ITALIANITÀ MONDIALE

Italianità mondiale

Text: Thomas Vaterlaus

Als Wein-Pioniere werden zwar oft andere gefeiert, doch italienische Emigranten lebten vor, dass zu einem genussvollen Leben in der Neuen Welt der Wein so sicher dazugehört wie das Amen in der Kirche.

 

«Pequéno Paraiso Italiano» steht auf dem steinernen Eingangstor zum brasilianischen Winzerdörfchen Nova Pádua. Ob sie tatsächlich ein irdisches Paradies erwartete oder womöglich eher das Gegenteil davon, das wussten die Auswanderer nicht, als sie im Jahr 1875 ihre Dörfer im Veneto verliessen und an Bord der Schiffe gingen. 30 Tage dauerte damals die Fahrt mit dem Dampfboot über den Atlantik nach Rio Grande im Süden von Brasilien, 45 Tage mit dem billigeren Segelschiff. Vom Hafen aus schickte man sie in eine 40-tägige Quarantäne, danach gings weiter nach Porto Alegre und zuletzt in einem dreitägigen, überaus beschwerlichen Fussmarsch durch dichten Wald in die Serra Gaúcha. Wer es bis hierhin geschafft hatte, bekam als Lohn ein Lot zugeteilt, 48 Hektar wild bewuchertes Land zur Rodung und freien Bewirtschaftung.

Die Italiener merkten schnell, dass man den zur gleichen Zeit angekommenen Deutschen das fruchtbare Ackerland in der Ebene gab, ihnen dagegen die nur mit entsprechendem Mehraufwand zu bewirtschaftenden Hügelzonen. Doch die Hügel hatten auch ihr Gutes, sie eigneten sich für den Weinbau. Und so ist hier in den letzten 140 Jahren über drei Generationen hinweg eine durch und durch italienisch anmutende Weinidylle entstanden mit allem, was dazugehört: solide Steinhäuser, Strässchen aus Kopfsteinpflaster, Sitzplätze unter Pergeln, Bocciabahnen. In den Osterien sitzt man auf Holzstühlen mit bastgeflochtenen Sitzflächen, und die Teller mit Salame, Pasta, Polenta und Brasato stehen auf rotweiss karierten Stofftischtüchern. In den Gläsern funkelt Wein aus den nahen Rebbergen.

Italien ist überall

Die italienische Kolonie in der Serra Gaúcha musste schwierige Zeiten überstehen, etwa nach dem Krieg, als man von den Menschen dort ultimativ mehr brasilianischen Nationalstolz verlangte und sie aufforderte, nur mehr Portugiesisch zu sprechen. Manche Familien zerstörten gar die klassischen Giebeldächer ihrer Häuser und versahen sie mit Flachdächern, weil das eher dem typisch brasilianischen Bungalow-Stil entsprach. Doch heute ist das alles vergessen. Die Winzerdörfer in der Serra Gaúcha verheissen längst wieder eine Italianità, die Besucher aus ganz Südamerika anlockt. Sie besuchen etwa die Casa Valduga, ein perfektes «Little Italy» mit trinkigen Weinen, 24 Hotelzimmern und einer Osteria wie aus dem Bilderbuch. Wenn abends dann das Feuer im Kamin knistert und die Pasta Farofa nach altem Familienrezept aufgetragen wird, Teigwaren aus Maniokmehl mit einer Sauce aus Schweinefleisch, Schinken und Rosinen, glaubt nach dem zweiten Gläschen Wein keiner mehr, dass zwischen dem Veneto und dem Vale dos Vinhedos tatsächlich der mächtige Atlantik liegt.

Die Winzer sind stolz auf das Erreichte. Antonio Mioranza etwa produziert heute mit seinem Sohn und seinen Enkeln ein paar Millionen Liter Wein für italienischstämmige Brasilianer. Sein grösster Wunsch war immer, einmal sein Heimatdorf im Veneto zu besuchen. Als er sich, längst schon im Pensionsalter, endlich auf die grosse Reise machte, war er ein bisschen enttäuscht. Italien kam ihm gar nicht so italienisch vor, wie er sich das vorgestellt hatte. Bald hatte er Heimweh nach der Serra Gaúcha in Brasilien und als er wieder zurückkam, ging er zuerst auf den Friedhof, küsste den Grabstein seines Grossvaters und sagte in akzentlosem Italienisch: «Danke, dass du uns hierher nach Brasilien geführt hast, in unser piccolo paradiso italiano...»

Boccia, Pasta, Wein...

Von den alten Schwarz-Weiss-Fotos, die wir in den Kellereien vieler italienischstämmiger Familien der Neuen Welt finden, geht eine seltsame Kraft aus. Wir sehen Familien zu Zeiten, als Fotoaufnahmen noch Zeugnisse von besonderen Momenten waren. Und obwohl die Fotos in Kalifornien, Brasilien, Argentinien oder Australien aufgenommen worden sind und die abgebildeten Menschen zur Entstehungszeit dieser Bilder höchstwahrscheinlich schon längst Bürger dieser Nationen waren, sehen wir italienische Familien, Grossfamilien und Gemeinschaften. Vielleicht, weil wir in vielen diesen Fotos eine mediterran anmutende Lebensfreude zu erkennen glauben. Die italienischen Auswandererfamilien blieben in ihrer neuen Heimat wenn möglich zusammen. Später nachkommende Brüder, Cousins oder Neffen, aber auch Bekannte aus dem gleichen Dorf liessen sich in unmittelbarer Nachbarschaft der schon früher Ausgewanderten nieder. So entstanden in der Fremde nicht nur jene typisch italienischen Grossfamilien, sondern darüberhinaus eigentliche italienische Gemeinden. Schon wenige Jahrzehnte nach den ersten grossen Auswanderer-Wellen nach 1870 kauften die Italiener, die es nach Kalifornien, in die brasilianischen Serra Gaúcha oder nach Argentinien verschlagen hatte, bei italienischen Metzgern ein, liessen ihre Kleider von italienischen Schneidern machen und wenn sie ausgingen, dann meist in ihren italienischen Club, inklusive Bocciabahn, Feuerstelle und langer Tische für lange Gelage. Das Besondere daran war, dass diese Gemeinschaften keinerlei religiösen Hintergrund hatten, sondern aufgrund der einfachen Erkenntnis entstanden, dass diese Form des Zusammenlebens mehr Lebensqualität bot.

Wein spielte dabei eine zentrale Rolle, er war gewissermassen das «soziale Schmiermittel», zumindest für die männlichen Mitglieder dieser Communitys. Interessant ist auch, dass die italienischen Einwanderer in der Diaspora nicht einfach das heimatliche Leben kopierten, sondern es permanent den sich wechselnden Begebenheiten anpassten. Als die Kinder der sizilianischen Fischer, die nach 1900 nach Monterey kamen und hier für die Cannery Row (Fischkonservenfabriken) arbeiteten, nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr die grätenreichen Sardinen essen wollten, bereiteten die Mütter für sie Heilbutt- oder Lachsfilet zu, allerdings paniert mit Brotkrumen, nach Rezepturen ihrer Mütter. Ihre Väter tranken derweil zu ihren Sardinen oder den frischen Frutti di Mare längst keinen Cataratto aus Sizilien mehr, sondern Gewächse aus Trauben, die sie italienischen Bauern im nahe gelegenen Carmel Valley abgekauft und dann so zu Wein verarbeitet hatten, wie sie es von ihren Vätern oder Grossvätern gelernt hatten.

Aus der Not eine Tugend gemacht

1908 zog Cesare Mondavi mit seiner Frau Rosa vom heimatlichen Sassoferrato in der mittelitalienischen Region Marken in die USA, genauer in die Bergarbeiterstadt Virgina in Minnesota, nicht weit von der kanadischen Grenze entfernt. Hier eröffnete er ein Lebensmittelgeschäft für italienische Emigranten und später ein italienisches Restaurant. Der 1913 in Virgina geborene Robert Mondavi erinnert sich in seiner Autobiografie an das latent rassistische Klassendenken in der Stadt. Am angesehensten waren die Einwanderer aus Skandinavien, die Italiener befanden sich am unteren Ende der Rangordnung und wurden herablassend Wops und Dagos genannt. Während die Italiener unter sich blieben, beschloss der junge Robert Mondavi schon früh, aus diesem Kreis auszubrechen, und sprach konsequent englisch. Als 1919 die Prohibition eingeführt wurde, war das für die Familie Mondavi und ihr Restaurant zuerst eine Katastrophe, bald aber auch eine Chance. Das Prohibitionsgesetz liess es nämlich zu, dass jede Familie für den Eigenkonsum die beachtliche Menge von 200 Gallonen Wein (umgerechnet rund 760 Liter) herstellen durfte, und die Italiener wussten besser als alle Amerikaner und alle anderen Einwanderer, wie Trauben zu Wein verarbeitet werden. Als Restaurantbesitzer und Sekretär des italienischen Clubs von Virgina reiste Cesare Mondavi nach Kalifornien, um Weintrauben für seine Landsleute in Minnesota zu kaufen. Im klimatisch milden und gesellschaftlich toleranteren Kalifornien gefiel es Cesare so gut, dass er mit seiner Familie an die West Coast übersiedelte.

Hier gelang Robert Mondavi der geradezu märchenhafte Aufstieg zum ultimativen amerikanischen Starwinzer. Seine italienische Herkunft spielte in dieser amerikanischen Erfolgsstory lange Zeit keine Rolle. Seine Topweine kelterte er konsequent aus französischen Sorten. Bordeaux und Burgund waren seine Orientierungspunkte. Erst als er 1998 im Alter von 85 Jahren seine Autobiografie unter dem Motto «Harvest of Joy – My Passion for Excellence», schrieb, betonte er, dass wirklicher Genuss für ihn nur im Zusammenspiel von gutem Wein, gutem Essen und guter Gesellschaft möglich ist und dass er diese Form des erweiterten Genusses in seiner Jugend kennengelernt hat, in seinem italienischen Familien-und Bekanntenkreis.

«The Italian Paradox»

Selbst im Schmelztiegel Kalifornien war Wein bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mehr ein Rausch- als ein Genussmittel. Kein Wunder, dass der Weinbau seine erste grosse Blütezeit während des grossen Goldrausches erlebte, als in den Saloons der Goldgräberstädte in der Sierra Nevada mindestens so viel Wein wie Whisky geschlürft wurde. Die Erkenntnis, dass Wein ein Genussmittel ist, vor allem wenn er zusammen mit dem richtigen Essen und in der richtigen Tischrunde getrunken wird, brachten italienische Emigranten mit nach Kalifornien, aber auch in viele andere Weinbauregionen. Allein zwischen 1876 und 1915 verliessen mehr als 14 Millionen Italiener ihre Heimat. Unter den zehn Ländern, in die sie am häufigsten auswanderten, befinden sich mit Argentinien, Brasilien, USA, Uruguay, Australien und Chile nicht weniger als sechs «Neue Welt»-Länder, die sich in den letzten 150 Jahren mit ihren Weinen international etabliert haben. Es ist klar, dass zwischen dieser italienischen Auswanderungs-Welle und dem Aufschwung des Weinbaus in den betreffenden Ländern ein direkter Zusammenhang besteht. Zwar tauchen in der Weinbaugeschichte oft Pioniere aus anderen Nationen auf. In Kalifornien soll es nach den spanischstämmigen Franziskanermönchen vor allem der aus Ungarn stammende Visionär, Städtebauer und Abenteurer Agoston Haraszthy (1812 bis 1869) gewesen sein, der mit der Einfuhr europäischer Reben dem Weinbau entscheidende Impulse gab. In Australien wird dem Schotten James Busby (1802 bis 1871) eine ähnliche Rolle zugeschrieben.

Doch letztlich war es die italienische Diaspora, welche in all diesen Ländern nicht nur eine signifikante Nachfrage nach Wein schuf, sondern auch über die nötigen Kenntnisse verfügte, um diese Nachfrage zu befriedigen. Kurioserweise wird der steigende Weinkonsum in den USA oft mit dem sogenannten «French Pardox» in Verbindung gebracht. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Menschen, die regelmässig Wein, Olivenöl, Gemüse und Fisch zu sich nehmen, weniger an Herzproblemen leiden als andere. Zwar wird das Phänomen in den USA heute nun häufiger als «The Mediterranean Lifestyle» bezeichnet, doch eigentlich wäre der Ausdruck «The Italian Paradox» weitaus treffender.

Lambrusco in Down Under

Die Geschichte von Serafino (Steve) Maglieri steht für das bis heute letzte Kapitel der italienischen Auswanderung. 1958 emigrierten seine Eltern von ihrem Bauernhof in den Abruzzen in die Region von Adelaide in Südaustralien und liessen ihren Sohn in der Obhut der Grosseltern zurück. 1964, im Alter von 17 Jahren, schiffte sich Steve Maglieri auf der SS Roma ein und begab sich alleine auf die 28-tägige Fahrt nach Australien. Es fällt ihm heute noch schwer, all das zu beschreiben, was ihm damals auf dieser langen, einsamen Reise so alles durch den Kopf ging. Vor allem auch, weil er sich kurz vor der Abreise unsterblich in ein Mädchen aus seinem Dorf verliebt hatte. Doch es sollte alles viel besser werden, als er es sich damals in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Das Mädchen folgte ihm einige Zeit später nach und wurde seine Frau. Seine Familie bewirtschaftete zunehmend grössere Rebflächen im McLaren Vale. Und ab den 80er Jahren entwickelte Steve Maglieri das Familienunternehmen zu einer führenden Kellerei im McLaren Vale. Von ihrem Australien Lambrusco Amabile (der allerdings nicht aus Lambrusco-Trauben hergestellt wurde und deshalb heute nicht mehr unter diesem Namen verkauft werden darf) produzierten sie in den besten Jahren fast vier Millionen Flaschen.

1999 verkaufte er sein Unternehmen zwar an die Beringer Blass-Gruppe. Doch schon ein Jahre später gründete er Serafino Wines, inklusive eines dazugehörenden italienischen Restaurants. Natürlich füllt er nicht nur Shiraz ab, sondern auch Fiano, Sangiovese, Nebbiolo, Montepulciano und Sangiovese. Und im Sommer trinken seine Gäste auf der Terrasse seines Restaurants, vor allem aber im Lokal des regionalen Bocciaclubs, noch immer jenen eiskalten, roten Schaumwein, auch wenn er heute nicht mehr Lambrusco heisst, sondern La Brusco. Vor allem aber lebt die Maglieri-Familie in einem Paradies, das mindestens so italienisch anmutet wie einst die heimatlichen Abruzzen. Die Nachbarn heissen Scarpantoni, Patritti oder Di Fabio und produzieren ebenfalls Wein. Und natürlich auch Olivenöl. In den nahen Farmermärkten und Delikatessengeschäften bieten andere italienischstämmige Familien erstklassige Teigwaren, Tomatensugos, Käse und Wurstwaren an.

Für die Bewohner der nahen Millionenstadt Adelaide ist das McLaren Vale das beliebteste Ausflugsziel. Es geht hier einfach lockerer zu als im Barossa Valley oder in dem Eden Valley, die von englischen und deutschen Auswanderern besiedelt worden sind. Ja, das McLaren Vale ist ein höchst beschauliches Little Italy im südlichen Pazifik. Und hat mit dem Vale dos Vinhedos im südlichen Brasilien und dem Sonoma County in Kalifornien etwas höchst Sympathisches gemeinsam: Die schönsten Weinregionen der Neuen Welt sind jene, wo der italienische Einfluss am stärksten spürbar ist.

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