VINUM-Profipanel • Mehr als nur Merlot

Tessiner Rotweine verkostet

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Linda Polari

In keinem anderen schweizerischen Weinbaukanton dominiert eine Sorte so klar, wie der Merlot im Tessin. Über 80 Prozent der Rebberge sind mit der Bordeaux-Sorte bestockt. Dabei gibt es hier immer mehr Potenzial für eine rote Vielfalt fern vom Leitgewächs Merlot. Im VINUM-Profipanel überraschen frische Leichtweine nach Beaujolais-Manier aus Sorten wie Bondola, Pinot und verschiedenen Piwis, kernig charaktervolle Gewächse aus Syrah, Cabernet Franc und Nebbiolo und besonders die vollmundigen Spezialitäten aus Neuzüchtungen wie Marselan und Arinarnoa.

Der Merlot und das Tessin schrieben im Schweizer Weinbau über Jahrzehnte hinweg eine aussergewöhnliche Liebesgeschichte. Kein anderer Weinbaukanton verschrieb sich so konsequent einer einzigen Rotweinsorte und hatte mit diesem Rezept so durchschlagenden Erfolg. Wer bis vor kurzem von Top-Merlots aus der Schweiz sprach, meinte zwangsläufig die Spitzen-Crus aus dem Tessin. Und diese haben ohne Zweifel internationales Format. Und mussten sich in guten Jahren nicht mal in Bezug auf das Reifepotenzial hinter den Originalen von der Rive Droite in Bordeaux verstecken. Unvergessen ist beispielsweise eine VINUM-Verkostung aus dem Jahr 2000, wo ausgewählte Tessiner Merlots des Jahrgangs 1990 in einer Blindprobe mit einigen Edelpiraten aus Pomerol verkostet wurden und keiner der Profis eruieren konnte, welches die viel teureren Edel-Crus aus Bordeaux waren…

Aber die Zeiten ändern sich. Vor allem die Klimaerwärmung hat dazu geführt, dass der Merlot inzwischen fast in der ganzen Schweiz voll ausreifen kann. Viele Winzer(innen) in der Romandie und in der Deutschschweiz sehen dies als willkommene Challenge. Nachdem sie sich mit ihren Pinot-Noir-Selektionen schon lange am Vorbild Burgund orientieren, eröffnet ihnen der Merlot nun plötzlich zunehmend die Möglichkeit, sich auch mit dem Kosmos Bordeaux beziehungsweise den Crus aus Pomerol und Lalande-de-Pomerol auseinanderzusetzen. Und das tun sie seit einigen Jahren auch. So entwickelt sich der Merlot zunehmend rasant von einer Tessiner Spezialität zu einer gesamtschweizerisch relevanten Sorte. Noch vor 30 Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass in der Schweiz in den gleichen Lagen sowohl hervorragende Merlots als auch Pinots nach burgundischem Vorbild reifen können. Was bedeutet dies für das Tessin? Natürlich geben die Tessiner Merlots qualitativ wie auch quantitativ noch immer den Ton an. Aber die Sorte garantiert den Winzern in der Südschweiz nicht mehr das lukrative Alleinstellungsmerkmal wie noch vor zehn Jahren.

Künftig vermehrt frisch und fruchtig?

Es stellt sich die Frage, ob die Tessiner Winzer künftig ihren Fokus nicht vermehrt auf andere rote Sorten legen sollten. Diese roten Spezialitäten belegen derzeit gerade mal 122 Hektar, also gut zehn Prozent der Anbaufläche. Viel zu wenig! Diese Schlussfolgerung lässt zumindest dieses VINUM-Profipanel mit 20 roten Spezialtäten aus dem Tessin zu. Denn die Resultate lassen darauf schliessen, dass sich den Tessinern heute verschiedene Optionen eröffnen, um ihre langfristig risikoreiche Abhängigkeit vom Merlot zu verringern und sich vermehrt als Region der roten Spezialitäten zu profilieren. Etwa mit frisch-fruchtigen, leichten, aber nicht belanglosen Alltagsweinen, die so naturbelassen wie möglich an- und ausgebaut wurden. Denn die liegen im Trend, zunehmend auch in der Gastronomie. Kein Wunder, erleben die Crus aus dem Beaujolais oder die roten Jura-Weine gegenwärtig doch eine Renaissance bei jüngeren Geniessern. Wie das VINUM-Profipanel zeigt, könnte auch das Tessin in diesem dynamischen Nischenmarkt starke Akzente setzen. Aus Pinot Noir, zunehmend aus Piwi-Sorten, vor allem aber aus der alteingesessenen Bondola entstehen hier nämlich subtil fruchtige, vorwiegend aber knackig animierende Leichtweine wie aus dem Bilderbuch. Diese beschwingten Spezialitäten waren die eigentliche grosse Überraschung in dieser generell höchst abwechslungsreichen Probe. Es sind Gewächse, die man im Tessin kaum mehr erwarten würde und die nicht nur perfekte Begleiter zu den rustikalen Gerichten in den Grotti sind, sondern auch zur neuen, vegetarisch inspirierten Regionalküche harmonieren, wie sie immer mehr Lokale in der Deutschschweiz zelebrieren. Als Ur-Tessiner Gewächs, das viel länger als der Merlot in der Südschweiz heimisch ist, böte der Bondola zudem jenen emotionalen Mehrwert, der heute im Markt hilfreich ist. Ja, wer weiss: Vielleicht könnte sogar der gute alte Tessiner Hauswein, der Nostrano (aus Sorten wie Barbera, Bonarda, Bondola, Freisa oder Americano gekeltert), bei den jungen Anhängern des Authentischen wieder reüssieren. Schade nur, dass die Anbaufläche des Bondola im Tessin auf winzige acht Hektar geschrumpft ist.

Gefährlicher Flirt mit dem Piemont

Als höchst interessant entpuppten sich die Nebbiolo-Weine in diesem Panel. Sie erinnern mit ihrem kernigen Charakter durchaus an piemontesische Crus mit Anspruch. Dabei verwundert es nicht, dass mit dem 2018er Jahrgang von Delea der jugendlichste und kraftvollste Nebbiolo die beste Benotung erhielt. Die gereiften Crus von Enrico Traplettis (er präsentierte die Jahrgänge 2012 und 2013) erinnern mit ihrer edelrobusten und säurebetonten Art durchaus an klassische Barolos. Dieser Typus hat weltweit seine Anhänger, wenn er denn tatsächlich aus den legendären Subregionen des Piemonts stammt, während ähnlich konzipierte Weine aus anderen Regionen weniger Zustimmung finden. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Syrahs. Zwar können sich die Tessiner Syrahs durchaus mit den Crus aus dem Wallis messen, trotzdem taugen sie nur bedingt als Alternative zum Merlot.

Überflieger Marselan

Neue Dimensionen könnten sich dem Tessiner Weinbau hingegen durch eine differenzierte Zuwendung zum breiten Sortenspektrum in Bordeaux eröffnen. Dies jedenfalls ist das eindeutigste Fazit aus dem VINUM-Profipanel. So erscheint beispielsweise der Cabernet Franc als überaus interessante Option. Der Riserva Ungulus von Castello di Cantone etwa, ist ein konzentriertes, vielschichtiges und doch ausgewogenes Ausnahmegewächs, das zweifelsfrei schon jetzt zur Elite der Schweizer Rotweine gehört. Und der Wein deutet an, dass sich im Tessin durchaus eine eigenständige Cabernet-Franc-Stilistik etablieren könnte, nicht ganz so monumental-wuchtig wie gewisse Gewächse aus der Toskana, aber auch nicht ganz so kernig-temperamentvoll wie die Vertreter von der Loire. Am ehesten drängt sich ein Vergleich mit den gut strukturierten Crus aus dem südungarischen Villány auf. Doch der klare Sieger dieser Panel-Verkostung ist zweifelsfrei die Sorte Marselan, deren zwei Vertreter beide den Sprung in die «Top Drei» schafften. Kein Wunder: Die Weine betören mit viel Beerenduft und verführerischen Würznoten vom Barrique-Ausbau. Und am Gaumen zeigen sie sich vielschichtig, fordernd, aber doch auch samtig und saftig. Mit diesen Eigenschaften erscheinen die zwei Weine fast wie eine etwas geschliffenere Version eines Top-Merlots. Damit spiegeln die Weine auch perfekt die Herkunft der Sorte wider, die gleichermassen in Bordeaux (Cabernet Sauvignon) und im Rhônetal (Grenache) liegt. Mit anderen Worten: Der Cabernet verleiht den Weinen die nötige Struktur, während der Grenache die Fruchtfülle beisteuert. Ein ähnlich gutes Zukunftspotenzial lässt sich der Sorte Arinarnoa (Merlot x Petit Verdot) zuschreiben. Die aus ihr gekelterten Weine muten eine Spur kerniger und robuster an. Übrigens: Sowohl Marselan als auch Arinarnoa wurden vor über 60Jahren in Frankreich gezüchtet. Schön, dass sie im Tessin angekommen sind.

Die Jury

Von links nach rechts

Matthew Bywater, Weinhändler in Zürich
Sein Favorit: Syrah Loto 2015 von Roberto und Andrea Ferrari in Stabio

Thomas Hari, Weinhändler in Adelboden
Sein Favorit: Marselan 2019 von der Tenuta San Giorgio in Cassina d’Agno

Carsten Fuss, Weinhändler in Zürich
Sein Favorit: Marselan 2019 von der Tenuta San Giorgio in Cassina d’Agno

Ivan Barbic MW, Weinhändler in Zürich
Sein Favorit: Marselan 2017 von der Cantina Settemaggio in Monte Carasso

Timothy Magnus, Weinhändler in Zürich
Sein Favorit: Marselan 2019 von der Tenuta San Giorgio in Cassina d’Agno

Thomas Vaterlaus, Chefredaktor VINUM in Zürich
Sein Favorit: Nebbiolo 2013 von Azienda Vitivinicola Trapletti in Coldrerio

«Seit dem Film ‹Sideways› gilt der Merlot als Allerweltssorte, und weil er wegen der Klimaerwärmung heute vielerorts reifen kann, hat sich dieser Eindruck verstärkt. Die durchwegs hochkarätigen und eigenständigen Nicht-Merlots in diesem Panel beweisen, dass das Tessin auch ohne Merlot viel bieten kann. Auch überraschend Positives. Die Cabernet Francs etwa zeigten mehr kernige Loire-Stilistik und weniger mediterrane Fülle»

Timothy Magnus Weinhändler, Zürich


«Die grösste Überraschung ist das hervorragende Reifepotenzial dieser Tessiner Spezialitäten. Denn gerade die Crus aus Jahrgängen zwischen 2011 und 2013 zeigten sich allesamt in Bestform. Und auch die jüngeren Jahrgänge in der Probe, egal ob aus Bordeauxgewächsen oder Syrah gekeltert, wirkten so präsent, frisch, kernig und gut strukturiert, dass ihnen sicher ein ähnlich langes Leben beschieden ist.»

Thomas Hari Weinhändler und Kaffeeröster, Adelboden


«Im Tessin werden auch abseits des Merlots ausgezeichnete Rotweine produziert. Das beweist dieses Panel. Es stellt sich die Frage, ob die Tessiner Winzer angesichts der heutigen Kenntnisse über ihre Böden und Mikrokli-mata nicht gut bedient wären, künftig vermehrt auf andere Sorten zu setzen, beispielsweise auf Cabernet Franc oder Nebbiolo. Überraschend war, was für frische Rotweine ausgerechnet im Süden der Schweiz reifen…»

Matthew Bywater Weinhändler, Zürich


«Dieses Panel beweist, dass es im Tessin heute viele interessante Alter- nativen zum vorherrschenden Merlot gibt. Dabei entstehen aus Bondola, Piwi-Sorten oder Pinot Noir sehr frischfruchtige, trinkige Weine, die an gute Beaujolais erinnern, während andere Bordeaux-Sorten, aber auch Neuzüchtungen wie Marselan sehr komplexe und ausdrucksstarke Gewächse hervorbringen, die auf dem internationalen Parkett bestehen können»

Ivan Barbic MW Weinhändler und Consultant, Zürich


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