Gialdi Vini, Chiodi Ascona, Angelo Delea – Sopraceneri, Tessin

Tessiner Dreifaltigkeit

Text: Benjamin Herzog

Wer Tessin hört, denkt «Merlot del Ticino» und hat eine fixe Vorstellung im Kopf. Doch wir tun den Winzern unrecht, wenn wir ihr ganzes Schaffen auf nur ein Geschmacksprofil reduzieren. Produzenten wie Gialdi Vini, Chiodi Ascona und Angelo Delea sorgen für Vielfalt im Süden des Gotthardpasses.

 

Der Schweizer Kanton Tessin lässt sich räumlich grob in zwei Teile gliedern: das Sopraceneri im Norden des Berges Ceneri und das Sottoceneri im Süden. Im Norden gibt es viele grössere zusammenhängende Rebflächen, jenseits des Ceneri zeigt sich der Weinbau als Flickwerk aus vielen kleinen Weinbergen.

Wir sitzen in der «Fattoria L’Amorosa», einem Agriturismo mit angeschlossenem Restaurant, nahe Bellinzona. Das Lokal gehört Angelo Delea, einem der umtriebigsten Weinunternehmer des Tessins. Die «Fattoria L’Amorosa» liegt –typisch Sopraceneri – mitten in einer vier Hektar grossen Rebparzelle. Als Vorspeise steht heute eine Kaninchenterrine auf dem Menüplan. Natürlich könnte man dazu einen Merlot trinken, schliesslich wird die Sorte auf 80 Prozent der Gesamtrebfläche angebaut, doch wir wählen heute den Sottosopra, ein Schaumwein aus Pinot Noir als Begleitung. Rund um die «Fattoria L’Amorosa» findet man neben Merlot nämlich auch Cabernet Franc und Cabernet Sauvignon sowie im weiteren Umkreis Chardonnay, Sauvignon Blanc, Pinot Noir, die autochthone Bondola oder Stöcke der immer seltener kultivierten Uva Americana.

Wir stehen kurz vor der Ernte, die Stimmung unter den Winzern ist angespannt. Wegen der hohen Niederschlagsmengen und des damit verbundenen Krankheitspotenzials ist das nicht ungewöhnlich, doch die Kirschessigfliege, die dieses Jahr das erste Mal im grossen Stil auftauchte, sorgt für gehörige Unsicherheit. Fredy de Martin ist Önologe auf den Weingütern von Gialdi (Sopraceneri) und Guido Brivio (Sottoceneri). Er ist verhältnismässig entspannt und muss jetzt «nur» dafür sorgen, dass seine Winzer nicht die Nerven verlieren und zu früh mit der Ernte beginnen. Weingutsbesitzer Feliciano Gialdi hat nämlich keine eigenen Rebberge, sondern bezieht die Trauben von rund 300 Winzern. Das hat Tradition im Tessin, fast jede Familie hat irgendwo einen Fleck mit Reben, keltert aber keinen eigenen Wein. Für den Önologen macht das die Arbeit während der Ernte zwar kompliziert, doch dafür kann er auf Trauben unterschiedlichster Terroirs zurückgreifen. Die Böden im Tessin sind vielfältig. Im Grossen und Ganzen ist das Sopraceneri vom Granit der Alpen geprägt, hier findet man wenig Kalk, dafür aber Sand, die Böden sind relativ sauer, leicht und durchlässig. Im Süden hingegen sind die Böden stark kalkhaltig und bestehen aus tonhaltiger Erde.

Tessiner Extra Brut

Eine der vielen Möglichkeiten, die das Nordtessin und seine Terroirs bieten, packten Fredy de Martin und Feliciano Gialdi im Jahr 2006 an. Sie begannen damals mit der klassischen Schaumweinherstellung zu experimentieren. Gekeltert aus 100 Prozent Pinot Noir aus dem Sopraceneri entstand der erste Jahrgang des Sottosopra. Dieser Schaumwein wird ohne die sogenannte «liqueur d’expédition», die Versanddosage, ausgeliefert. Es handelt sich dabei also um einen echten Extra Brut oder Zéro Dosage aus dem Norden des Tessin. Schon bei der Lancierung im Jahr 2010 schlug der Wein wie eine Bombe ein und wurde von VINUM als einer der besten Schaumweine der Schweiz bewertet. Vom Sottosopra produziert Gialdinur knapp 3000 Flaschen, eine Herzensangelegenheit. «Bei dieser kleinen Menge kann ich doch etwas tun, was in erster Linie mir und keiner bestimmten Klientel gefällt», sagt Önologe de Martin lachend und wissend, dass es immer mehr Liebhaber trockener Schaumweine gibt. Die Zugabe der Versanddosage sei zudem ein kompliziertes Unterfangen, das viel Erfahrung brauche. Fredy de Martin und Feliciano Gialdi bemerkten schon vor Jahren, dass man etwas Gutes mit weiteren Eingriffen sicher nicht besser machen kann – eine Maxime, nach der die beiden konsequent handeln.

Merlot 2.0

Andrea Arnaboldi vom Weingut Chiodi beliefert auf den ersten Blick eine traditionelle Klientel. Zu 50 Prozent ist der Betrieb als Handelsgesellschaft tätig. Der Schwerpunkt liegt auf Grands Crus aus dem Bordeaux, die andere Hälfte des Geschäfts macht die Eigenproduktion aus, und die soll in Zukunft weiterwachsen. Die Trauben für die hauseigenen Chiodi-Weine stammen alle aus der Region Pedemonte, einer Unterregion des Sopraceneri, nördlich des Lago Maggiore am Fluss Melezza gelegen. Das Mikroklima mit seinen steten Winden und die besonders sauren, durchlässigen Böden eignen sich perfekt für die Herstellung von Tessiner Spitzen-Merlot. Dieses Klima sorgt dann auch dafür, dass Trauben von besonders ausgewogener Säure- und Geschmacksstruktur gelesen werden können. Ultima Goccia – eine Merlot-Spitzenselektion des Hauses – heisst auf Deutsch «letzter Tropfen» und steht für das selbsternannte Ziel, ein Gewächs zu kreieren, das man gerne in grossen Schlucken trinkt – bis zum letzten Tropfen also.

Weine wie den Ultima Goccia, welche die Balance zwischen Trinkigkeit und Anspruch perfekt halten, findet man heute im Tessin selten. Neben dem Terroir des Sopraceneri sind für Andrea Arnaboldi Vinifikation und Ausbau ausschlaggebend. Er setzt auf eine lange Maischegärung und baut einen Teil des Weines in 500-Liter-Fässern aus statt nur in kleinen Barriques. Die Getränkekarte der «Fattoria L’Amorosa» ist riesig. Das liegt klar am Besitzer Angelo Delea. Er gehört zu den Weinproduzenten, aus denen neue Ideen nur so sprudeln. Seine Söhne David und Cesare arbeiten heute im Betrieb mit und versuchen den innovativen Vater so gut es geht in Schach zuhalten. Obwohl Angelo Delea eine breite Pallette an Weinen anbietet, schlägt sein Herz seit dem Beginn seiner Karriere für den Merlot. Mit dem Carato hat er ein echtes Tessiner Monument geschaffen, das nicht nur zeigt, welche Qualität im Norden des Tessin steckt, sondern auch, mit welcher Lagerfähigkeit diese Weine ausgestattet sind. Damit aber nicht genug: Der Tausendsassa Delea handelt auch mit zahlreichen Gewächsen aus dem In- und Ausland, er besitzt eine Schnapsbrennerei, eine Acetaia für die Balsamicoproduktion und erfolgreiche Restaurants. Neben dem Agriturismo und dem Restaurant «L’Amorosa» führt der umtriebige Weinunternehmer das Ristorante «Bottega del Vino» in Locarno.

Die drei hier präsentierten Weine zeigen exemplarisch, welche Weinvielfalt sich südlich des Gotthards eröffnet. Vom Extra Brut bis zum strukturstarken Merlot ist alles drin.

Weine des Winzers

 

Gialdi Vini SA Sottosopra 2012

Pinot Noir | 2014 bis 2019

Vielschichtig mit Aromen von roten und schwarzen Beeren, Kräutern und Jasminblüte. Zunächst geschmeidig mit feiner, gut haftender Perlage. In Erwartung der darauffolgenden Süsse überrascht einen die saftige Säure, die den Wein zu einem perfekten Speisebegleiter macht.

Mariage: Fisch, Geflügel, Kalbfleisch

 

Chiodi Ascona SA Ultima Goccia 2012

Merlot | 2014 bis 2018

Moderner Rotwein mit glasklarer Aromatik von perfekten reifen roten Früchten und Gewürzen. Wirkt zugänglich, hat aber doch Anspruch. Am Gaumen harmonisch weich mit reifen Tanninen und eleganter stützender Säure. Trinkig mit guter aromatischer Länge.

Mariage: Fleischgerichte, Risotto

 

Vini & Distillati Angelo Delea SA Carato Riserva 2011

Merlot | 2014 bis 2025

Einnehmende Aromatik mit Cassis, Brombeeren, Tabak und vegetalen Komponenten wie Eukalyptus. Am Gaumen voll und kräftig, aber dank der frischen Säure durchaus elegant und bekömmlich. Sehr ausgewogen, mit langem Finale. Ein Langstreckenläufer.

Mariage: Geschmortes oder gegrilltes Fleisch