Merlot del Ticino

Unter dem Schutz des San Gottardo, den See immer im Blick

Text & Degustation: Sigi Hiss

Kaum von der diesjährigen, sehr erfolgreichen Ticinowine Tour zurück, stellen sich die Tessiner Weine gleich wieder einer ausgiebigen VINUM-Verkostung. Merlot ist und bleibt Herz und Verstand des Tessiner Weinbaus. Dabei zeigt er Facetten wie nirgends sonst. Und doch blinzelt die eine oder andere unbekannte Sorte oder neue Stilistik ums Eck.

Die 2023 erstmals veranstaltete Ticinowine Tour verlief so erfolgreich, dass rasch klar war: Es wird auch 2024 eine Tour stattfinden. Sie führte durch die ganze Schweiz und machte dieses Jahr in St. Gallen, Luzern, Solothurn, Lausanne und Thun halt. 17 teilnehmende Weinkellereien waren vom 27. Februar bis zum 1. März eine Woche lang mit einem speziell präparierten Bus unterwegs. Breit gefächert das Publikum, von der jüngeren Altersklasse bis hin zu erfahrenen Weinkennerinnen und Weinkennern. Auch Profis, wie hochdekorierten Sommeliers und bekannten Weinjournalisten, konnte man beim ausgiebigen Verkosten über die Schulter schauen. Sie alle plauderten mit den Weinmachern über deren neuste Weine. Ungezwungen wurde über spannende Trends und aktuelle Entwicklungen aus dem Mekka des Merlots gefachsimpelt.

Anfang und heute

Merlot ist, wen wundert es, immens beliebt unter den Weinliebhabern, wenn viele sich auch als erste Begegnung chilenischen, kalifornischen oder australischen Merlot einschenken. Sortenrein ausgebaut, sind es die perfekten Weine für den Einstieg. Durch nur wenig Tannin sind diese rund, süffig und direkt nach der Abfüllung zugänglich und schön zu trinken. Die Weingüter des Tessin setzen ihre Messlatte, sprich den Anspruch an ihre Weine und im Besonderen an die Merlots, deutlich höher. Und kaum liegt der San Gottardo hinter einem, präsentiert sich dieses landschaftliche Kleinod namens Ticino zwischen Luganersee und Lago Maggiore. 1906 pflanzte man die ersten, aus dem Bordeaux mitgebrachten Merlot-Reben. Heute, über hundert Jahre später, steht die Sorte stellvertretend für die gesamte Weinregion Tessin. Nicht verwunderlich bei 80 Prozent Anteil an der gesamten Rebfläche des Tessin. Doch machen sich immer mehr vor allem junge Winzer daran, neue Sorten zu testen und den Merlot nach ihren Vorstellungen in die Flasche zu füllen. Nicht nur bedingt durch den Generationenwechsel innerhalb etablierter Weinfamilien, sondern auch durch Neu- und Quereinsteiger. Sie bringen Schwung in die fraglos vorhandene Vielfalt Tessiner Weine, dabei kommt obendrein dem Klimawandel unausweichlich eine Rolle zu. Eine Erkenntnis könnte lauten, dass man sich nicht mehr nur auf die Qualitäten des Merlots verlassen sollte. Denn eines ist in den Fachkreisen Konsens: Die Extreme der unendlichen Sonnenscheinstunden und der heftigen Niederschläge im Tessin sind allein der Hürden genug, denen sich die Weingüter jedes Jahr aufs Neue stellen müssen. Da ist es überaus sinnvoll, neue Wege zu gehen: Wir verteilen die Zukunft unserer Weinregion auf mehrere Sorten mit König Merlot in der Mitte.

Trends Eleganz und Frische

Einfach formuliert existieren zwei Typen des Merlot del Ticino. Da ist der saftige, wunderbar leichtfüssige, das sprichwörtliche Tessiner Lebensgefühl auf den Gaumen bringende – in der Abendsonne eine Vesperplatte auf dem Tisch, den Blick auf den See und die Hügel dahinter gerichtet – Merlot, der, wie in der Box unter «Dynamik des Tessin» zu lesen ist, mehr und mehr an Beliebtheit gewinnt. Seriöser, in jungen Jahren etwas grimmiger dreinschauend, ist sein muskulöser Bruder. Gekonnt im kleinen Eichenfass ausgebaut, braucht er mehr Zeit und Ruhe, um sich zu harmonisieren. Mit jedem Jahr der Reife wird er geschliffener und wandelt sich zu einem Merlot, den es so nur im Tessin gibt. Kräftig ja, aber auch mit Feinheit und Tiefe. Kein Bordeaux und kein Toskaner. Merlot mit dem unverkennbaren Charakter des Tessiner Terroirs. Apropos Charakter, auffallend ist die Tendenz, den Ausbau im Holz noch sachter anzugehen. Was nichts anderes bedeutet, als die Verwendung neuer Barriques Stück für Stück zurückzunehmen. Dafür gibt man dann den mehrfach gebrauchten Fässern den Vorzug. Nicht anders sieht es mit dem Antrocknen der Merlottrauben aus. Setzte man diese Technik, die Beeren zu konzentrieren, vor einem Jahrzehnt noch regelmässig ein, ist der Anteil angetrockneter Trauben in den Weinen zwar nicht verschwunden, doch spürbar zurückgegangen. Befürchtungen, den Gewächsen fehle es an irgendetwas, sind absolut unbegründet, das Gegenteil ist die Wahrheit. Ein Mehr an Balance, Feinheit und Finesse im Glas ist das Resultat. Das erfreut einerseits die Gastronomie, da sich die Weine noch besser zum Essen einsetzen lassen. Andererseits fragt der Markt vermehrt nach schlanken und saftigen, nicht ermüdenden Weinen. Und der Markt, das sind wir Weintrinkerinnen und Wein-trinker. Salute.