Südwestliches Frankreich

Cahors: Grün-blaue Unbekannte

Text & Fotos: Rolf Bichsel

Weinmässig gibt es in Frankreich weder Norden noch Süden noch Osten. Nur Südwesten bezeichnet eine Weinregion, ein nebulöses, schwer fassbares Gebilde, ein Mosaik aus kleinen und mittleren Anbaugebieten, die sich an Flüsse wie Lot und Garonne schmiegen. Anbaugebiete wie Cahors im Departement des Lot produzieren ausgezeichnete Weine. Doch trotz steigender Exportzahlen lässt der eigentliche Durchbruch weiter auf sich warten.

Zwei Gläser Rotwein vor mir auf dem Tisch. Nennen wir sie A und B. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. A fällt mir gleichsam um den Hals und erobert im Nu den Gaumen, tumultuös, vollmundig, jugendlich-saftig, fleischig-fruchtig, international im Stil und doch von besonderem Charakter. Schliff und Aromatik verraten erstklassige Eiche und perfektionistische Machart. Weltklasse im eigentlichen Sinn. (Ich habe später zusätzlich eine Flasche C geopfert, einen bekannten, heute 660 Euro teuren Weltwein, damals 100Parker-Punkte, der hatte neben A keine Chance, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir die Frage gestellt, ob ich jene Flasche nicht besser verscherbelt hätte.)

Im Gegensatz dazu ist B so einsilbig und knallhart tanningeprägt im Mund, dass ich ihn erst einmal karaffieren muss. Nach einer Stunde beginnt er vorsichtig und leise zu murmeln, lässt Mineralität verlauten, mit komplexen Noten von Gewürzen, Nelkenpfeffer, Kardamom, sogar etwas Lorbeer oder Wacholder oder... nein, einfach unbeschreiblich einmalig, verblüffend. Im Mund verrät er besondere, sanfte Fülle, getragen durch grossartig samten gewordene Gerbstoffe, die nun den Gaumen liebkosen, Gerbstoffe, auf denen die Zunge sich wohlig räkelt. Die fruchtigen Noten im langen, frischen Ausklang sind geheimnisvoll, schwer einreihbar – Waldbeeren mit einem Hauch Pfeffer und Walnuss etwa.

Nun weiss ich zwar, was in den beiden Gläsern steckt. Dennoch: Blind hätte ich A an die Spitze der Neuen Welt gesetzt (Cabernet-Syrah-Blend aus Kalifornien? Sangiovese mit hundert Prozent Barriqueausbau aus der Toskana? Tempranillo aus dem Duero?), B hingegen liess mich vergeblich und ratlos rätseln. Mehr Terroir als Sorte, kaum spürbare Eiche, das verweist auf Frankreich, die Fülle und die Klasse der Tannine auf Süden. Rhône? Provence, Languedoc? Ja, am ehesten Languedoc, ein Blend aus Carignan/Syrah/Mourvèdre/Grenache? Fougères, Montpeyroux, Pic Saint-Loup? Doch kaum ein Wein dort besitzt diese ausserordentliche, unvergleichliche Klasse, diese aromatische Komplexität.

Der ominöse Südwesten

Lüften wir das (ohnehin nicht eben gut gehütete) Geheimnis. Natürlich handelt es sich bei beiden Weinen um einen Cahors aus dem Südwesten Frankreichs. Beide stammen aus der gleichen Gemeinde (Viré-sur-Lot), beide aus dem geradezu epischen Jahrgang 2009, beide basieren auf hundert Prozent Malbec. Warum ich nicht darauf getippt hätte? Gute Frage, schwierige Antwort. Weil man lieber in die Ferne schweift und vergisst, dass Gutes oft so nah sitzt? (Die beiden fraglichen Domänen liegen nur einen Katzensprung von zuhause weg, ich bin schneller dort als in Margaux.) Weil «Südwesten» eine so ominöse, unfassbare Uneinheit darstellt, dass nicht einmal der daran denkt, der da lebt? Weil «Südwesten» auf Alain Brumont reimt und ansonsten auf gewiss beeindruckende, aber immer etwas rustikale Weine und Vorurteile, die so schwer wiegen, dass sie sogar den erdrücken, der dagegen ankämpft? Weil rote französische Weltklasse-weine obligatorisch aus Bordeaux oder dem Burgund stammen müssen oder allenfalls dem Norden der Rhône?

Ich denke, die Indizien reichen aus, um auch auf Produzenten und Cuvées zu tippen. Ja, richtig geraten. Glas A entspricht der Cuvée GC von Château du Cèdre. In Glas B ist Au Coin du Bois, eine in Kleinauflage gekelterte Parzellenabfüllung von Jean-Luc Baldès (Clos Triguedina). Beide Weine sind längst vergriffen, sie dürften damals geschätzte 50 Euro gekostet haben. Viel Geld für einen Cahors, geschenkt für einen solchen Weltklassetropfen. (Glas C? Ein Premier Cru aus Saint-Émilion.)

Wenn die beiden Cahors, wie eingangs angedeutet, so unterschiedlich ausfallen, trotz gemeinsamem Nenner, hat das natürlich seinen Grund. Genau darum habe ich sie (nicht ohne Bedauern, Einzelflaschen) aus dem Keller geholt. Triguedinas Probus etwa wäre dem GC garantiert näher gekommen und die ebenfalls ausgezeichnete Château-Cuvée von du Cèdre wäre weniger international ausgefallen. Doch letztlich wollte ich mit der Wahl genau auf die Bandbreite der Weine aus Cahors hinweisen. Den GC habe ich einst mit 18 Punkten bewertet (Parker 94, «Wine Spectator» 93). In der Kategorie Weltwein ist er heute mindestens 19 wert. Au Coin kriegt von mir 20 Punkte verpasst, ganz ohne Wimpernzucken. Beide Weine stehen übrigens erst am Anfang der Trinkreife und würden Jahrzehnte halten.

Die guten Leute vom Land und die bösen Händler aus der Stadt  

Die Geschichte hätte auch ganz anders beginnen können, zum Beispiel als Märchen. Etwa so: Es war einmal ein glückliches Land,  in dem Milch und Honig flossen und ewig die Sonne schien. Fischer liessen lustig den Kork auf den trägen Wellen tanzen, Mädchen mit roten Wangen boten bauchige Körbe voller Erbsen, Bohnen, Pflaumen und anderen Leckereien feil, Kühe, Schafe und Ziegen grasten friedlich auf grünen Wiesen, Enten und Hühner schnatterten im Hof, und Hasen und Rehe hüpften flink durch schattige Haine und akkurat vor das Rohr des munteren Jägers. Rebensaft aus prallen, reifen Trauben, die an sanften Hügeln über dem blauen Fluss wuchsen, gab es so reichlich, dass er nie alle wurde. So glücklich und zufrieden waren die Einwohner dieser von den Göttern verwöhnten Provinz, dass sie ihre Schätze mit der Welt teilen wollten. Eines schönen Tages luden daher ein paar mutige Männer Fässer voller Wein auf breite Kähne und fuhren den Fluss hinunter bis zur grossen Hafenstadt, wo sie ihre Fässer gegen allerhand Tand eintauschen wollten. Doch die Stadt wurde von einer Kaste geiziger Krämer regiert, die so lange die Tore der dicken Mauern geschlossen hielten, bis ihre eigenen Rebensäfte alle und die Weine aus dem Hügelland sauer geworden waren. Nur gerade in schlechten Jahren brachten die munteren Winzer des Hinterlands ihre Produkte zeitig an den Mann. Sie wurden dann dazu verwendet, die hageren Weine der bösen Krämer fett zu mästen. Und wenn sie nicht gestorben sind, weinen sie heute noch. 

Leider werden Märchen mitunter wahr. Die Weine des «Hochlands» (Haut-Pays) mögen tatsächlich bis heute unter der Dominanz des Bordelaiser Handels leiden, auch wenn sie längst nicht mehr auf Kähnen gemütlich über die Wellen von Lot und Garonne gleiten, sondern auf tonnenschweren Sattelschleppern über Betonstrassen holpern. Doch wenn AOC-Weine aus Cahors oder dem Quercy und ihre IGP-Brüder und -Schwestern immer noch grösste Mühe damit haben, auf dem Weltmarkt zu bestehen, hat das auch mit dem Mangel an interner Kohärenz und klarer Marketingstrategie zu tun. Auf der einen Seite steht der Name Bordeaux, weltbekannt, mit dem Image des Luxusproduktes – eine gut geölte Maschine mit einem weltweiten Verteilnetz und Produkten jeder Preiskategorie, auf der anderen ein Mosaik von meist relativ kleinen, wenig bekannten Appellationen, in dem man sich nur mit viel gutem Willen zurechtfinden wird. Die weltbekannten Châteaux sind zu hochqualifizierten Weinmaschinerien geworden, die mittlerweile selbst jedes Segment der Weinproduktion beherrschen. Dank weltweiter Nachfrage und trotz übler Nachrede scheint sich grosser Bordeaux immer noch zu verkaufen, selbst zu Krisenzeiten.

Weinmässig grosse Unbekannte

Doch die «kleinen» Bordeaux-Produzenten in den nur beschränkt vom Glamour der «grossen» profitierenden über 50 Anbaugebieten der Region haben das Nachsehen und nagen am Hungertuch. Es geht ihnen oft noch schlechter als ihren Kollegen im übrigen Südwesten, die wenigstens lokal und national auf Sympathiepotenzial und Unterstützung zählen können. Vermutlich geht es den Winzern am besten, die ein starkes Eigenimage aufgebaut haben und Produkte mit echter Persönlichkeit anbieten. Appellationen in Bordeauxnähe wie Duras, Côtes du Marmandais oder Buzet, deren Strategie zu lange darauf beruhte, «Fast-Bordeaux» für den kleinen Mann aus Bordelaiser Sorten zu produzieren, haben das Nachsehen. Sie leiden wie die «kleinen» Bordeaux unter der Übermacht der «grossen». Der Winzer Elian Da Ros aus Cocumont hat es dank hervorragender und bemerkenswert eigenständiger Produkte zu Weltruhm gebracht. Er arbeitet nur etwa 20 Minuten von meinem Wohnsitz Cudos weg, und trotzdem muss ich jedes Mal überlegen, welche AOC er eigentlich vertritt (Côtes du Marmandais). Jean-Luc Baldès, die Gebrüder Verhaeghe (Château du Cèdre) oder Georges Vigouroux (Haute Serre, Mercuès), die bekanntesten Winzer der AOC Cahors, sind Namen, die den ihrer AOC übertreffen. Fragt man mich spontan nach den besten Winzern der Ecke, kommen diese drei Namen wie aus der Kanone geschossen, doch dann beginne ich meist zu zögern und suche im Notebook Rat. Okay, natürlich, Alain-Dominique Perrin von Lagrézette – weil dahinter die Luxusgruppe Cartier steht, die er präsidiert. Lamartine vielleicht und damit basta. Ähnlich ungerecht steht es um die anderen Anbaugebiete.

«Als grüne Ausflugsziele werden Lot und Garonne, Lot und Tarn immer beliebter, doch weinmässig bleiben sie leider weiter aussen vor.»

Als grüne Ausflugsziele mögen die Departementes Lot et Garonne und Lot weiter an Beliebtheit gewinnen – und zum Teufel, es lohnt sich wirklich, die Gegend IST echt paradiesisch, ein blauer Fluss, in, um und an dem es sich baden, paddeln, wandern, fischen und Hausboot fahren lässt, Dutzende Bastiden, in denen die Bäckerei noch im Dorf ist, wo fast rund um die Uhr Petanque gespielt wird, stattliche Häuser mit originellen Gästezimmern, bestechende Natur, gute Küche, echt liebe Menschen, die weltoffen geblieben sind, weil ihre Vorfahren einst aus Italien, Spanien, der Schweiz, den Niederlanden, Belgien oder England eingewandert oder sie selber erst vor Kurzem hier angekommen sind – als grüne Ausflugsziele also mögen die Departementes Lot et Garonne und Lot an Beliebtheit gewinnen, doch weinmässig bleiben sie leider grosse Unbekannte. Wer weiss schon, dass es ausser der AOC Cahors mit ihren 3300 Hektar im Departement Lot und ihrer Hauptsorte Malbec (Cot) auch Mini-AOCs wie Coteau du Quercy (150 Hektar, Cabernet Franc, ergänzt durch Merlot, Malbec, Tannat, Gamay), Saint-Sardos (knapp hundert Hektar im Tarn et Garonne, Syrah, Tannat) oder Brulhois (weniger als 150 Hektar in drei Departementes, Cabernet Franc, Merlot, Tannat) gibt? Oder IGPs wie Comté Tolosan (über 2000 Hektar verteilt auf zwölf Departements) oder Côtes-du-Lot (1000 Hektar im Lot), um nur die wichtigsten zu nennen, die alle einen breiten Sortenspiegel erlauben und eine unüberschaubare, fröhliche Fülle ausgezeichneter Weine zum Freundschaftspreis bieten?

Ich weiss, ich weiss. Es brauchte mehrere Leben, sich durch die ganzen Herrlichkeiten französischer Weinkultur zu süffeln. Doch beginnen wir doch schon mal damit (ich schliesse mich, wagemutige Weinhändler und Weinfreunde mit ein), in diesem Leben etwas weniger «Middle of the road»-Weinkultur zu betreiben und Wein nicht daran zu messen, welchen Aha-Effekt er beim geladenen Gast auslöst, sondern daran, wie er mundet! Ich denke, dann ist der erste Schritt zur Rehabilitierung dieser Ecke getan.


Die AOC Cahors liegt auf den Ausläufern des Zentralmassivs und folgt über rund 60Kilometern oft den zahlreichen Mäandern des Flusses Lot. Ozeanische und mediterrane Einflüsse sind gleichermassen spürbar. Terroirmässig kann man grob zwei Zonen unterscheiden: die tieferen Lagen in Flussnähe auf Geschiebe von Sand, Kies, Lehm und Kalk und die höheren Lagen zwischen 200 und 250 Metern mit kargen Kalkböden und Gestein, vermischt mit gelbem und rotem Lehm.


Cahors ist eine gemütliche, hübsche Kleinstadt, in einer Schlaufe des Flusses Lot gelegen, Hauptort des Departements Lot. Der charakteristische Pont Valantré, im 14. Jahrhundert gebaut, gehört zum Kulturgut der Unesco. Cahors ist das historische Zentrum des rund 3300 Hektar grossen Anbaugebietes, das ausschliesslich Rotweine basierend auf der Sorte Malbec produziert, die hier auch Cot genannt wird.


Wie vielfältig Weine aus Malbec (hier auch Cot genannt) geraten, demonstrieren Clos Triguedina und Château du Cèdre. Illustriert Jean-Luc Baldès mit seiner Parzellen-Trilogie (im Bild die Cuvée Au Coin du Bois) gekonnt, wie Terroir sich auf den Sortencharakter auswirkt, zeigen die Brüder Verhaeghe auf du Cèdre mit ihrem GC, dass ein Spitzen-Cahors es an Fruchtausdruck, Saft und Fülle mit jedem internationalen Spitzenwein aufnimmt. Cahors nennt sich heute stolz Kapitale des Malbec: Sicher ist, dass diese Sorte nicht einmal in ihrer eigentlichen Heimat Saint-Émilion Weine von so ausgeprägtem Eigencharakter ergibt.


Grüner Tourismus ist in, und davon profitiert die Region entlang des Lot mit ihren zahlreichen romantischen Dörfern (im Bild der besuchenswerte Flecken Puy l’Eveque), omnipräsenter, intakter Natur und der immer besser werdenden Infrastruktur zurecht. Als Reiseziel hat sich die Ecke längst einen Namen gemacht. Eigentlicher Star ist natürlich der Fluss, der zum Baden, Fischen, Paddeln und Hausbootfahren einlädt. Mehr und mehr profitiert davon auch der Wein, auch wenn aktuell nur etwa 30 Prozent im Ausland abgesetzt werden.


Cahors ist nicht das einzige Anbaugebiet um Garonne und Lot, das (noch) mehr Aufmerksamkeit verdienen würde. Auch in Zwerg- AOCs wie Brulhois (Bild), Saint Sardos oder Coteaux du Quercy arbeiten Winzer mit Leidenschaft an der Qualität ihrer Produkte. Das gilt auch für IGPs (Indication Géographique Protégée, Weine mit geschützter geographischer Kennung) wie Coteaux du Lot oder Comté Tolosan. Mehr Freiheit in der Sortenwahl sorgt hier für eine besonders breite Palette von interessanten Weinen.


Auch und gerade der Südwesten Frankreichs ist eine nicht ganz klischeefreie Zone. Baskenmütze, Petanque und Baguette mögen tatsächlich zum Alltag gehören, das Landleben einem gemächlicheren Rhythmus folgen als in der Stadt, doch mit Hinterwäldlertum hat das nichts zu tun. Weintechnisch sind die meisten Winzer der Region auf dem letzten Stand, und die besten arbeiten nicht anders als ein Bordelaiser Grand Cru. Im Bild: Aufdampfen der Barriques während des Umziehens auf Château Haute-Serre in Cahors.

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