Von Wellentänzern und «Räuschlingen»

Die Winzer*innen vom Zürichsee

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Siffert / weinweltfoto.ch, Sandra Marusic, Philip Gribi, Esther Michel, Stefan Schlumpf, Nik Kugler, z.V.g.

Auf rund 175 Hektar wird heute um den Zürichsee herum Weinbau betrieben. Pinot Noir können hier alle. Aber die grosse Spezialität der kleinen, feinen und zunehmend dynamisch agierenden Weinbauszene sind immer mehr neue Crus aus der ältesten autochthonen Sorte am See, dem Räuschling. Aber nicht nur: Das Spektrum der Spitzenweine ist so breit wie noch nie und reicht von lebhaften Schäumern über den Johanniter, der als Wellentänzer im See schaukeln darf, bis zum ungeschwefelten Gewürztraminer orange…

Der Thinktank

Weinbauzentrum Wädenswil

Mit einer Rebfläche von 10,5 Hektar in besten Lagen ist das Weinbauzentrum Wädenswil eine starke Kraft am Zürichsee. Vor allem, weil es eben mehr als ein Weingut ist. In Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Agroscope werden hier unter anderem Anbauversuche mit neuen, mehrfach resistenten Sorten durchgeführt. Aber auch mit den verschiedenen Deutschschweizer Weinbaukantonen beziehungsweise den Branchenverbänden, die hinter dem Weinbauzentrum stehen, wird angewandte Forschung betrieben, etwa Pflanzenschutzversuche. Und nach dem massiven Hagelschlag von 2021 in Wädenswil wurde kurzfristig untersucht, mit welcher Art von Notschnitt sich Hagel-Schäden künftig am ehesten begrenzen lassen. Die Qualität der unter der Führung von Lorenz Kern und Thierry Wins an- und ausgebauten Weine, die unter der Marke «Dreistand» auf den Markt kommen, ist die beste Referenz für das Know-how dieses Betriebes. Der Fokus ist breit: Der Müller-Thurgau wird genauso minuziös gepflegt wie der pilzwiderstandsfähige Souvignier Gris oder der exotische Pinotage.

Zweigelt/Merlot/Blauburgunder 2019

17 Punkte | 2022 bis 2026

In der Nase mediterran verführerisch, mit viel dunkelbee­riger Frucht, auch Kirschen, einem Anflug von Garigue-Kräutern und Pfeffer. Auch im Gaumen verführerisch opulent, mit Extraktsüsse und edler Würze. Saftige Säure.

39 Franken | www.dreistand.ch

Der Wellentänzer

Weingut Irsslinger, Wangen SZ

Es ist der Seewein schlechthin! Schliesslich ist es das einzige Gewächs, das nicht nur am Zürichsee wächst, sondern darüber hinaus im See reift. Die Idee geht auf Louis-Gaspard d’Estournel (1753 bis 1844), den Gründer von Château Cos d’Estournel, zurück. Dieser erkannte, dass Wein aus Fässern, die monatelang im Bauch von Segelschiffen schaukelten, besser schmeckten als jene aus dem eigenen Keller, und entwickelte daraus ein Geschäftsmodell. Der österreichische Winzer Fabian Sloboda griff die Idee auf und liess 2017 eine doppel-wandige Stahlboje bauen, in der 1000 Liter Wein sanft in den Wellen schaukeln können. Zwei Jahre später baute der junge Zürichsee-Winzer Robert Irsslinger mit Hilfe von Fabian Sloboda eine identische Boje, die im Herbst 2022 nun schon zum vierten Mal mit frisch vergorenem Wein der Sorte Johanniter gefüllt und eingewassert worden ist. Robert und Chantal Irsslinger bewirtschaften am Buechberg in Wangen rund vier Hektar in Höhenlagen von rund 480 Metern über Meer und bringen rund zwölf verschiedene Weine in die Flasche.

Wellentänzer Johanniter 2020

17.5 Punkte | 2022 bis 2026

Im Vergleich zum Zwillingswein, der daheim im Keller reifte, zeigt sich der Wellentänzer ein Spur offener, reifer und komplexer. Edle Aromen von Kernobst, besonders Quitten, florale Noten. Im Gaumen kernig und frisch.

38 Franken | www.irsslinger.ch



Zusammen voran

Schwarzenbach Weinbau, Meilen

Dass in Kalifornien oder Australien verschiedene Winzer den gleichen Keller nutzen, ist nicht ungewöhnlich, in der Schweiz schon. Bei Marilen Muff und Alain Schwarzenbach in Meilen keltern auch Rico Lüthi, Diederik Michel und seit neuem Jonas Ettlin ihre Weine. «Erstens haben wir viel Spass zusammen, und zweitens gab es noch nie ein Problem, das wir gemeinsam nicht lösen konnten», sagt Alain Schwarzenbach. Vor sechs Jahren hat er das Gut von seinem Vater «Stikel» übernommen und behutsam neue Akzente gesetzt. So wurde das Sortiment gestrafft und einzelne Weine wurden weiterentwickelt. So auch der flaschenvergorene Schaumwein «Nothing left to lose». Einst aus Müller-Thurgau und Räuschling gekeltert, besteht er heute aus Pinot Noir und im Holz ausgebauten Chardonnay und steht für Finesse pur. Zudem haben die Schwarzenbachs begonnen, die Randreihen nahe Wohnhäusern und Spazierwegen mit resistenten Sorten zu bepflanzen, die keinen Pflanzenschutz benötigen. «Wir sehen das als gelebte Nachhaltigkeit», sagt Alain Schwarzenbach.

Nothing left to lose 2020

17.5 Punkte | 2022 bis 2025

Schäumer aus traditioneller Flaschengärung mit Pinot Noir und Chardonnay. Florale Noten, Agrumen, schon in der Nase edel und frisch. Im Gaumen klar strukturiert, ein Anflug von Fruchtsüsse, dann trocken, beschwingt und glasklar.

25 Franken | www.schwarzenbach-weinbau.ch

Gesegnete Crus

Kellerei Kloster Einsiedeln SZ

«Unter sieben Gramm Gesamtsäure machen wir keinen Schaumwein», sagt Dominic Mathies, der Kellermeister vom Kloster Einsiedeln, während im Glas der Vivus Rosé Extra perlt. Der Schäumer beweist, dass der Zürichsee ein sehr gutes Terroir ist, um knackige Schaumweine zu erzeugen. Der Räuschling, der lange auf der Feinhefe reift, und der Pinot Noir, vor allem der «Konvent Leutschen» von den ältesten, fast 60-jährigen Reben, sind zwei weitere Flaggschiff-Weine. Hohe Erwartungen setzt man hier auch in den Elbling, neben dem Räuschling die zweite weisse Ursorte am Zürichsee. Dominic Mathies, der seit 2011 die Klosterkellerei führt, die Trauben von über 12 Hektar einkellert, hat eine klare Vision: «Wir möchten nicht von den jährlich 800 000 Besuchern des Klosters leben, sondern vom guten Ruf unserer Weine.» Ein eigentlicher Coup ist dem Klosterkeller mit der Hommage an den legendären Sprayer von Zürich, Harald Naegeli, gelungen. Zusammen mit der Pumpstation Gastro GmbH wurden drei besondere Weine selektioniert, auf deren Flaschen, ästhetisch hochwertig umgesetzt, die Spray-Sujets von Harald Naegeli thronen.

Vivus Rosé Extra Brut

17.5 Punkte | 2022 bis 2024

Die Cuvée aus Pinot Noir (85%) und Chardonnay reifte zwei Jahre auf der Hefe und wurde mit nur 4 Gramm Dosage abgefüllt. Rote Beeren, Wiesenkräuter, eine Spur Weihrauch. Im Gaumen frisch, knackig und belebend.

28 Franken | www.klosterkellerei.ch

Kraftort am See

Weingut Höcklistein, Jona SG

Die «Edel-Scheune» am See ist der perfekte Ort, um die Höcklistein-Crus kennen zu lernen. Und wer weiss, dass hinter diesem Prestigeprojekt der mit der Region eng verbundene Investor Thomas Schmidheiny steht, der auch in Kalifornien und Mendoza Wein produziert, glaubt etwas vom «Easy Going» der Neuen Weinwelt auch hier am Zürichsee zu spüren. Wichtiger ist aber, dass man mit den Leitsorten ein beeindruckendes Qualitätsniveau erreicht hat. Einzellagen-Selektionen wie der Räuschling Äfenrain, der Pinot Noir Paradies oder der Merlot Paradies sind «State of the Art». Als goldrichtig erwies sich besonders das «Upgrading» des Räuschlings zur Leitsorte. Tatsächlich zeigt er hier am sankt-gallischen Ende des Sees besonders viel eigenständigen Charakter. Die Topselektion «Äfenrain» reift in der östlichsten und höchstgelegenen Parzelle des Gutes. Alle Höcklistein-Weine wachsen auf kargem, leicht alkalischem und kalkhaltigem Nagelfluhboden, was den Crus eine besondere, leicht salzig anmutende Saftigkeit verleiht.

Räuschling Äfenrain 2020

19 Punkte | 2022 bis 2028

Was für ein Wein! Grosses Kino. Schon in der Nase sehr vornehm und komplex, mit Orangenblüten, ein Touch Mineralik, an Graphit erinnernd, dazu nussig-rauchig erscheinende Würznoten. Im Gaumen vielschichtig und glasklar, mit einer saftigen, leicht salzig wirkenden Säure.

39 Franken | www.hoecklistein.ch

Die Durchstarter

Weingut Rebhalde, Familie Hohl, Stäfa

Der 29-jährige Sven Hohl aus Stäfa und seine Partnerin, die 24-jährige Theresa Knops aus Braunschweig, kamen während ihrer Ausbildung weit herum und trafen sich schliesslich beim biodynamisch geführten Weingut Manincor in Kaltern. 2020 stiegen sie zusammen in den 10 Hektar grossen Familienbetrieb in Stäfa ein und begannen mit der Bio-Umstellung. «Ich wollte versuchsweise mit ein paar Parzellen beginnen, doch mein Vater plädierte auf: wenn schon, dann ganz», erinnert sich Sven Hohl. Als sie im Herbst 2021 drei Viertel der Ernte wegen Hagel verloren, war die Ansage des Vaters wieder glasklar: «Wir machen weiter, denn jetzt wissen wir ja mit Problemjahren umzugehen.» Im Keller werden alle Weine spontan vergoren, und zwei ausgewählte Partien werden in Amphoren, sogenannten Tinajas, vinifiziert. Das Rebsorten-Sortiment von heute 38 Gewächsen wollen sie straffen. Klar ist: «Wir glauben an den Räuschling und aromatisch ausdrucksstarke Weine mit wenig Alkohol.» Ab dem 1. Januar 2023 ist der Betrieb biozertifiziert.

Lattenberger Blauer Zweigelt 2020

17 Punkte | 2022 bis 2024

In der Nase expressiv und reif. Ausgeprägte Aromen von Dörrfrüchten, dazu eine Spur Rumtopf, Zwetschgen, Datteln, Schokolade und Würznoten. Im Gaumen überraschend kernig. Präsente Säure.

22 Franken | www.hohl-weine.ch

Der Perfektionist

Weingut Erich Meier, Uetikon am See ZH

Seine Message ist glasklar: «Gut reicht nicht.» Darum hat er dieses Jahr bei der Ernteplanung nicht nur die Sorten berücksichtigt, sondern auch den Charakter jeder ein- zelnen Parzelle. Vor acht Jahren hat der heute 47-jährige Ernst Meier seine Betriebsphilosophie angepasst. Seither vergärt er seine Weine, wenn immer möglich, spontan. Im Rebberg arbeitet er ohne Insektizide und Herbizide. Und beim Pinot Noir verzichtet er auf kalte Maischenstandzeiten, gibt aber einen Teil der Trauben mit den Stielen in die Gärung. Vor allem mit den Burgundersorten Pinot Noir und Chardonnay setzt er ganz starke Akzente. Und beweist, dass ein Spitzen-Pinot nicht zwangsläufig von alten Reben kommen muss. Die erst 2014 neu bepflanzte Toplage «Kirche» bringt heute seinen Grand Cru hervor, eine warme Lage, aber mit der kühlen Brise vom See. Ja, bei Erich Meier hat sich viel geändert, aber etwas ist gleich geblieben. Sein Equipment ist stets top gepflegt und glänzt auch nach Jahren noch schöner als fabrikneu.

Pinot Noir Kirche 2020

18 Punkte | 2022 bis 2030

Der Topwein betört mit verführerischen Aromen von roten und dunklen Beeren, etwas Lakritze und einem Anflug von Rauch. Im Gaumen sehr gut strukturiert und kernig, gleichzeitig auch animierend und sehr trinkig.

58 Franken | www.erichmeier.ch

Klarer Blick nach vorn

Weingut Bachmann, Stäfa

Quereinsteiger, die zuerst in anderen Branchen erfolgreich waren, haben als Winzer oft einen besonders klaren Blick. Theres Bachmann ist zwar im elterlichen Weingut in Stäfa aufgewachsen, arbeitete aber etliche Jahre als Coiffeur-Meisterin, bevor sie sich zur Winzerin und Sommelière ausbilden liess. Und ihr Mann Jonathan war in der Kunststoffindustrie tätig, bevor er Weintechnologe wurde und unter anderem bei Davaz in Graubünden, Hofstätter in Südtirol und Creation Wine in Südafrika arbeitete. 2018 übernahmen sie den elterlichen 10-Hektar-Betrieb und entwickelten eine klare Qualitätspyramide. Die Basis bilden die sortentypisch trinkigen Seeweine, die sogenannten «Bergweine» stehen für Lagencharakter, Komplexität und Entwicklungspotential. Und was unter «Reserve» auf den Markt kommt, sind ausgereifte Selektionen in kleinen Mengen. Zu ihren Lieblings-Sorten gehört der alteingesessene Räuschling. Die Selektion aus der Berglinie, eine Spätlese aus steilen Terrassen, ohne Säureabbau gekeltert, zeigt die Philosophie des Gutes exemplarisch. Fruchtbetonte, ausdrucksstarke Weine mit Finesse im Gaumen sind das Ziel.

Räuschling Berg 2021

18 Punkte | 2022 bis 2026

Zart, aber doch ausdrucksstark. Agrumen, besonders Bergamotte, dazu weisse Blüten und frische Sahne. Im Gaumen sehr saftig, präzise und animierend, mit wunderbarem Fruchtschmelz. Lebendiges Säurespiel im Finale.

19.50 Franken | www.weingut-bachmannn.ch

Nachhaltig gut

Weingut Rütihof, Uerikon

Seit 2004 führen Monica Hasler und Matthias Bürgi den Rütihof in fünfter Generation, und sie tun dies mit einem besonders nachhaltigen Ansatz. Kein Wunder, denn sie arbeitete «in ihrem ersten Beruf» als Biologin, er befasst sich nebst der Arbeit im Weingut noch heute als Wissenschaftler mit der Gestaltung naturnaher und urbaner Lebensräume. Seit 2017 bewirtschaften sie ihr 5-Hektar-Gut nach den Vorgaben des ganzheitlich ausgerichteten Labels «Fair’n Green». So fördern sie eine artenreiche Begrünung, bauen Trockenmauern und pflegen Hecken und Feuchtgebiete. Und nicht nur das. Mit ihrer Solaranlage produzieren sie schon seit 2020 dreimal mehr Strom, als der Betrieb benötigt. Auch soziale Arbeitsbedingungen und faire Entlohnung sind ihnen wichtig. Zudem haben sie gezielt pilzwiderstandsfähige Sorten wie Sauvignac und Muscaris neu angepflanzt. Ein Novum ist auch ihr Orange Wine aus der Sorte Gewürztraminer. Nach einer Maischengärung wie bei einem Rotwein reifte der Wein in Barriques rund ein Jahr auf der Hefe und wurde unfiltriert und ungeschwefelt abgefüllt.

Orange Wine Gewürztraminer 2020

18 Punkte | 2022 bis 2027

Animierende und reiche Aromatik mit Rosenblättern und weissen Blüten, auch Kernobst, besonders Quitten. Im Gaumen dicht gebaut, mit viel Grip und einer präsenten Säure. Edler Bittertouch im Finish. Orange vornehm!

19 Franken | www.weingut-ruetihof.ch

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