TOKAJ

Eine neue Ära für die Tokajer

 Text: Darrel Joseph

 

Noch immer denken die meisten Weinliebhaber beim Stichwort Tokaj nur an eines: an einen Süsswein aus Ungarn. Okay, das ist nicht ganz falsch. Aber eben heute nur noch die halbe Wahrheit. Denn je länger, je häufiger werden im Tokaj auch hervorragende trockene Weissweine und Dank dem Säuregehalt der Furmint-Traube auch erfrischende Schaumweine gekeltert. Die Region, die sich über Jahrhunderte durch Dessertweine definiert hat, überrascht uns im 21. Jahrhundert mit ihrer neuen Vielseitigkeit.

Legenden sind hartnäckig. Und um die Süssweine aus dem Tokaj ranken sich gleich zwei grosse Legenden. Erstens ist hier schon seit 1730, früher als in allen anderen Weinbaugebieten, eine exakte Klassifizierung mit Ersten, Zweiten und Dritten Lagen vorgenommen worden. Zweitens wurde der edelsüsse Tokaji Aszú zur gleichen Zeit wegen seiner Beliebtheit am russischen und französischen Hof als «Wein der Könige und König der Weine» bezeichnet. Kein Wunder, da er doch über eine hochkomplexe Geschmackspalette verfügt, die von honigsüssen Aprikosen, Nektarinen und Zimt bis Ingwer reicht. Da ist seine rauchige Mineralität, welche er der vulkanischen Erde verdankt, und natürlich seine vibrierende Säure, die einen perfekten Ausgleich zu jener generösen Süsse schafft, die von der Botrytis cinerea stammt, jener natürlichen Edelfäule, welche die Traubenbeeren zu Rosinen schrumpfen lässt.

Wie viele andere Weinregionen im Osten so hatte auch das Tokaj stark unter dem kommunistischen Regime gelitten. Die Genossen hatten die Weinproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg für vier Jahrzehnte fest im Griff . Ein auf Masse ausgerichteter, maschineller Weinbau liess in dieser Epoche das einst hochkomplexe Konzept des Terroirs verblassen. Ein Sinnbild für diese Entwicklung war die Tatsache, dass die potenziell besten Parzellen in den hohen, schwer zu erreichenden Lagen aufgegeben wurden, weil es unmöglich war, mit den schweren Maschinen dorthin zu kommen. Der damalige Tokaji Aszú, den die staatliche Weinbaugenossenschaft Borkombinat für die Sowjetunion – den grössten Absatzmarkt jener Zeit – am Fliessband herstellte, schmeckte zu oxidativ und zu banal süss, weil Zucker beigefügt wurde.

Goodbye Sozialismus

Die dringend notwendige Qualitätswende kam mit der Einführung der freien Marktwirtschaft zu Beginn der 1990er Jahre. Viele ausländische Investoren sahen in der Region einen ungeschliffenen Diamanten und kamen ins Tokaj, das rund 250 Kilometer nordöstlich von Budapest an der Grenze zur Slowakei und zur Ukraine liegt. So sind in jener Zeit eine Reihe von Weingütern entstanden, die noch heute zu den renommiertesten der Region zählen. Dazu gehört beispielsweise Disznókő, welches dem französischen Konzern AXA Millésimes gehört, die von verschiedenen Investoren gegründete Royal Tokaji Wine Company, an der auch der britische Weinpapst Hugh Johnson beteiligt ist, und Oremus, im Besitz von Vega Sicilia in Spanien.

Andere, heute bedeutende Kellereien wie Gróf Degenfeld wurden von Familien aufgebaut, deren Vorfahren schon vor der Enteignung durch die Kommunisten Land in der Tokaj-Region besessen hatten. Und dann gibt es noch die lokalen Winzer wie István Szepsy. Diese hatten in der Sozialismusperiode zwar Weine nach den Vorgaben der staatlichen Genossenschaft produziert, kannten aber so gut wie niemand sonst das Potenzial der verschiedenen Lagen. So haben sich die Tokaji-Aszú-Weine in den letzten 20 Jahren erneut unter den grossen Süssweinen der Welt eingereiht und werden in einem Atemzug genannt mit den Beeren- und Trockenbeerenauslesen aus Deutschland und Österreich oder den besten Sauternes aus Bordeaux.

Aber das ist noch längst nicht alles. Das Tokaj ist heute ein Schmelztiegel für neue Ideen und neue Weine. Dazu gehören weisse Tafelweine und Schaumweine von internationalem Format, einige davon aus biologischem oder biodynamischem Anbau. Und auch die Naturweinbewegung hat das Tokaj erreicht. Alteingesessene, fast vergessene Sorten werden wieder neu angepflanzt. Ein Projekt will sogar brachliegende Flächen von rund 5500 Hektar wieder mit Reben bestocken, was die Anbaufläche der Region auf einen Schlag auf fast 11 000 Hektar verdoppeln würde.

Um die Weine aus dem Tokaj zu verstehen, muss zuerst das Aushängeschild der Region betrachtet werden, der edelsüsse Tokaji Aszú. Wie bei allen grossen Gewächsen ist es auch hier zuallererst die Natur, welche die Möglichkeiten eröffnet, Ausserordentliches in die Flaschen zu bringen: die Flüsse Tisza und Bodrog, die sich um die 27 Dörfer und Städte der Region schlängeln, einschliesslich um den Ort Tokaj. Sie unterstützen die Bildung jener herbstlichen, tief hängenden Nebelschwaden, die in den Traubenbeerenden Aszú-Effekt fördern, genauer gesagt das Entstehen von Botrytis cinerea, also der Edelfäule.

Der Furmint ist unangefochten die wichtigste Rebsorte und belegt 60 Prozent aller Weinberge. Dank den hohen Säurewerten ist die weisse Sorte wie geschaffen für die Produktion von süssen, opulent fruchtigen, aber eben doch ausgewogenen Aszú-Weinen. Um den Ausdruck noch zu steigern, wird er häufig mit dem extrem aromatischen Hárslevelű (Lindenblättriger) kombiniert. Zu den anderen regionalen Rebsorten gehören Sárga Muskotály (kleinbeeriger Muskateller) und eine Handvoll alter Sorten wie Kövérszőlő, Zéta und Kabar. Alle Gewächse haben sich bestens an das kontinentale Klima angepasst und auch an die Böden mit ihren variierenden Anteilen von Löss, Ton, Kalk sowie die felsig vulkanischen Unterböden.

Neue Süsswein-Ordnung

Jeder Erzeuger hat seine eigene Version des Tokaji Aszú. Doch einigen Gütern gelingen hier Süssweine mit einer unglaublichen Tiefe und Präzision. Ein solches Gewächs ist etwa der Tokaji Aszú 6 Puttonyos vom Weingut Disznókő Kapi, von dem die Jahrgänge 1999, 2005 und 2011 abgefüllt worden sind. Dieser reinsortige Furmint wird mindestens zweieinhalb Jahre in Eichenfässern ausgebaut und ist ein Beweis für die herausragende Klasse der Kapi-Rebberge, die zu den ersten Lagen gehören, die im 18. Jahrhundert klassifiziert worden sind. Der 2005er beispielsweise besticht mit eleganten Aromen von Aprikosen, Tee und einer Spur Schiesspulver, entwickelt sich saftig und mundfüllend im Gaumen und zeigt – dank den Böden aus Kalk, Ton und vulkanischem Geröll – eine würzige, ja salzig anmutende Note. Nicht nur Frucht und Mineralität bilden in diesem Wein eine bemerkenswerte Harmonie, auch die 165 Gramm Restzucker, die zwölf Volumenprozent Alkohol und die stramme Säure von elf Gramm pro Liter ergeben eine wunderbare strukturelle Ausgewogenheit.

Puttonyos und Fassreifung waren lange Zeit die Schlüsselkomponenten des Tokaji Aszú. Die Anzahl der Puttonyos – benannt nach der traditionellen ungarischen Butte, dem Puttony – gibt den Gehalt von natürlichem Zucker an. 6-Puttonyos-Weine müssen beispielsweise mindestens 150 Gramm Restzucker enthalten. Doch seit kurzem gilt nun ein neues Reglement. Jahrzehntelang lagen die Restzuckerwerte der Tokaji-Aszú-Weine zwischen 3 und 6 Puttonyos. Ab der 2013er Lese müssen alle Aszú-Weine mindestens ein Zuckerniveau von 5 Puttonyos aufweisen, die leichteren Kategorien mit nur 3 oder 4 Puttonyos wurden eliminiert. Aus diesem Grund bezeichnen einige Erzeuger diese Weine nun als Spätlesen. Ebenfalls seit 2013 müssen die Aszú-Weine mindestens 18 Monate in Eichenfässern ausgebaut werden und dürfen erst ab Januar des dritten Jahres nach der Lese verkauft werden. Die Aszú-Weine von vor 2013 mussten mindestens 36 Monate ausgebaut werden, davon mindestens 24 Monate im Eichenfass. Obwohl das immer noch ziemlich kompliziert klingt, sind die neuen Vorschriften wesentlich einfacher zu verstehen als die bisherige Reglementierung. Seit 2014 können die Winzer sogar selber entscheiden, ob sie den Begriff Puttonyos überhaupt noch auf ihrem Etikett verwenden wollen oder nicht.

Der Andante 2013 vom Weingut Gróf Degenfeld in Tarcal gehört zur neuen Generation von Süssweinen ohne klassische Bezeichnung, obwohl er botrytisiert und mit 200 Gramm Restzucker pro Liter ausgestattet ist, aber eben nur sechs Monate in Fässern ausgebaut wurde und aus diesem Grund weder «Aszú» noch «6 Puttonyos» genannt werden darf. Allerdings spielt dies hier überhaupt keine Rolle: Dieser Top-Tokajer fasziniert schon in seinen jungen Jahren mit herrlichen Aromen von Schokomocca, Birne, Quitte und Marzipan.

Fantastisch: Szamorodni Száraz

Neben dem Aszú-Wein gibt es einen völlig anderen Tokajer-Stil, den Szamorodni – der aus Trauben hergestellt wird, die zum Teil frisch und zum Teil botrytisiert sind, und der entweder Édes (süss) oder Száraz (trocken) sein kann. Lange Zeit galten die Szamorodni száraz als aussterbende Spezies. Jetzt aber wird dieser Tokaj-Typ von einigen der besten Produzenten wieder belebt. Warum? Weil der Száraz sich mit einem frischen, eleganten, schmackhaften Manzanilla Sherry messen kann – weil er wie dieser unter einem Hefefilm reift. Samuel Tinon aus dem Dorf Olazsliska, aber auch die Weingüter Barta in Mád und Obzidian in Hercegkút bringen regelmässig vorzügliche Szamorodni-Száraz-Weine in die Flaschen. Tinon, der 1991 aus Frankreich in die Tokajer Weinregion kam – und blieb –, ist ein besonders eifriger Verfechter dieses Stils. «Meine Inspiration kommt aus dem französischen Jura, darum baue ich die Szamorodni viele Jahre lang im Eichenfass aus, was ihnen spürbar mehr Komplexität verleiht», erklärt Tinon. Der 2007er, der fünf Jahre im Fass lag, verbreitet heute einen lieblichen Schmelz mit Noten von Hefe, Brot und Apfelschalen, aber auch einem Anflug von Torf. Vor allem aber hat der Cru eine wunderbare Finesse und Länge.

Furmint ist Weltklasse

Weil die edelsüssen Aszú- und Spätlesen-Gewächse nicht in grossen Mengen hergestellt werden können, und die weltweite Nachfrage nach Süssweinen tendenziell abnimmt, suchen die Erzeuger im trockenen Furmint die Lösung für robuste Verkäufe. Furmint wird von vielen Winzern als dem Riesling ebenbürtig angesehen, mit seiner kecken Säure, seiner reifen Frucht und seiner Lagerfähigkeit – kombiniert mit seiner Fähigkeit, das vielfältige mineralische Terroir der Tokajer Weinregion wiederzugeben. Kein Wunder, dass zunehmend beeindruckende trockene Versionen, sowohl jung als auch gereift, auf den Markt kommen.

Alles deutet darauf hin, dass die Sorte Furmint am Beginn einer grossen Epoche steht. Der Beweis dafür sind Weine wie der frische, junge Furmint Medve 2012 von der Kellerei Sauska. Er zeigt ein mineralisches Zitronen-Limetten-Bouquet, dazu einen Hauch von Pfirsich und Physalis. Auch im Gaumen zündet er ein beeindruckendes Geschmacksfeuerwerk, wir entdecken Birne, Brot, Limette, auch Kräuter und Gewürze, bis hin zu einer salzigen Mineralität. Ein gehaltvoller Wein mit 14 Volumenprozent Alkohol.

Bei den reiferen Weinen unterstreicht der fassgereifte 2006er Furmint des Weinguts Dobogó das Entwicklungspotenzial der Rebsorte. Er duftet nach reifen Quitten und Pfirsichen, kombiniert mit Flint und Schiesspulver. Am Gaumen zeigt dieses Gewächs noch mehr gelbe Früchte, auch reife Äpfel und warme butterige Birnen – ein wirklich sehr eleganter Wein mit 13 Volumenprozent Alkohol.

Einige Erzeuger, zum Beispiel Zoltán Demeter, verwenden den Furmint auch gerne zur Herstellung von Schaumweinen. Sein Peszgo 2011 gibt sich trocken, frisch, elegant, zeigt aber auch Ecken und Kanten. Um die Klasse und die Vielfalt der heutigen Tokajer Weine zu beschreiben, wäre ein Buch von fast enzyklopädischen Ausmassen nötig.

Doch trotz aller Innovation und Veränderungen gilt noch immer der Tokaji Eszencia als das Aushängeschild der Region. Er wird aus purem Vorlaufmost botrytisierter Trauben gewonnen. Jeder Tropfen verheisst monumentale Opulenz, mit Restzuckerwerten von bis zu 700 Gramm pro Liter – während der Alkoholgehalt nur rund drei Prozent beträgt. Der Tokaji Eszencia 2005 der Weinkellerei Oremus ist ein perfektes Beispiel: Die 550 Gramm Restzucker werden wunderbar durch 17 Gramm Säure pro Liter ausbalanciert. Wer bringt sowas fertig? Nur der Furmint, kein anderer!

Tokaj 2016 - die Wegbereiter der neuen Ära

 

ISTVÁN SZEPSY

Der Papst des modernen Tokajers. Dieser terroirverrückte, risikofreudige und weltberühmte Guru hat nicht nur zum tieferen Verständnis der einzigartigen Tokajer Weinberge beigetragen, sondern auch die modernen, frischeren und präziseren Weinstile geprägt.

www.szepsy.hu

 

GRÓF DEGENFELD

Das seit 20 Jahren bestehende biologisch geführte Weingut der Gräfin Marie Degenfeld und ihres Gatten, Dr. Thomas Lindner, verfügt über 35 Hektar Weinberge rund um die Stadt Tarcál. Der feinherbe Sárga Muskotály und der süsse Furmint Andante sind die Highlights in der Palette der trockenen und Aszú-Weine.

www.grofdegenfeld.com

 

DISZNÓKŐ

Disznókő ist seit 1992 in französischer Hand und produziert auf seinen 104 Hektar eine ausgezeichnete Palette von Asźu-Weinen mit 5 und 6 Puttonyos. Zu den Spezialitäten gehören der süsse Szamorodni 1413 und der wunderbare, hochklassige Kapi Vineyard Aszú 6 Puttonyos. Phantastisches Weingut.

www.disznoko.hu

 

OREMUS

Der spanische Weinproduzent Vega Sicilia gründete Oremus im Jahr 1993. Direktor Andraś Bacsó zeigt eine reichhaltige Palette von Weinen, vom trockenen Mandolas Furmint bis zum seltenen Tokaji Eszencia, der aus dem reinen Vorlaufmost botrytisierter Trauben hergestellt wird.

www.tokajoremus.com

 

ROYAL TOKAJI

Elegante 5- und 6-Puttonyos-Aszú-Weine aus Toplagen – darunter Mézes Mály, Szent Tamás und Nyulászó. Sie sind die Aushängeschilder von Royal Tokaji. Aber es gibt auch The Oddity, einen neuen trockenen Furmint mit trendigem Namen, der eher die Liebhaber trockener Weissweine ansprechen soll.

www.royal-tokaji.com

 

DIE NEWCOMER

Folgende drei Nachwuchserzeuger verblüffen mit gutem Tokajer, quer durch alle Stilrichtungen:

István Balassa | www.en.balassabor.hu

Attila Homonna | www.homonna.com

Árpád Hegy Pince (Ádám Varkoly) | Tel.: +36 (0)47 36 33 06

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