Interview mit Alain Vauthier, Gentleman

Haben Sie eine Bank geplündert?

Interview: Barbara Schroeder, Fotos: Rolf Bichsel 

Das nur acht Hektar grosse Weingut Ausone in Saint-Émilion, als Premier Grand Cru Classé A eingetragen, gehört zu den zwei, drei absolut legendärsten Gütern der Welt. Nur wenige Weinfreunde kommen überhaupt je in den Genuss seiner Weine. Besitzer ist seit über drei Jahrhunderten die gleiche Familie, heute vertreten durch Alain Vauthier. 

Alain Vauthier, Sie sind Besitzer von Château Ausone, dem wohl legendärsten Bordeaux-Gut. Sie wohnen sogar auf dem Gut. Wie kann eine Familie heute eine solche Legende halten? Haben Sie eine Bank geplündert? 

Alain Vauthier: (Lacht) Nein, so weit ist es nicht gekommen. Ich habe Ausone auch nicht im eigentlichen Sinn «erworben». Das Gut steht seit 1690 im Besitz meiner Familie. 1953, nach dem Tod meiner Urgrossmutter, kam es zu einer Erbgemeinschaft. Nach 20 Jahren als Betriebsleiter machte ich 1995 von einem Vorkaufsrecht Gebrauch. Das hat die Verwaltung des Gutes natürlich gewaltig vereinfacht. 

Wer ist Alain Vauthier? 

Ich bin in Libourne auf die Welt gekommen, wie die meisten Leute aus Saint-Émilion, und im Alter von genau fünf Tagen hier auf Ausone gelandet, wo ich bis zu meinem 30. Lebensjahr gelebt habe. Die nächsten 30 Jahre habe ich hier ganz in der Nähe auf Château Simard gehaust und die letzten 30 hoffe ich wieder auf Ausone verbringen zu können. Das sollte hinkommen, denn in unserer Familie leben alle lange! 

Ausone ist folglich nicht nur Unternehmen, sondern auch Zuhause.

Richtig. Ich habe hier im Lauf der Zeit mehrere Teile des Gebäudes bewohnt, kleine oder grössere. Ich habe die Primarschule in Saint-Émilion besucht, dann die Mittelschule in Libourne und die Reifeprüfung in einer Jesuitenschule in den Pyrenäen absolviert. Sie lag buchstäblich am Ende der Welt, inmitten verschneiter Gipfel, alles war altmodisch und verwahrlost, im Schlafsaal standen dicht gedrängt 80 Betten. Zum Essen gab es einen einzigen Teller für Suppe, Hauptspeise und Dessert. Wir hatten jeden Tag Sportunterricht, doch duschen durften wir uns nur einmal pro Woche. Warmes Wasser kam nur in den ersten Sekunden aus der Brause. Ein Pfiff, und alle seiften sich ein, ein Pfiff, und alle spülten sich. Privilegien gab es keine. Die Stimmung unter den Schülern war folglich ausgezeichnet. 

Die Pyrenäengipfel sind ja nun nicht gerade der Ort, wo ein angehender Weinmacher seinen Beruf lernt.

Ich war ein recht guter Reiter und liebte Pferde. Unsere Rebberge wurden damals noch mit Pferden bestellt. Ich wollte folglich Tierarzt – oder besser, Pferdearzt – werden. Doch ich besass einfach nicht das Niveau dazu. Ich habe eine Zeit lang Pharmazie studiert, aber ohne grossen Erfolg. Schliesslich begann ich 1971 als Kellerarbeiter bei meinem Onkel Claude Mazière auf Château Simard. Onkel Claude war in vielen Dingen seiner Zeit voraus. Danach habe ich die Nachfolge meines Vaters als Verwalter von Moulin Saint-Georges angetreten.

Ein ausgezeichnetes Saint-Émilion-Cru Classé, das bis heute in Ihrem Besitz steht. 

Ja, wie unser anderes Saint-Émilion-Gut, Fonbel, die beide über meine Grossmutter in die Familie kamen. 

Und Ausone? 

Hier habe ich 1974 zu arbeiten begonnen, im Alter von 24 Jahren. Ich hatte genau 6,25 Prozent Anteile an der Erbgemeinschaft. Meine Tante Hélyette Dubois Challand erhielt das Wohnrecht auf Château Ausone bis zu ihrem Tod im Jahre 2004. 

Wem genau gehört Ausone heute? 

Einer Erbgemeinschaft zwischen mir und meiner Schwester.

Nun ist Ausone ja nicht nur eine historische Legende und ein Nationaldenkmal. Sie produzieren ja auch nachweislich einen absolut einmaligen Wein!

Dabei habe ich weder Weinbau noch Önologie studiert, was ich heute manchmal schon bedauere. Genauso wie die Tatsache, dass ich nie Englisch gelernt habe. Ich hatte einfach nicht das Bedürfnis. Ich hatte mit 18 Jahren mein eigenes Auto, ein Boot in Arcachon, ein Pferd in Libourne. Ich kam gar nicht auf die Idee, zu reisen. Als ich hier zu arbeiten begonnen habe, war alles noch ganz anders. Die Besitzer in Saint-Émilion wohnten praktisch alle noch auf ihren Gütern. Sie bildeten eine echte Gemeinschaft, die sich nicht nur nach der Sonntagspredigt traf. Ich habe viel von den Ratschlägen meiner Schulfreunde, etwa den Bécots, profitiert. Wir tauschten nicht nur Rat, sondern auch Tat aus, das heisst Material, und verkosteten gegenseitig blind unsere jeweiligen Weine. Heute sieht das ganz anders aus. Kaum jemand haust noch auf den Gütern. Selbst hier auf Ausone: In den 1960er Jahren lebten auf den acht Hektar Rebbergen von Ausone 18 Personen. Heute noch deren zwei.

Welcher Aspekt Ihres Berufes steht Ihnen am nächsten?

Der technische. Handel liegt mir gar nicht im Blut. Ich engagiere mich weit mehr in der Weinbergsarbeit und im Keller und folge dabei der Maxime eines befreundeten Arztes, der behauptet: Wenn du keine Schmerzen mehr hast, bist du tot. 

Wer am meisten liebt, muss leiden?

So ähnlich. Auch der Weinbau hat sich enorm entwickelt und verändert in den letzten 30 Jahren. Zu Beginn war alles noch sehr physisch und damit maskulin. Wir schleppten Kisten von 12 oder 24 Flaschen, die fast 40 Kilo auf die Waage brachten. Heute schonen wir die Mitarbeiter dank Kisten von sechs Flaschen. Es gibt Gabelstapler im Keller und Traktoren im Rebberg. Ich habe im Mittelalter begonnen und bin im 21. Jahrhundert gelandet. Ich habe mich selber als Pflüger hinter dem Pferd versucht. Nach acht Metern musste ich passen. Auf Ausone mit seinen steilen Hängen hat der letzte Gaul bis 1993 gearbeitet. 

Mit 18 Jahren hatte ich mein eigenes Auto, später ein Boot in Arcachon, ein Pferd in Libourne, ich kam gar nicht auf die Idee, zu reisen. 

Heute kommt das ja wieder in Mode. Wie stehen Sie zum aktuellen Bio-Boom?

Ich habe beide Extreme erlebt. Mein Vater verwendete auf Ausone ausschliesslich Kupfersulfat und Schwefel, nie Insektizide oder Unkrautvertilger. Mein Onkel auf Simard hingegen arbeitete schon früh mit allen verfügbaren Mitteln. Abgesehen von den Allergien und anderen gesundheitlichen Problemen, die seine Angestellten entwickelten, schien das besser zu funktionieren. Ich bin der Meinung, dass die heute eingeschlagene Richtung einer ganzheitlichen, umweltgerechten Anbaupolitik unumgänglich ist. Schon deshalb, weil wohl alle im sogenannten konventionellen Anbau verwendeten Mittel bald einmal unter Acht und Bann gestellt werden. Die Biodynamik scheint zu funktionieren, auch wenn niemand genau weiss, warum. Vielleicht ganz einfach, weil der Winzer, der sich dafür engagiert, die Rebe mit grösster Sorgfalt pflegt und gleichsam in Symbiose mit ihr lebt.  

Sie haben bereits mehrmals erwähnt, dass Sie auch andere Güter verwalten, nicht nur Ausone (siehe «Vita»). Stellt Ausone mit seiner kleinen Produktion von nur etwa 20 000 Flaschen folglich einfach eine Art Lockvogel dar? 

Das ist nicht zu bestreiten. Ausone hilft beim Absatz der Weine unserer anderen Güter, auch wenn diese sich historisch gesehen schon immer gut verkauft haben. 

Warum ist Ausone zu einer solchen Legende geworden? 

Durch seine lange Geschichte. Der besondere Ort mit seinen steilen Hängen und seinem besonderen Mikroklima war immer schon bewohnt. Im Mittelalter stand hier eine Kirche, später waren es sogar eine Burg und eine Kapelle. Das erste eigentliche Wohnhaus wurde im 17. Jahrhundert errichtet, durch meine Vorfahren, und später durch meinen Urgrossvater im Stil der damaligen Zeit renoviert. 

Historisch gesehen ist Ausone folglich der älteste der grossen Weine des rechten Ufers. Doch Mythen werden auch mal vergessen. Wie unterhält man den Mythos Ausone?

Gar nicht. Unser Werbebudget ist gleich null, wir tun wirklich und buchstäblich gar nichts in dieser Richtung, im Gegensatz zu den meisten unserer Mitbewerber. Ausone verkauft sich von selber. Aber noch einmal: Das ist kein Wunder, bei der kleinen Menge, die hier produziert wird. Unser ganzes Streben gilt dem Unterhalt und der Produktion, der Investition in die technischen und weinbaulichen Mittel. 

Würden Sie Ausone als Ihr Lebenswerk bezeichnen? 

In gewissem Sinne ja. Wir haben enorme Anstrengungen unternommen, die uralten und schlecht unterhaltenen Kalkstollen unter dem Rebberg, die Mauern und die baufälligen Gebäude zu renovieren. Der erste Maurer, den wir einstellten, ist eben in Rente gegangen. Er hat 20 Jahre lang nur Mauern instand gesetzt. Wir haben in den letzten Jahren wohl so an die 10 000 Tonnen Stein bewegt. Ferner setzen wir alles daran, unseren Angestellten die Arbeit im Weinberg zu erleichtern. Eine Arbeit, die zu schwerfällig ist, wird schlecht ausgeführt. Elektrische Rebscheren und -Wägelchen erlauben komfortablere und damit bessere Arbeit.

Gibt es einen Traum, den Sie verwirklichen möchten? 

Nein, ich bin rundum glücklich. 

Keine Weltreise in Sicht?

Warum denn? Ich fühle mich rundum wohl in Saint-Émilion.

Trotz des ominösen Dorfgeplänkels?

Das ist mir vollkommen egal.

Das tönt nach Pantoffelheld.

Ha, ich bekenne mich nicht nur dazu, ich halte geradezu daran fest! Wir profitieren hier von der Lebensqualität auf dem Land und den Kontakten der Stadt. Alles stimmt hier, die gute Luft, das sanfte Mikroklima, das dem der Toskana gleicht, das auch unseren Weinen bestens bekommt, die herrliche Landschaft hier in den Hügeln… Sie wollen nach Paris? Vom Bahnhof von Saint-Émilion dauert das ganze drei Stunden, ohne Stau und Auspuffgase. Das Schlimmste, was Ihnen hier passieren kann, ist, dass ein kaputter Traktor die Strasse versperrt.

Was trinkt Alain Vauthier, wenn er keinen Ausone im Glas hat? Was ist seine liebste Wein-und-Speise-Kombination?

Er trinkt nicht – und er hat keine.  

Schwer zu glauben!

In unserem Beruf sind Alkoholismus und Übergewicht nie fern. Darum versuche ich, mich zurückzuhalten. Gesundheit geht vor.

Da kommt wohl der alte Jesuit zum Vorschein. Trockenes Brot und Wasser… 

Warum nicht! Gutes Brot schmeckt nach drei Tagen besser als ganz frisch. Schlechtes fressen die Hunde. Aber im Ernst: Natürlich gibt es Weine, die mich begeistern. Ich denke an einen Cheval Blanc 1947, den man mir vor einigen Jahren blind in einem Schweizer Restaurant vorsetzte. Oder an einen Romanée Conti oder La Tâche 1990, grosszügig und kräftig und trotzdem unglaublich elegant. Und ich liebe grosse Champagner. Aber auch mal ein frisches Bier. 

Gibt es einen Traum, den Sie verwirklichen möchten?

Ja, mich wieder einmal in den Sattel setzen. Nein, nicht aufs Pferd, da fällt man von zu hoch runter. Aber auf ein Fat Bike mit dicken Pneus und elektrischer Pedalhilfe am Strand. Da fällt man am weichsten.

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