachwerkmauern bretonische Makrele mit fermentiertem Gemüse und Eifeler Urlamm mit orientalischen Aromen zu goutieren. Die Weinkarte widmet sich ausschließlich deutschen Weinen – auf 48 Seiten. Der experimentierfreudigen Kochkunst von Steffen Ruggaber steht die schwäbische Regionalkost diverser Gaststuben diametral entgegen. Über 30 Besenwirtschaften und Weinstuben vom «Kuahstall» bis zum «Kachelofa» tischen Schnitzel mit Trollingersauce, Schlachtplatte mit Kraut oder gegrillten Schweinehals mit selberg’machter Kräuterbutter auf. Die Kreisstadt Vaihingen erstreckt sich mit neun Bezirken vom Enztal bis zum Naturpark Stromberg- Heuchelberg, einem wild-romantischen Erlebnisgelände nicht nur für Tourenradler und Mountainbiker, sondern für alle, die ein Kontrastprogramm zur Altstadt wollen. Denn das attraktive des historisch aufgeladenen Stadtkerns – urkundlich bereits 1250 erwähnt – ist auch, dass er zwischen Wiesen, Wald und Reben liegt. Apropos Reben: Der drei Kilometer lange Weinlehrpfad durch die idyllischen Weinberge am Klosterberg eröffnet auf zwei Dutzend Tafeln komplexe Einblicke in die Welt des Weins und an manchen Stellen des Pfades eine märchenhafte Aussicht bis zur Schwäbischen Alb und hinunter bis ins mittlere Neckartal.


Der passende Wein

Weingärtner Horrheim- Gündelbach

Minnesänger Riesling Spätlese 2015

12,5 Vol.-%

In der Nase zunächst eine feine oxidative Note. Nach einer Weile mischen sich heimische Kräuter und Heublumen in den Duft. Im Mund verteilt sich ein Samtteppich, der mit Apfelsinenschale, Limonensaft und Waldhonig durchsetzt ist. Der verführerische «Minnesänger » macht seinem Namen bis ins fruchtdominierte Finale alle Ehre.

Preis: 6,80 Euro www.horrheimer-weingaertner.de

 

Tipp 3

Daimler-Stadt in Fachwerk-Robe

In das ins Fachwerk verliebte Auge fallen zuallererst die unterschiedlichen Farben der Fensterläden. Eine Farbenpracht von Olivgrün über Azurblau bis zu Bordeauxrot verteilt sich über die geschichtsträchtigen Fassaden in Schorndorfs Altstadt, so dass man sich mitunter fühlt wie in einer «Schwäbischen Provence». Die Fachwerkidylle wird durch einen der schönsten Marktplätze des Remstals gekrönt. Von hier aus lässt sich zu jeder weiteren Vorliebe durchstarten. Zum Geburtshaus Gottfried Daimlers auf der Höllgasse, verlinkt mit einer geführten Tour an die Orte seiner Jugend und abschließendem 4-Gänge-Menü im Sterne-Restaurant «Nico Burckhardt» – mit neu interpretierten Rezepten aus dem Kochbuch der Familie Daimler. Nach der Zeitreise durch die Welt des Automobil-Pioniers ist Ihnen vielleicht aber auch nach Schmankerln «made in Schorndorf», nach Flachswickeln oder Obstbrand oder nach Remstaler Senf auf Laubfröschen. Richtig gehört: eine regionale Spezialität, hinter der sich mit Spinat umwickeltes Hackfleisch verbirgt. Nicht minder delikat ist die nostalgische Fahrt mit der historischen Schwäbischen Waldbahn. Mit Volldampf geht es rund 23 Kilometer über eine der steilsten Bahnstrecken Württembergs: pure Eisenbahn-Romantik von Schorndorf über Rudersberg nach Welzheim, durch Wieslauftal und Tannwald in teils schwindelerregender Höhe auf den Schienen einer Eisenfachwerkbrücke, einer eisernen Kastenbrücke und dem 168 Meter langen Laufenmühleviadukt. Was uns neben allem Fachwerk und Genussadressen an Schorndorf elektrisierte, war das Seebad «Oskar Frech»: Outdoor-Pools, See und Saunagarten schmiegen sich zu einem landschaftlichen Traum ineinander; Dampfbad mit Sternenhimmel, Riesenrutschen, Beachvolleyball- Feld waren drei von dutzenden Programm-Punkten, die wir für die Recherche auf uns nahmen. Bei Flädlesuppe, Schwaben-Schnitzel oder gerösteten Maultaschen und natürlich einem lokalen Lemberger kann man sich etwa im «Bürgerstüble» oder in der «Gasthausbrauerei Kesselhaus» von der Schorndorfschen Sightseeingtour kulinarisch erholen.


Der passende Wein

Genossenschaftskellerei Heilbronn

Sankt Kilian Cuvée Blanc 2018

13,5 Vol.-%

Rauchige Nase, Feuerstein, trockene Himbeere. Das Barrique ist schmeckbar, der intensive Saft der weißen Burgundersorten dringt tief in den oberen Gaumen. Kompakt und druckvoll. Klare Linie, weniger filigran als komplex. Bleibt sehr lange haften. Schöner Begleiter von gereiftem Bergkäse oder Tortilla-Muffins.

Preis: 11,90 Euro | www.wg-heilbronn-shop.de