Rundum glücklich

Bordeaux 2015

Primeurverkostungen ergeben nur Sinn, wenn man die Fassproben knapp zwei Jahre später mit den fertig abgefüllten Weinen vergleichen kann. Wir tun dies Jahr für Jahr und präsentieren Ihnen auf den folgenden Seiten unsere Eindrücke der Nachverkostungen vor Ort oder in unserem Büro. Alle Weine, getrennt nach Rotwein, Weisswein und Sauternes, werden praktisch in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt.

Als den in seiner Gesamtheit besten bislang produzierten Bordeauxjahrgang hatten wir den Jahrgang 2015 nach der Fassverkostung vor zwei Jahren eingeschätzt. Ersetzt man produziert durch abgefüllt, hat das auch heute Gültigkeit. Noch nie sind trockene wie edelsüsse Weiss- und Rotweine, sogenannte kleine Weine wie Spitzencrus, so gleichmässig gut bis sehr gut ausgefallen. Einen einzigen Vorbehalt haben wir, und zwar gegen den hohen Alkoholgehalt einiger Weine, besonders in Saint-Émilion. Da sind ab und an dann doch die anlässlich der Primeurverkostung festgehaltenen Alkoholgrade wie durch ein Wunder im Fass um einen weiteren halben Grad angewachsen und thronen nun mit 15 statt mit den damals angegebenen 14,5 Volumenprozent endgültig auf dem Etikett. Natürlich wissen wir, dass Alkohol naturgegeben ist, besonders wenn der Merlot 80 bis 100 Prozent der Assemblage ausmacht. Immerhin rettet die ungewohnte Frische, sprich: in vielen Weinen angenehm präsente Säure, die Gesamtbalance. Doch das führt zu einem Weinstil, den man eigentlich weiter südlich ansiedeln würde. Verstehen wir uns nicht falsch. Es hat weit schlimmere Alkoholjahre gegeben in Bordeaux. Und vergessen wir nicht: Einige Kritiker hatten dem 2015er, verglichen etwa mit dem 2010er oder 2005er, gerade etwas mangelnde Konzentration vorgeworfen. Wer Powerweine mag, darf unseren Vorbehalt ruhig vergessen. Er wird in einigen Jahren auch in Saint-Émilion ungemein vollmundige, samtene Weine verkosten können. Der Vorbehalt ist im Übrigen eine Chance für Weine aus Randzonen, die ab und an Mühe mit optimaler Reife haben. Ich denke an die Kies-Sand-Böden am Rand der Plateaus von Pomerol oder Saint-Émilion oder die Zonen der Côtes oder der Basisappellation Bordeaux, die in diesem Jahr besonders interessant ausgefallen sind.

Am sogenannten linken Ufer, wo der Cabernet Sauvignon vorherrscht, gilt unser Vorbehalt gar nicht oder höchstens gegen einige wenige Weine aus Pessac-Léognan. Gerade hier ergänzt die fruchtige Frische die samtene Tannintextur und den gut ausbalancierten Süsskomplex. Margaux galt vor zwei Jahren als klarer Jahrgangssieger, was uns damals, nach 20 Jahren, in denen Jahr für Jahr das Gegenteil propagiert wurde, einen zufriedenen Seufzer abrang. Auch nach der Verkostung der abgefüllten Weine gehen wir ausnahmsweise mit der vereinigten internationalen Weinkritik einig. Doch auch die übrigen Médoc-Appellationen (das anscheinend so verregnete Saint-Estèphe inbegriffen) und die südlichen Graves haben erstklassige Weine produziert. Auf die Rechnung kommt hier folglich auch, wer nicht nur teure Spitzenweine nachkaufen will. Kluge Einkäufer, die nicht immer nur das Teuerste im Keller haben wollen, mögen es halten wie ich. Ich habe ein paar Flaschen Spitzenmargaux im Keller versenkt (für Kinder und Kindeskinder) und etliche Flaschen unklassierte 2015er sowie klassierte 2014er für mich.