Die Florios

Ihr Imperium fiel, ihr Marsala blieb

Text: Thomas Vaterlaus; Foto: z.V.g.

Mit ihrem Gewürzladen an der Via Materassai in Palermo als Basis schuf die sizilianische Familie Florio ab 1783 das grösste Wirtschaftsimperium Italiens. Sie kauften den gesamten Archipel der Ägadischen Inseln vor der Westküste Siziliens, geboten über eine Flotte von rund hundert Schiffen und empfingen in ihren neugotischen Palästen in Palermo gekrönte Häupter wie Zar Nikolaus II., König Georg V. von England oder Kaiser Wilhelm II. Nach 1920 verschwand ihr Reich wieder und schliesslich auch ihr Name. Einzig die von ihnen gegründete Cantine Florio in Marsala erlebt eine Renaissance.

Der Gewuürzladen wächst und gedeiht. Paolo erinnert sich noch gut an die Tage, als er vor dem Laden stand und auf Kundschaft wartete. Am Ende des vergangenen Jahres hatte es eine schlimme Grippeepidemie gegeben und zu Weihnachten wechselten sich die festlichen Messen mit den Klagen über die vielen Begräbnisse ab. Chinarinde wurde knapp und ging schliesslich fast ganz aus. Viele Gewürzläden wogen das begehrte Fiebermittel buchstäblich gegen Gold auf. Dann traf, vollkommen unerwartet, die Gewürzlieferung von Barbaro ein. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Am nächsten Tag war der Laden voller Kundschaft, nicht nur arme Leute, sondern auch Inhaber kleinerer Apotheken. Da standen sie in der Tür, mit dem Hut in der Hand und Geld in der Tasche, und flehten die Florios an, ihnen die Rinde zu verkaufen, beschreibt die Autorin Stefania Auci in ihrem Bestseller «Die Löwen von Sizilien» den Aufstieg der Familie Florio anhand einer Szene aus dem Jahre 1801.

Marsala im Frühling 2023. Das Imperium der Familie Florio ist längst Tempi passati, der Name ausgestorben und doch noch immer präsent. Das merkt der Reisende schon bei der Landung auf dem örtlichen Flughafen, der Vincenzo Florio heisst. Die Stadt selbst überrascht. Die Häuser, gebaut aus jenem Tuff, der auch das Klima in den Marsala-Kellern beeinflusst, verbreiten helle, mediterrane Leichtigkeit. Und im gut gepflegten historischen Zentrum hat sich eine lebendige Szene mit Bars, Trattorien und kleinen Hotels entwickelt. Nur die Abwesenheit des lediglich einen Steinwurf entfernt liegenden Meeres verwundert. Ja, Marsala zeigt dem Meer die kalte Schulter, wendet sich von ihm ab. Zwischen der Stadt und dem Wasser liegt jenes diffuse Niemandsland, das früher die gewaltig grossen Marsala-Kellereien beherbergte. Neben verwitterten Fassaden von Lagerhallen thronen hier noch immer zwei gepflegte Paläste, die von der einstigen Grandezza der Weinstadt Marsala zeugen. Die Cantine Florio, heute wieder Dreh- und Angelpunkt der neu erwachenden Marsala-Kultur, mit ihrem gewaltigen, 170 Meter langen Keller, unterteilt in vier gewölbeartige Schiffe, die von 104 Bögen getragen werden. Gleich daneben das heutige «Grand Hotel Palace», in der Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut für die Familie von Sir Carlo Gordon, dem damaligen Verwalter der Cantine Florio.

Es gibt etliche mit hochprozentigem Alkohol angereicherte und oxidativ ausgebaute Weine, die in unmittelbarer Nähe des Meeres reifen. Etwa die Sherrys, die im spanischen Sanlucar de Barrameda produziert werden, oder die portugiesischen Madeiras, die in den Lodges in Funchal oder Cámara de Lobos schlummern. Doch kein Wein wird so direkt vom Meer geprägt wie die Marsalas der Cantine Florio. Kein Wunder, dass Kellermeister Tommaso Maggio, der seit einem Vierteljahrhundert über die rund 2800 Holzgebinde in der Cantine wacht, diesen Keller als «das zweite Terroir der Florio-Weine» bezeichnet.

«Mir fällt immer wieder auf, dass besonders Single-Malt-Liebhaber eine starke Affinität zu den Vergine Reservas haben.»

Tommaso Maggio

An jener Stirnseite des Gebäudes, die nurmehr 65 Meter vom Meer entfernt liegt, beträgt die Luftfeuchtigkeit 85 Prozent. An den Wänden wächst Schimmel, und je nach Wetterlage drückt Salzwasser durch den natürlichen Tuffboden und hinterlässt im Keller jene Lachen, die beim Verdunsten helle Kristalle bilden. Es riecht hier fast mehr nach Meer als am nahen Meer selbst, sprich nach Jod, Salz und Algen. In dem vom Meer abgewandten Teil des Kellers sind die Wände dagegen trocken, die Luftfeuchtigkeit ist mit nur gerade 65 Prozent markant geringer. Hier riecht es nicht mehr nach Meer, sondern nach Sekundäraromen von verdunstetem Wein. Auch die Temperaturschwankungen sind in diesem magischen Keller mit bis zu sechs Grad Celsius markant. In den küstennahen und darum kühleren und feuchteren Sektoren des Kellers verläuft der Verdunstungsprozess langsamer als in den vom Meer abgewandten, wärmeren und trockeneren Bereichen. Die verschiedenen Mikroklimata in diesem Keller, welche die Verdunstungsprozesse mit den wechselnden Anteilen von Wasser und Alkohol beeinflussen, gehören genauso wie die Wahl der Fässer und die Dauer der Reife zur Klaviatur, mit welcher der 52-jährige Marsala-Komponist seine Elixiere kreiert. Das komplexe Prozedere beginnt mit der Selektion von kraftvollen Basisweinen aus spätgelesenen Grillo-Trauben aus der Anbauzone Trapani. Diese schickt der Kellermeister nach dem Aufspriten auf ihre jahre- oder jahrzehntelange Reise durch den Keller. Die Topweine verlieren dabei bis zu 50 Prozent ihrer ursprünglichen Füllmenge (Angels’ Share). Die ältesten Weine, die Tommaso Maggio und sein Team hier pflegen, stammen aus dem Jahr 1939.

Die Familie Florio lebte ursprünglich in Kalabrien, zog aber nach dem grossen Erdbeben von 1783 nach Palermo, wo sie einen Gewürzladen eröffnete. Sie mixten Pülverchen und Tinkturen, verkauften Zimt, Pfeffer, Kreuzkümmel, Anis, Koriander, Safran, Chinarinde und vieles andere, aber auch Baumwolle, Seide und Tabak. Später gründeten sie entlang der Küste verschiedene Tonnaras, komplexe Einrichtungen zum Fang und zur Verarbeitung von Thunfischen. Sie waren die Ersten, die zur Konservierung der Thunfische nicht mehr Salz, sondern Öl verwendeten, was die Nachfrage nach ihren Konserven rasant anwachsen liess. Sie stiegen auch in die Herstellung und Vermarktung von Schwefelsäure und Schwefelderivaten ein, betrieben eine Giesserei, später auch die Bank Florio und eine Flotte mit zeitweise bis zu hundert Handelsschiffen, mit Verbindungen bis nach Amerika. In der Blütezeit ihres Imperiums am Ende des 19. Jahrhunderts galten die Florios als die reichste Familie Italiens.

Rund 16 000 Menschen sollen von ihren Aktivitäten abhängig gewesen sein. Schon 1833 gründeten sie die Cantine Florio in Marsala. Die Erfolgsgeschichte des Marsalas hatte schon 50 Jahre früher begonnen, als der englische Kaufmann John Woodhouse im Jahr 1773 nach Marsala kam, um die von Napoleon verhängte Seeblockade zu umgehen und «Vino ad uso Madeira» («Wein nach der Art von Madeira») von Sizilien nach England zu bringen. Dass der Madeira bei den Engländern rasch populär wurde, beweist ein Brief des legendären Flotten-Admirals Lord Nelson, datiert vom 19. März 1800, mit dem er bei Woodhouse nicht weniger als 210 000 Liter Marsala für seine Seeleute bestellte. 1806 stieg mit Benjamin Ingham aus Leeds ein zweiter Engländer ins Marsala-Geschäft ein. Vincenzo Florio verfolgte den Boom dieses Weines, der perfekt in sein Portfolio passte, und liess zwischen den Kellern derbeiden Engländer seine eigene, prachtvolle Cantine Florio bauen. Kurze Zeit später kaufte er die Woodhouse-Kellerei und wurde damit zum weltweit führenden Marsala-Anbieter.

«Bis zum Millennium galt der Marsala als leicht verschlafener Dessert- und eben auch Küchenwein für Klassiker wie Marsalasauce (zu Kalbsschnitzel) oder Dessertgerichte wie Zabaione. Neue Foodpairing-Ideen gab es nicht. Das änderte sich rasant mit dem wachsenden Interesse am Vergine Reserva, der heute als der Qualitätsbotschafter des Marsala schlechthin gilt», sagt Kellermeister Tommaso Maggio. Mit oft nur zehn Gramm Restzucker pro Liter, gehören die Vergine Reservas zusammen mit den Sherry-Typen Fino und Manzanilla zu den trockensten aufgespriteten Weinen der Welt. Im Gegensatz zu diesen Spezialitäten aus Andalusien mutet das sensorische Profil der Vergine Reservas aber reichhaltiger, ja fast schon barocker an. «Mir fällt immer wieder auf, dass besonders Single-Malt-Liebhaber eine starke Affinität zu den Vergine Reservas haben», sagt Maggio. Zudem servieren heute Spitzenköche auf der ganzen Welt die Vergine Reservas zu Fischgerichten, asiatisch angehauchten Speisen, aber auch zu geschmacksintensiven vegetarischen Kreationen. Der Hype erstaunt nicht.

Im Gegensatz zum Semisecco, der mit meist deutlich über 40 Gramm Restzucker heute als Everybody’s Darling unter den Qualitäts-Marsalas gilt, ist der Vergine Reserva der ursprünglichste und reinste Marsala. So werden Semisecco» aus Grillo-Grundwein, Weinbrand, karamellisiertem Traubensaft und Mistello hergestellt, ein Vergine dagegen enthält nur Wein und Weinbrand. Längst hat die Aufbruchstimmung um seine Weine auch Tommaso Maggio erfasst. Ohne die Tradition zu vernachlässigen experimentiert er mit unterschiedlichen Maischenstandzeiten bei der Herstellung der Grundweine und mit dem Ausbau in verschiedenen Hölzern. So reift einer seiner Semiseccos versuchsweise in Eichenholz, das aus den französischen Pyrenäen stammt. Der Florio-Kellermeister ist sich sicher: «Die beste Zeit des Marsala hat eben erst begonnen!»

«Am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor’s zusammenbricht», dieser Reim beschreibt passend das Schicksal von Ignazio Florio junior, der nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1891 die Leitung des Familien-Imperiums übernahm und zu diesem Zeitpunkt als der reichste Mann Italiens galt.

«Die beste Zeit des Marsala hat eben erst begonnen!»

Tommaso Maggio

Er vertrat die vierte und letzte Generation seiner Familie, die in Sizilien Geschichte schrieb. Furore machte er mit seiner Heirat mit Francesca Paola Jacona della Motta aus dem sizilianischen Hochadel. Als Franca Florio bekannt, wurde sie zur Ikone der Belle Époque und machte Palermo zum gesellschaftlichen Zentrum Europas. In der spektakulär über dem Hafen gelegenen Villa Igiea hielt sie Hof wie eine Königin, und empfing Kaiser Wilhelm II., Zar Nikolaus II. oder Georg V., den König des Vereinigten Königreichs. Andere Prominente wie die Vanderbilts oder die Rotschilds ankerten mit ihren Yachten vor dem Palast. 1901 porträtierte der italienische Maler Giovanni Boldini die elegante Schönheit. Das Bild wurde von den Rotschilds gekauft und 1903 bei der Biennale von Venedig ausgestellt. Francas Schwager, der nicht weniger illustre Vincenzo Florio junior, ein Maler, Designer und Autorennfahrer, ging 1907 als Gründer des Autorennens Targa Florio und 1913 als Veranstalter der ersten Aeronautischen Woche von Palermo in die Geschichte ein. Doch das Reich der Florios hatte seinen Zenit überschritten. Im Gegensatz zu den Vorgängern wurden keine neuen Geschäftsfelder mehr erschlossen. Da sie sich von den aufkommenden Faschisten distanzierten, agierten sie in einem zunehmend politisch schwierigen Umfeld. Und die wirtschaftliche Entwicklung verlagerte sich immer mehr vom Süden in den Norden Italiens. Zudem waren die Florios nicht in der Lage, ihren verschwenderischen Lebensstil zu ändern. Nach Mitte der 20er Jahre kollabierte ihr Imperium, und weil sowohl Ignazio junior als auch Vicenzo junior keine männlichen Nachkommen hatten, verschwand mit dem Tod von Vincenzo im Jahr 1959 auch der Name Florio.

«Heute ist der Tag. Sie glaubt, sie zu hören, die Hammerschläge, mit denen ihr Schmuck verhökert wird. Die brillantbesetzte Brosche aus Platin in Form einer Orchidee, erhalten zum ersten Hochzeitstag. Die Kette mit fünfundvierzig grossen Perlen. Die mit hundertachtzig… Vor allem jedoch die mit dreihundertneunundfünfzig Perlen, die sie anhatte, als Boldini sie malte», beschreibt Stefani Auci in «Die Löwen von Sizilien» jenen Tag, als der Schmuck von Franca Florio versteigert wurde.

Und der Marsala? 1924 musste Ignazio Florio junior seine Kellerei an die Cinzano-Gruppe verkaufen. Danach fiel die Cantine Florio in einen Dornröschenschlaf, bis sie schliesslich 1998 von Illva Saronno übernommen wurde, deren Flaggschiff-Produkt der Amaretto di Saronno ist. Mit der Restaurierung der Kelleranlagen und der Verpflichtung von Tommaso Maggio als Kellermeister kam der verlorene Glanz allmählich zurück. Heute wächst die Nachfrage nach den exklusiven Topselektionen von Florio beständig. Und mit über 50 000 Besuchern im Jahr zieht die Cantine Florio heute so viele Gäste an wie keine andere Kellerei in Sizilien. Noch immer ist die Geschichte der Kellereieng mit der Familie Florio verbunden, die historischen Fotos und Dokumente im Kontor der Kellerei beweisen es. Und in der mit dunklem Edelholz ausgestatteten «Enoteca Storica» liegen rund 12 000 Flaschen von alten Jahrgängen. Die älteste stammt aus dem Jahr 1889. Damals war die Welt der Florios noch in bester Ordnung.

vinum+

Weiterlesen?

Dieser Artikel ist exklusiv für
unsere Abonnenten.

Ich bin bereits VINUM-
Abonnent/in

Ich möchte von exklusiven Vorteilen profitieren