Mit vereinten Kräften und der Unterstützung von einigen tausend (!) auswärtigen Helfern konnte der drohende Ernteausfall abgewendet werden

Die Ahr nach der Flutkatastrophe

Text: Rudolf Knoll, Fotos: David Weimann

Die gute Nachricht zuerst: Der Jahrgang 2021 an der Ahr ist unter Dach und Fach, trotz der Hochwasser-Katastrophe Mitte Juli, die nahezu alle Weinbaubetriebe schwer beschädigte und bei der viel Wein vernichtet wurde. Mit vereinten Kräften und der Unterstützung von einigen tausend (!) auswärtigen Helfern konnte der drohende Ernteausfall abgewendet werden.

Wer im Herbst von der Autobahn nach Ahrweiler abgebogen ist, hatte zunächst den Eindruck, hier sei schon fast wieder der Normalzustand hergestellt. Von etwas weiter oben sah man den Fluss Ahr mit seinem üblichen Pegelstand (etwa ein Meter) gemächlich in seinem Bett plätschern. Das erste Anzeichen, dass hier noch lange nichts normal ist, war eine Absperrung auf der Bundesstrasse 267. Ein Schild verkündete: Weiterfahrt nur für Anlieger. Damit ist auch den typischen Neugierigen verwehrt, sich am Unglück anderer zu ergötzen. Viele der Häuser am Anfang des Ahrtals machten aus der Distanz einen fast normalen Eindruck. «Aber in den Erdgeschossen kann aktuell kaum jemand wohnen», erzählen Winzer, die etwas tiefer im Tal, in Orten wie Mayschoss, Dernau, Marienthal, Altenahr oder Rech ihr Zuhause haben und noch um einiges ärger von der Naturkatastrophe in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli getroffen wurden. Nicht selten trieben sie die Fluten auf das Hausdach und dann in das reissende Wasser selbst. Aber nur so konnten sie überleben.

«Alles weggeschwommen»

Über einen Fall in der Weinszene wurde häufig berichtet, weil er besonders dramatisch war: Meike und Dörte Näkel vom Weingut MeyerNäkel in Dernau retteten sich aus dem zweiten Stock des Weingutes ins Wasser, schwammen um ihr Leben und konnten schliesslich auf einem Baum «notlanden». Hier wurden sie nach einigen Zitterstunden gerettet. Als sich das Wasser aus dem Ort verzogen hatte, war nur mehr feststellbar, dass der stattliche Betrieb ein Trümmerhaufen war und einige hundert Barrique-Fässer davongeschwommen waren. Ein Fass schaffte es halbvoll bis in die Niederlande. 15 Wochen später erzählte Dörte am Telefon: «Heute konnte ich mich den ersten Tag wieder um meine Kinder kümmern.»

Paul Schumacher, Winzer in Marienthal, erinnert sich, dass er mit seiner Frau auf das Dach seines Hauses flüchtete. «Von hier habe ich einen sternenklaren Himmel gesehen und gut einen Meter unter uns das Wasser. Als es sank, wurde unser Wohnzimmer wieder betretbar, obwohl hier noch die Couch schwamm.» Der 64-Jährige war so gestresst, dass er sich auf das Möbelstück setzte und kurzzeitig einschlief. Lucas Sermann aus Altenahr, ein Aufsteiger der letzten Jahre, sah viele, viele Fässer wegschwimmen. «Eines konnte ich retten. Es war noch halbvoll, aber der Wein hatte sich mit Öl vermischt. Ich hebe das Fass trotzdem auf, als Erinnerung», meint der 31-Jährige nach zeitlicher Distanz Ende Oktober schon wieder etwas gelassen. Sein Kollege Peter Kriechel aus Ahrweiler glaubte am Unglücksabend nach den ersten Nachrichten von einem anziehenden Hochwasser, dass es reichen würde, den 500 Meter vom Fluss entfernten Buschenschank mit auf einen Meter aufgeschichteten Tischen und Sandsäcken zu schützen. Die Arbeit war umsonst, kurze Zeit später stand der Hochwasserpegel schon bei fünf und mehr Metern. Aber wenigstens erging es ihm wie seinem Kollegen Alexander Stodden, der vermeldete: «Unser grösstes Glück ist, dass die Familie und die Freunde diese Nacht gesund überlebt haben.»

Als die Flut vorbei war, bot sich ein Bild des Grauens. Im Landkreis Ahrweiler waren die vielen Brücken allenfalls noch per pedes benutzbar. Die Ahrtalbahn war bei 20 Kilometern Gleis-Über- und Unterspülungen nicht mehr fahrbereit. Autowracks gaben sich in den Strassen ein Stelldichein mit Weinfässern und Gerätschaften aus den Weinkellern. Hotels und Restaurants waren schwer beschädigt, der für das Gebiet wichtige Tourismus war für längere Zeit mit sehr wenigen Ausnahmen auf Null gestellt. Und fast jeder Weinerzeuger hatte schwere Schäden zu verzeichnen. 90 Prozent aller Weinkeller waren geflutet und Gebäude waren zerstört. Nicht zu vergessen die 50 Hektar Reben, die für die Ernte 2021 durch die Überschwemmung ausfielen und einige Jahre Erholung brauchen, bis sie wieder Trauben tragen können - vielleicht. Das Gesicht der Ortschaften hat sich teilweise radikal verändert. Marc Linden vom Weingut Sonnenberg in Ahrweiler rauft sich die Haare: «Man sieht Bilder und weiss nicht mehr, wo und was das eigentlich mal war.» Er ist der Auffassung, dass das Warnsystem nicht funktionierte. «Nach den ersten Nachrichten über starke Regenfälle war ich noch ganz gelassen und mit dem Unimog unterwegs. Erst später habe ich bemerkt, was da wirklich auf uns zukam.» 

Nach dem Schock die Solidarität

An der Ahr ist man durchaus Hochwasser gewöhnt. Eine Chronik weist im Verlauf der Jahrhunderte einige Dutzend teilweise schlimme Überschwemmungen auf. 1910 wurde von einem «Jahrhundert-Hochwasser» gesprochen, bei einem Pegelstand von fünf Metern. Auch 2016 war nicht ohne. Damals wurde angekündigt, dass am Flussufer Retentionsflächen entstehen sollen, die den Flüssen Raum zum Ausufern geben sollen. Mit der Umsetzung scheint es noch zu hapern. Deshalb kann Paul Schumacher im Rückblick treffend sagen: «Hätte ein Regisseur das, was bei uns passierte, als Katastrophenfilm gedreht, wäre er von der Kritik verrissen worden, weil alles unglaubwürdig und total übertrieben anmutet.»

Aber schon Friedrich von Schiller hatte das passende Zitat parat: «Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit. Und neues Leben blüht aus den Ruinen.» Es ist einiges passiert in den inzwischen gut vier Monaten nach der Katastrophe. Schon nach wenigen Tagen kamen die ersten Helfer, um an der Ahr mit anzupacken. Das Wort Solidarität bekam eine neue Schreibweise: SolidAHRität.

Die Winzer hatten zu diesem Zeitpunkt nicht nur den Schock der Zerstörung zu bewältigen, sondern Angst, dass auch der anstehende Jahrgang 2021 ein Opfer des Wassers werden würde. Es dauerte, bis die notwendigen Spritzungen in den Reben mit einigen Ausnahmeregelungen organisiert waren und so zumindest sichergestellt war, dass Peronospora und Co. die Trauben nicht zu sehr schädigten. Man musste damit zurechtkommen, dass wochenlang Wasser, Strom und Gas nicht verfügbar waren. Aber was vorher nicht absehbar war: Es kam eine andere, wohltuende Welle auf das Ahrtal zu - Hilfe von allen Seiten (überwiegend privat), auch aus dem Ausland. Und das Improvisationstalent der Winzer trug dazu bei, dass sie bei Erntebeginn nicht auf Notlösungen mit einer Verarbeitung weit ausserhalb angewiesen waren, sondern selbst Regie führen konnten, natürlich oft in provisorischen Einrichtungen sowie mit Hilfe von auswärts. Peter Kriechel strahlt: «Allein für die Ernte kamen in unser Gebiet rund 5000 Helfer aus verschiedenen Regionen und Ländern. Daraus entwickelten sich viele Freundschaften. Einige kündigten an, dass sie bei uns am liebsten heimisch werden möchten.»

Das Wort Solidarität bekam eine neue Schreibweise: SolidAHRität.

«Der Schock vom Juli war hart, aber wir haben ihn inzwischen überwunden», meint die Dernauerin Julia Baltes (2012/13 Deutsche Weinkönigin), die mit ihrem Mann Benedikt in wenigen Jahren ein erstklassiges Burgunder-Weingut (Bertram-Baltes) aufgebaut hatte. «Unsere zwei Betriebsteile waren zwar ein Opfer der Flut. Unsere wertvollen Magnums, die wir reifen lassen wollten, sind weg. Aber wir konnten wenigstens sonstige Vorräte retten und haben längst beschlossen, dass wir alles wiederaufbauen. Jetzt freuen wir uns auf die gute Qualität des 2021ers.» Dass die internationale Beachtung so gross war, hatte wohl auch mit der Berichterstattung in den Medien zu tun. Peter Kriechel, im Nebenjob Vorsitzender von Ahrwein e. V., wurde zum Pressesprecher des Gebietes. «‹New York Times›, ‹Washington Post›, ‹The Guardian›, BBC waren etwa meine Gesprächspartner, ebenso in Deutschland die ‹SZ›, ‹Die Welt›, der ‹Spiegel› und viele andere.» «Jetzt sind wir vermutlich weltweit bekannt», meint Paul Schumacher. «Aber die Opferrolle können wir hoffentlich bald ablegen und wieder durchstarten.»

Neuanfang mit Optimismus und Weitsicht

Im Frühjahr 2022 sehe die Welt schon wieder anders aus, ist auch Kriechel optimistisch. Einig sind sich die Winzer, dass die Politik bei der Flussführung umdenken muss und die Ahr einfach mehr Freiräume brauche. Dass alle Betriebe wieder am alten Platz aufgebaut werden, ist absehbar. Denn Alternativen sind im Gebiet allenfalls marginal vorhanden. Was half, wieder Boden unter den Füssen zu bekommen, hat Alexander Stodden so formuliert: «Es ist kaum in Worte zu fassen, was uns an Herzlichkeit, Fürsprache, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit widerfahren ist. Zwischendrin hatten wir mal die Kraft fast verloren. Aber dann haben uns tolle Menschen etwas zum Essen und Trinken gebracht, unsere Wäsche gewaschen, unsere Kinder in den Urlaub mitgenommen, Baumaterialien geliefert, unser Weingut vom Schlamm befreit, bis wir Stück für Stück zurück in unser Haus und unser Leben konnten. Jetzt gehen wir Tag für Tag in Richtung Normal und konnten eine legendäre Weinlese einfahren.» Nicht vergessen dürfe man das Gemeinschaftsgefühl im Gebiet. «Wir haben ein tolles Team, das teilweise selbst vor den Trümmern seiner Häuser stand, aber trotzdem bei uns anpackte.»

Die 2021er werden als Kapital für die Zukunft angesehen. Schumacher: «Es gibt sehr interessante Spätburgunder, die sich allerdings erst spät entwickeln werden.» Kriechel erwartet sogar «einen ganz tollen Jahrgang mit einer anderen Stilistik und knackiger Säure.» Schon wieder richtig aktiv ist der mit Abstand grösste Betriebe an der Ahr, die Winzergenossenschaft Mayschoss (150 Hektar). Geschäftsführer Matthias Baltes muss zwar damit leben, dass die Betriebsteile in Mayschoss und Walporzheim mit grosser Gaststätte und Büros ein Opfer der Flut wurden. Aber im Keller konnten 70 von 100 Fässern und über eine Million verschlammte Flaschen gerettet werden («Wir haben dafür drei Monate nur gespült»). Die hochgelegene Traubenerfassung und Abfüllanlage wurden nicht beschädigt. Das machte schon bald nach der Flut an der Ahr die Runde und wurde ein Hoffnungsschimmer für die privaten Winzer, die hier eine Chance erblickten, ihre Trauben im Gebiet anzuliefern. «Aber nur ein einziger Erzeuger mit wenig Fläche hatte letztlich Bedarf», erzählt Baltes. Er ist jetzt schon wieder mit seinem Betrieb recht aktiv, macht Postversand und Notverkauf ab Hof, ist mit einem Verkaufsmobil ausserhalb der Region unterwegs und will noch im Dezember bis nach Bonn und Köln vordringen, auf Weihnachtsmärkten Flagge zeigen. Bei den baulichen Massnahmen, die sicher an die zwei Jahre dauern werden, will er für effektivere Abläufe sorgen und einiges verbessern. Und vor allem sieht er jetzt eine grosse Chance, das Image des Gebietes zu verändern. «Wir müssen unseren Besuchern deutlich machen, dass es bei uns ein Premium-Weinvergnügen gibt und der Bus-Tourismus, für den wir teilweise bekannt sind, nicht zum Niveau unserer Region passt.»
Mit anderen Worten: Die Ahr will sich auf ihren vorläufig 500 Hektar neu erfinden.

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