Ein Leben für die Natur

Winzerlegende Alfred Tesseron, Pauillac

Text: Barbara Schroeder, Fotos: Rolf Bichsel

  • Draussen anzutreffen bei jedem Wind und Wetter: Alfred Tesseron beim täglichen Spaziergang durch den Rebberg.

In knapp 20 Jahren ist Pontet-Canet, das Cru Classé in Pauillac im Haut-Médoc, vom Saulus zum Paulus geworden, hat Legendenstatus erworben und produziert heute einen der eigenständigsten Weine der Welt. Motor dieser Entwicklung ist Besitzer Alfred Tesseron, der seit 1977 auf PontetCanet arbeitet und das Gut seit 1994 leitet.

«Wenn dir Mouton zu teuer ist, schau dir Pontet-Canet an, das gleich danebenliegt», bedeutete mir Ende der 1980er Jahre ein Bordelaiser Weinhändler, der es wissen musste. Bereits bei meinem ersten Streifzug durch die Reben wurde mir klar, dass dieses ausgedehnte Gut von 81 Hektar über ausgezeichnete Böden verfügt. Doch die Weine begeisterten mich gar nicht. Heute hat sich das krass geändert. Seit über zehn Jahren gehört Pontet-Canet (nicht nur für mich) zu den besten Weinen der Welt.
Pontet-Canet war eines der ersten klassierten Weingüter, das die Zertifizierung für biologischen und biodynamischen Weinbau schaffte. Es bewies auf eindrückliche Art und Weise, dass naturnaher Weinbau selbst auf einem ausgedehnten Weingut möglich ist, und wurde zum Modellfall für konsequent betriebenen ganzheitlichen Weinbau. Das ist umso bemerkenswerter, als hinter dem waghalsigen Unternehmen keine Institution steht, sondern ein Mann: Alfred Tesseron. Doch der spricht nicht gerne über sich selbst. Dazu befragt, was ihn zu diesem Abenteuer veranlasste, zuckt er erst die Schultern, lächelt still in sich hinein, blickt mir in die Augen und sagt mit ruhiger Stimme: «Ganz sicher kein Schreibtischkonzept, sondern ein gemächlicher, langjähriger Prozess, eine organische und irgendwie logische Entwicklung. Dass wir das Glück haben, über ein einmaliges Terroir zu verfügen, war uns immer bewusst. Terroir lässt sich von Umwelt und damit von Natur nicht trennen. Reben sind Teil eines Ökosystems. Sie tragen die Trauben, die wir keltern. Wer einem Terroir gerecht werden will, muss damit arbeiten und nicht dagegen.» Inspiration und Mittel zu dieser Entwicklung lieferte massgeblich der Agraringenieur und Önologe Jean-Michel Comme, technischer Direktor von 1989 bis 2019. Der Zweifler und Tüftler und der aktive Draufgänger Tesseron wurden zum idealen Team. «Wir merkten rasch, dass die Weinbereitung grösstenteils Rezepten folgt und man diese nur in engem Rahmen anpassen kann. Es mag sich banal anhören, doch die eigentliche Weinqualität beruht auf der Qualität der Trauben. Es musste uns folglich darum gehen, diese zu optimieren.» 

Alles beginnt im Rebberg

In den 1990er Jahren führten im Médoc stolze Besitzer ihre Besucher durch neue durchgestylte Weinkathedralen, oft von bekannten Architekten erbaut. Auf Pontet-Canet fehlten die Mittel für einen spektakulären Neubau. Der Gärkeller mit seinen Holzstanden stammte aus dem 19. Jahrhundert. Doch der eindrückliche Rebgarten war hier nicht zerstückelt, sondern eine grüne Oase an einem Stück. Alfred führte seine Besucher folglich durch die Reben - im gemütlich und leise tuckernden Elektrofahrzeug. Bereits da keimte die Idee, die Natur zu schonen, deren Früchte man zu Wein verarbeitete. Jean-Michel Comme seinerseits verbesserte schrittweise die Arbeit im Rebberg, vorerst mit den damals gängigen Mitteln wie der grünen Ernte. «Mein Vater, mit dem ich seit 1977 zusammenarbeitete, hat die Krisenzeit in Bordeaux durchgemacht. Für ihn galt noch die alte Bauernregel: je reicher die Ernte, desto besser. Als wir zum ersten Mal grüne Trauben wegschnitten, sah er schon den Untergang nahen. Das ist verständlich, zeigt aber auch, wie behutsam wir vorgehen mussten. Wir waren nicht reich und konnten uns keine Risiken leisten.»

«Ich hatte Glück: Ich konnte verwirklichen, woran ich glaubte.»

Der nächste Schritt bestand darin, eine unterirdische Station zur Aufbereitung von Abwasser zu bauen. Pontet-Canet sollte sauber produzieren. Alfred Tesseron interessierte sich für naturnahen Anbau, doch er glaubte nicht so recht an die Wirksamkeit der Bio-Produkte. Ab 2002 liess er chemische Unkrautvertilger vom Gut verbannen. «Wir hatten verlernt, die Böden mechanisch zu bestellen, mussten uns diese Praktik schrittweise aneignen und beobachteten gespannt das Resultat. Die Pflanze rückte mehr und mehr in den Mittelpunkt.» 2004 schlug Jean-Michel Comme vor, einen Versuch mit biologischem und biodynamischem Anbau zu starten. Alfred dachte an zwei, drei Hektar, doch Jean-Michel weitete den Versuch auf das stolze Stück aus, auf dem das Gros der Merlot-Trauben von Pontet-Canet wuchs. Die Gesamtrebfläche des Châteaus ist zu knapp zwei Drittel mit Cabernet Sauvignon bestockt ist. Das Resultat war verblüffend. «Ich erkannte unsere Merlots nicht wieder. Ich war so überzeugt vom Resultat, dass ich mir sagte: Warum noch lang weitere Versuche anstellen? Entweder wissen wir, was wir wollen, oder wir wissen es nicht!

Ab 2005 sattelte Pontet-Canet daher voll und ganz auf naturnahen Anbau um, auch wenn das aus heutiger Sicht ganz schön leichtsinnig anmuten mag. Zwei Jahre lang ging die Sache gut, und die beiden Macher begannen bereits von der Zertifizierung zu träumen. Doch 2007 machte der Falsche Mehltau Druck. Die Angst, die ganze Ernte zu verlieren, sorgte für schlaflose Nächte. Alfred entschloss sich schweren Herzens dafür, konventionelle Spritzmittel einzusetzen. Doch er gab nicht auf. Ab 2008 arbeitete Pontet-Canet wieder konsequent nach biodynamischen Richtlinien und erhielt die Zertifikation 2010. Selbst im klimatisch schwierigen Jahr 2018 krebste Alfred Tesseron nicht zurück und akzeptierte den Verlust von zwei Dritteln der Ernte. «Wir haben an Gewissheit gewonnen und nahmen das in Kauf. Die Ernte 2018 ist bescheiden, aber von hervorragender Qualität.

Dass er den einmal eingeschlagenen Weg konsequent weitergehen und nicht mehr davon abweichen will, hat Alfred Tesseron in den letzten zehn Jahren mehr als einmal bewiesen. Die Hälfte der Rebgärten wird mittlerweile schonend mit Pferden bestellt, mit dem Ziel, mittelfristig nur mehr mit Pferdestärke zu arbeiten. Pontet-Canet besitzt neue geräumige Stallungen, Ateliers für hauseigene Handwerker, eine geothermische Heiz- beziehungsweise Kühlanlage, einen neuen Niederstromkeller mit kleinen Tanks von nur 40 Hektoliter. Entbeert wird seit drei Jahren stromlos und von Hand. Ziel ist eine völlig autarke Energieversorgung. Nebenbei hat sich Alfred Tesseron auch eine eigene kleine, aber feine Cognacmarke ins Leben gerufen und in Kalifornien das ehemalige Weingut von Robin Williams erworben. Das hört sich alles ziemlich revolutionär an. «Ich glaube nicht an Revolution. Für mich ist das eine nötige und logische Evolution. Wir, das heisst meine beiden Kindern Justine, die bereits aktiv auf Pontet-Canet arbeitet, und Noé, der ebenfalls hier einsteigen wird, meine zwei Nichten, Melanie und Philippine, und ich, bilden ein Familienunternehmen. Wir sind niemandem Rechenschaft schuldig. Was zählt, ist das Ergebnis, das Produkt im Glas.» Und das ist wirklich einmalig, so einmalig, dass es sich jeder Notierung entzieht: technisch auf höchstem Stand (was immer das auch heissen mag), mit einmaliger aromatischer Komplexität, von grösster Tiefe und Rasse, geradezu burgundischer Fruchtigkeit und Frische, mit enormem Reifepotenzial und doch von so besonderem Schliff, dass ein Pontet Canet schon nach acht, zehn Jahren entkorkt werden kann. Zufrieden damit, es den Spöttern von einst gezeigt zu haben? Stolz auf das Erreichte? «Jeder soll das tun, woran er glaubt. Ich hasse Prediger und Besserwisser. Ich will keine Lektionen erteilen. Ich will Wein machen, mit dem grösstmöglichen Respekt. Nur wer nichts tut, ist keiner Kritik ausgesetzt. Als Unternehmer ist man immer allein. Manchmal trifft man die richtige Entscheidung – die falschen Entscheidungen vergisst man. Ich habe das Glück, das tun zu können, was mir gefällt. Ich habe Kinder, die meine Ideen teilen. Das ist schon mal nicht so übel.»

 

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