Loire

Auf nach Nantes

 

Text: Barbara Schroeder, Fotos: Rolf Bichsel

Nantes ist eine Reise wert. Die sechstgrösste Agglomeration Frankreichs und moderne Kulturstadt an der Loire, Tor zum Atlantik und Fenster zum französischen Westen, liegt mitten in einer lauschigen Umgebung von Flüssen, Seen und Meer, von Hängen, Wäldern und Hainen, von pittoresken Dörfern, Mühlen und Schlössern. Selbst an Wein fehlt es nicht. Hier wächst der wohlschmeckende Muscadet.

 

Ein alter Traum ging in Erfüllung: Ich trat ins Kloster ein. Da gab es gleich etwas zu essen. Ich habe immer Hunger, selbst wenn ich mich aus dem weltlichen Leben verabschiede, und sei es auch nur für eine Nacht. Statt fettem Karpfen aus dem Klosterteich kam das auf den Tisch, was mein schweizstämmiger Begleiter, der mich hier schnöde abgestellt hatte, um zu anderen Abenteuern aufzubrechen, als «Chräbsfüdeli» bezeichnet. Ich weiss nicht, ob er mich damit aufziehen wollte: Als ich bei nächster Gelegenheit mit diesem frisch erworbenen Schweizer Ausdruck prahlte, brach mein Gegenüber in Lachkrämpfe aus. Irgendwann lasse ich mir dann schon noch erklären, was das Wort bedeutet. Doch vorerst halte ich mich wohl besser an den deutschen Ausdruck Garnelen, den ich wenigstens akzentfrei aussprechen kann. Dieselben sassen nun völlig nackt auf einem weichen Bett von Feldsalat, eine Spezialität aus der Gegend, wie der herzliche junge Mann, weder Eunuch noch Mönch, sondern handfester Sommelier in Lackschuhen, schwarzer Weste und weissem Hemd freudestrahlend erklärte.

Die mit Verve vorgetragene Litanei rund um die Weinkarte kürzte ich mit dem so unüberlegten wie burschikosen Einwurf ab: «Merci, amenez moi une bouteille de Muscadet» (Danke, bringen Sie mir eine Flasche Muscadet). «Bien, Madame», kam als Antwort deutlich frostiger, und ich weiss bis heute nicht, warum ich wiedermal ins Fettnäpfchen getreten bin. Weil ich keinen Blick auf die Weinkarte geworfen habe? Weil ich einen einfachen Muscadet bestellte und nicht einen Vouvray, Sancerre oder Savennières? Oder weil ich einfach Muscadet hauchte, so wie man Perrier sagt oder Toblerone, statt «un Muscadet sur lie de Sèvre et Maine du Cru Clisson»? Ich merkte zum ersten, aber nicht zum letzten Mal auf meiner Rundreise durch das Pays Nantais, dass Muscadet ein Reizwort ist, das man nicht einfach so unüberlegt in den Mund nehmen darf, im Positiven wie im Negativen.

Nach der Fortsetzung meines Mahls mit Nanteser Ente und Crème Caramel und der trotzig geleerten Flasche Muscadet AOC Côtes de Grandlieu sur lie 2012 schlief ich herrlich im Klosterbett. Ich wurde erst wach, als die ersten Sonnenstrahlen meine Nase kitzelten und draussen im Park die Vögel pfiffen. Ich fühlte mich wie Aphrodite in Frankreich: hungrig und zu allen Schandtaten bereit. Das ominöse Kloster war natürlich längst keines mehr, sondern das Klassehotel «Abbaye de Villeneuve» in Les Sorinières (www.abbayedevilleneuve.com). Es habe sich spezialisiert, so erklärte man mir beim Frühstück, auf Wochenenden für Verliebte und Gäste aus aller Welt, die die Region von Nantes bereisen wollten, wo es hier doch so viel zu sehen und zu erleben gäbe: die Stadt selber, pulsierend von Kultur und Leben, die Flüsse und Seen und auch das Naturschutzgebiet des Sees von Grandlieu, Clisson, das kleine Venedig an der Sèvre, die lauschigen Flüsse Sèvre Nantaise, Maine, die stolze Loire selber mit ihren Inseln und Ufern bis hin zur Atlantikmündung, der legendären Schiffswerft Saint-Nazaire... «... und den Muscadet!», warf ich ein – und erntete einmal mehr betretenes Schweigen. «Ja, ja, der Muscadet», kam als zögernde Antwort. «Natürlich, der Muscadet.»

Okay, hier muss ich etwas einfügen, was ich eingangs vergessen habe. Ich liebe ihn heiss, den kühlen Muscadet, und seinen kleinen Bruder, den Gros Plant. Gleich noch einmal: Ich liebe ihn heiss, den kühlen Muscadet. Egal ob «sur lie» (auf dem Hefesatz) ausgebaut oder nicht, egal ob mit Terroir- und Cru-BH versehen oder oben ohne, und das selbst im keuschen Exkloster für romantische Liebespaare jeden Alters. Für mich ist Muscadet seit 20 Jahren das exakte weisse Gegenstück zum Beaujolais, den ich wie jenen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit konsumiere, das heisst immer dann, wenn Wein nicht Arbeit bedeutet, sondern Vergnügen. Muscadet – das ist der Weisswein der Weine. Der Wein, der schmeckt und ist wie ofenfrisches Brot mit Butter: eine Leckerei, die nie langweilig wird. Ein Genuss, den man sich keinen Tag versagen sollte. Die Spitze des Eisbergs namens Nantes, das Auge im Zyklon der Region. Die Einheimischen sehen das seltsamerweise anders.

Von Grau nach Blau

Nach Nantes hat es mich bereits mehrmals verschlagen in meinem Leben: zu einem verlängerten Städtewochenende, zum Verschnaufen im Grünblau von Flüssen und Seen auf einsamen Strandwegen, zum Besuch von Kulturdenkmälern, Ausstellungen und Museen. Und jedes Mal hat mich die gleiche besondere Stimmung erfasst, die ich als Kind immer dann erlebte, wenn mich meine Eltern aus dem grauen Kleve am Niederrhein mit ins sonnige Frankreich nahmen. Dorthin, wo der Kaffee so ganz anders roch als zu Hause in der Küche, wo es Erdbeersirup gab und frische Baguette zum Frühstück und laue Butter, wo die Leute herzlich waren und mich auf den Arm nahmen. In Bordeaux, wo ich seit über 30 Jahren lebe, ging und geht mir das nie so (man nimmt mich bestenfalls im übertragenen Sinn auf den Arm). Wohl aber in Anjou, Tours, Saumur, Chinonoder eben hier in Nantes. Erst hier findet Frankreich wirklich statt und ist das Frankreich meiner Kindheit: mild, pastellen, grün und blau, mit Wiesen, Äckern, Flüssen, Seen, mit Dorfbistros und zahllosen Bäckereien, wo man Rosinenbrotschnecken (Pain au raisin) und Schokoladenbrötchen kaufen kann

Vom Klosterhotel, das ich mit einigem Bedauern verliess, bis zum See von Grandlieu und zu seiner Muscadet-Zone war es nur ein Katzensprung. Theoretisch, denn erst einmal verirrte ich mich in den adrett und schnurgerade gezogenen Strässchen der zahllosen Reihenhausvorortsiedlungen, die hier in den letzten 20 Jahren aus dem Boden geschossen sind. Hat man die einmal hinter sich gelassen, wähnt man sich allerdings in grösster Einsamkeit am Ende der Welt. Einen Blick auf den ominösen See zu erhaschen ist zwar fast ein Ding der Unmöglichkeit, denn man weiss nie genau, wo der gerade seine Ufer aufgeschlagen hat. Der Lac de Grandlieu ist ein See in Bewegung, einmal 35, dann wieder 65 Quadratkilometer gross. Man kann ihn höchstens ab und zu erahnen, versteckt hinter Schilfrohr und Weiden und undurchdringlichen Hecken.

Schön sind sie eigentlich nicht, die Weingärten dieser Unterzone mit den knorrigen, sich elegant hochringenden, wie geschnitzt wirkenden Rebstöcken, erst einmal flach und weitläufig zwischen Wäldern und Hainen gelegen, etwa wie die des Médoc oder die Kartoffelfelder in meiner alten Heimat am Niederrhein. Die landschaftlich eindrücklichsten Muscadet-Lagen sind dann auch nicht hier zu finden, sondern in den Coteaux de Loirebei Ancenis, die mich an den Rhein erinnern und wo die Rebe an den sonnigen Hängen entlang der Loire wächst.

Um Nantes sind Weingüter – von Ausnahmen wie Château du Cleray mal abgesehen – meist stattliche Höfe. Bei Ancenis liegen die ersten Schlösser der Loire. Etwa Château Clermont in Le Cellier, wo heute das Museum des Komikers Louis de Funès untergebracht ist, der hier von 1967 bis zu seinem Tod im Jahr 1983 lebte. In Mauves spannt sich eine der wenigen Brücken über die breit und behäbig dahinfliessende Loire, die es so gar nicht eilig hat, sich mit dem Atlantik zu vermählen. Diesen metallenen Steg, der einer Raupe gleicht, die ihre tausend Füsse ins Flussbett taucht, muss bei seiner Rundreise durch die Weinberge überqueren, wer nicht den Umweg über Thouaré oder Bellevue in Kauf nehmen und im Verkehrssumpf der ausufernden Agglomeration von Nantes mit ihren zahllosen Umgehungsstrassen untergehen will.

Toskana oder Deep Purple?

Niemand wird die Region besuchen, ohne einen Abstecher nach Clisson zu machen, das kleine Venedig an der Sèvre Nantaise, rund 25 Kilometer von Nantes entfernt im Anbaugebiet des Sèvre et Maine gelegen. Das pittoreske Dorf mit seiner stattlichen und gut erhaltenen mittelalterlichen Ritterburg, wie geschaffen für Kinder jeden Alters, besitzt seit kurzem eine eigene Gemeindeappellation und ist für Nantes, was Saint-Émilion für Bordeaux ist. Doch eigentlich gleicht es ja eher Montepulciano. Nicht ohne Grund: Als Clisson während der Wirren der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts einmal mehr in Trümmern lag, wurde es von den Brüdern Pierre und François Cacault, die eine Zeit lang in Italien gelebt hatten, nach toskanischem Vorbild wieder aufgebaut. Dass in Clisson alljährlich ein Festival für «Tanz, Musik, Theater und Fotografie unter italienischem Einfluss» stattfindet,(«Les Italiennes de Clisson»), scheint da nur logisch. Seine Weltoffenheit stellt der Ort mit einer anderen Veranstaltung unter Beweis, dem «Hellfest», einem der grössten Events für Heavy Metal in Europa. Hier spielten schon Black Sabbath, Deep Purple, Iron Maiden, Guns N’ Roses oder Motörhead.

Stolz auf seinen Status als Kulturstadt (mit offiziellem Label «Stadt der Kunst und Geschichte» sowie der Auszeichnung als «Grüne Kapitale Europas» im Jahr 2013) ist auch Nantes. Die historischen und architektonischen Sehenswürdigkeiten und kulturellen Aktivitäten sind so zahlreich, dass ich sie hier gar nicht alle aufführen kann. Der exzellente hundertseitige Führer in deutscher Sprache, den das Tourismusbüro als Download anbietet (http://en.nantes-tourisme.com/willkommen-nantes-3863.html), hilft jedoch problemlos weiter. Am besten wählt man ein zentrales Hotel und erkundet die Stadt zu Fuss. Nicht entgehen lassen sollte man sich das hervorragend gestaltete Museum des Schlosses der Ducs de Bretagne, den botanischen Garten («Jardin des Plantes») und die «Machines del’île»: die riesigen Maschinen, die an die industrielle Vergangenheit von Nantes erinnern, darunter ein überlebensgrosser Elefant, eine stählerne Meerschlange oder eine Riesenameise mit vier Passagieren, die unter den Besuchern für Aufregung sorgt. Sie wirken, als seien sie dem Hirn eines Jules Verne oder Leonardo da Vinci entsprungen, sind aber das Werk von zwei Mechanik-Kreativköpfen, die sich ihre Sporen mit Strassen- und Alternativtheater verdient haben: Pierre Orefice (langjähriger Leiter der verrückten, in Nantes ansässigen Theatertruppe Royal Deluxe) und François Delarozière.

Ebenfalls einen Abstecher wert ist der Kulturparcours entlang der Loire-Mündung (Freilichtmuseum «Estuaire Nantes-Saint-Nazaire» mit 29 Werken bekannter zeitgenössischer Künstler). Und nicht vergessen: Verschnaufen kann man in zahllosen Bistros jeder Couleur – natürlich bei einem Glas erfrischendem Gros Plant oder Muscadet.

vinum+

Weiterlesen?

Dieser Artikel ist exklusiv für
unsere Abonnenten.

Ich bin bereits VINUM-
Abonnent/in

Ich möchte von exklusiven Vorteilen profitieren