Wer oder was in uns schmeckt den Wein?

Von Arthur Wirtzfeld

Wie wir Wein wahrnehmen ist ein kompliziertes Procedere, dessen Ergebnis letztlich im Gehirn gebildet wird. Diesem Thema widmet sich schon seit langem der Neurowissenschaftler Prof. Gordon M. Shepherds. In den letzten drei Dekaden hat der US-Wissenschaftler zusammen mit Kollegen eine Datenbank aufgebaut, die Ergebnisse aus deren Forschung zu olfaktorischen Rezeptoren, Geruchskarten, neuronale und dendritische Eigenschaften und neuronale Mikroschaltmodelle enthält (nachzulesen auf der Website: www.senselab.ca). Nebenbei hat Shepherds ein Buch mit dem englischen Titel "How the Brain Creates the Taste of Wine" geschrieben. In dieser Abhandlung bietet Shepherds Einblicke dazu, was sich abspielt, wenn wir Wein schmecken und wie die Informationen des Geschmacks und der Textur eines Weins im Gehirn verarbeitet und in Gedanken umgewandelt werden.

Körpertemperatur und Bakterien sind entscheidend

"Im Gehirn findet die Entscheidung statt, nicht in der Nase oder am Gaumen", sagt Shepherds. "Das heißt, es gibt vorab mehr mechanische Vorgänge und damit Informationen, die ins Gehirn gebracht werden, als man denkt." Shepherds Erkenntnisse finalisieren darin, dass vornehmlich Bakterien im menschlichen Körper mit den Elementen des Weins reagieren. Dieses Procedere beginnt schon, wenn man Wein riecht. Dabei werden ganz tief in der Nase Gerüche in Aromen umgewandelt. "Diese Analyse, und das ist bemerkenswert, wird von der Körpertemperatur und insbesondere von den Bakterien im Speichel getragen und beeinflusst", sagt Shepherds.

"Ich dachte lange Zeit, dass allein retronasale Bereiche für die Erkennung der Aromen verantwortlich sind, aber nein, es sind vielmehr die individuellen Bakterien", erläutert Shepherds. "Dies erklärt einerseits, warum manchmal ein Wein anders riecht als er schmeckt und andererseits, warum dem Einen ein Wein anders schmeckt als dem Anderen. Und so ist es natürlich, dass beim Genuss des gleichen Weins, sich unterschiedliche Wahrnehmungen einstellen."

Spucken oder schlucken?

Weine nur zu spucken hält Shepherds für nicht ausreichend, um die volle retronasale Analyse zu bekommen und um einen Wein in seiner Aromenvielfalt vollends zu begreifen. "Beim Weingenuß eruptieren die Aromen, dies wird verstärkt, wenn man den Wein schluckt", meint Shepherds und bezieht sich dabei auf wissenschaftliche Diagramme der flüssigen Dynamik im Mund und der Kehle. "Beim Schlucken und anschließendem Ausatmen werden Aromen erneut retronasal analysiert, es gibt also einen zweiten Schub an Informationen", erläutert Shepherds. "In der Praxis kann man beim Schlucken seine Uvula (Anm. d. Red.: medizinische Bezeichnung für das Gaumenzäpfchen) trainieren, damit können Sie sich einen Vorteil bei der Erkennung von Aromen erarbeiten. Allerdings, nicht jedem gelingt das." 

"Wenn ich mit Kollegen diskutiere, bringe ich gerne dieses Beispiel", sagt Shephers. "Unsere Fähigkeit zu beschreiben, was wir schmecken ist nichts anderes, als ein Gemälde zu beschreiben. Wir können Van Goghs Gemälde von Sonnenblumen beschreiben. Darauf sind Sonnenblumen zu sehen und sie sehen aus wie Sonnenblumen. Aber es ist fast unmöglich, irgendetwas nicht repräsentatives in Worten jemand anderem zu beschreiben, der es nicht gesehen hat. Das gleiche gilt im Übrigen auch für Musik."

Shepherds relativiert

Nun stellt sich die Frage: Relativieren Shephers Forschungsergebnisse gängige Weinbewertungen? "Nein, gar nicht", sagt Shepherds. "Wir alle haben vielleicht unterschiedliche Wahrnehmungen von allem was uns begegnet oder was wir zu uns nehmen. Wenn wir die ersten Eindrücke eines Weins in der Nase haben, gibt es viel Bekanntes und wir riechen überwiegend ähnliche Aromen. Meistens sind wir, wie auch beim Geschmack, einer Meinung oder sehr nah an einer Meinung", erläutert Shepherds. Seine Erkenntnisse könnten uns erklären helfen, warum wir uns zuweilen in Details bei der Weinbeschreibung nicht einig sind oder eben nicht einig sein können.