CH-Weinszene 2020

Zürich reloaded

Text: Thomas Vaterlaus, Foto: Siffert / weinweltfoto

Nirgendwo sonst in der Deutschschweiz herrscht gegenwärtig so viel Dynamik wie in der Zürcher Weinbauszene. Gaben eine Generation zuvor noch wenige Persönlichkeiten wie Urs Pircher oder Stikel Schwarzenbach den Ton an, so schaffen hier heute verschiedenste Winzer mit unterschiedlichsten Konzepten Ausserordentliches.
VINUM besuchte fünf Protagonisten der neuen Zürcher Welle.

Zu den grössten Abenteuern, die ein Stadtzürcher City-Weinfreak erleben kann, gehört die Erkundung seines näheren Umlandes. Da gibt es legendäre wie spektakuläre Weinlagen.

Etwa den Lattenberg oder die Sternenhalde hoch über dem Zürichsee bei Stäfa oder die spektakulären Steillagen am Rhein wie den «Chorb» beim ehemaligen Benediktiner-Kloster Rheinau oder den Stadtberg hinter dem mittelalterlichen Zentrum von Eglisau. Allesamt Rebberge, deren Qualitätspotenzial sich einem allein schon bei deren Anblick offenbart. Doch die Revolution im Zürcher Weinbau findet heute mehr denn je auch in den unspektakulären Winkeln des Kantons statt. Wer im Winter rausfährt ins Weinland oder ins Unterland, ist froh, dass heute praktisch jedes Autos mit einem GPS ausgerüstet ist. Denn sonst könnte man hier schnell die Orientierung verlieren. Vor allem an Wintertagen, wo der Nebel das Land zu verschlucken scheint. Wenn ein Fluss auftaucht, ist plötzlich nicht mehr auf Anhieb klar, ob es sich nun um den Rhein, die Glatt, die Töss oder die Thur handelt. Und wer dreimal falsch abbiegt, befindet sich plötzlich in Deutschland. Doch während Rebland an der exklusiven Goldküste des Zürichsees kaum zu bekommen, und wenn dann unbezahlbar ist, bietet sich hier draussen im spektakulär unspektakulären Hügelland für junge Winzer oder Quereinsteiger eher die Möglichkeit, an Rebland zu kommen, das das Potenzial für Spitzenweine aufweist. Es ist darum kein Wunder, dass einige der interessantesten Projekte der letzten Jahre hier entstanden sind. Etwa die Winzerei zur Metzg von Patrick Thalmann mit Lagen in Benken und Ossingen oder das Weingut von Stephan Herter im Speckgürtel um Winterthur. Bei kaum einer Sorte zeigt sich die Qualitätsrevolution im Kanton Zürich so klar wie beim Riesling-Silvaner. Noch vor 20 Jahren wurde er als vermeintlich minderwertig taxiert und entsprechende Parzellen gerodet beziehungsweise mit anderen Sorten ersetzt. Heute erlebt er, ohne Säureabbau gekeltert, als feinfruchtig-frischer Leichtwein eine Renaissance. Und nicht nur das: Michele Bono vom Strickhof verleiht dem Riesling-Silvaner durch den Ausbau in georgischen Amphoren eine Struktur und Lagerfähigkeit, die man ihm kaum je zugetraut hätte. Nicht weniger spektakulär ist die Interpretation von Patrick Thalmann. Sein «Bunter Hund», zwei Jahre im Holz ausgereift, überzeugt mit fast schon burgundischen Tugenden. So zeigt die Sorte heute in Zürich ein sensorisches Spektrum, das noch vor kurzem unvorstellbar war.

Und das Beste kommt noch!

Auch bei der lokalen weissen Paradesorte, dem Räuschling, befinden sich die Winzer nun in der bestmöglichen Spur. Noch vor 25 Jahren bereiteten die Räuschlinge wegen ihrer horrenden Säure kaum Genuss. Danach verloren die Weine durch Entsäuerung oder Restzucker ihren ursprünglichen Charakter. Jetzt zeigen immer mehr Top-Crus, dass der Räuschling durchaus das Potenzial hat, um zur weissen Paradesorte der Zürcher Winzer zu werden. Und der Pinot Noir? Hier ist die Vielfalt an terroirgeprägten Top-Crus inzwischen ähnlich gross wie in der Bündner Herrschaft.

Schon vor 30 Jahren haben einige Vorreiter bewiesen, was im Zürcher Terroir steckt. Urs Pircher in Eglisau, Waldemar Zahner in Truttikon oder Hermann «Stikel» Schwarzenbach gehören zu dieser ersten Generation von Zürcher Spitzenwinzern. Waren es damals noch einige wenige Persönlichkeiten, die neue Akzente setzten, so ist die Zahl der ambitionierten Betriebe heute so gross wie noch nie zuvor. Rund zwei Dutzend Winzer leisten heute im Kanton Zürich Ausserordentliches. Und auch die Grossen ziehen mit: etwa die Staatskellerei Zürich mit ihren vollmundigen ÉO-Selektionen oder dem «Lunaris», einer Cuvée aus den resistenten Sorten Cabernet Jura und Monarch. Oder die Volg-Weinkellereien (heute DiVino), die beim Grand Prix du Vin Suisse 2015 mit dem Winterthur Rychenberg Barrique in der Kategorie Pinot Noir den Sieg holten. Beeindruckend ist die zunehmende stilistische Vielfalt der Zürcher Weine. Das Spektrum reicht von den durch ihre sanfte Fruchtfülle geprägten Gewächsen von Nadine Saxer in Neftenbach bis zu den eigenständig-puristischen Crus von Nadine und Cédric Besson-Strasser. Vieles deutet darauf hin, dass die Dynamik in der Zürcher Winzerszene anhalten wird. Vor allem die sich abzeichnenden Strukturbereinigungen bieten die Chance für neue Projekte. So werden die tiefen Traubenpreise wohl künftig noch vermehrt dazu führen, dass Nebenerwerbswinzer aufhören beziehungsweise ihre Parzellen an aufstrebende Projekte abtreten. Und noch haben die Zürcher Winzer nicht alle Trümpfe ausgespielt. So bietet die Klimaerwärmung vielfältige Möglichkeiten zum Anbau neuer Sorten. Und weil sich die Rebberge wie ein Flickenteppich über weite Teile des Kantons ziehen, bietet sich vor allem bei der Leitsorte Pinot Noir die Chance, die terroirspezifischen Nuancen der verschiedenen Lagen noch subtiler herauszuarbeiten. Gelingt dies, wird der Weinkanton Zürich weiter an Konturen gewinnen. Was wiederum den lokalen Önotourismus ankurbeln könnte. Denn schon heute kann ein Wochenendausflug ins Weinland so spannend sein wie ein Trip in die Toskana. Denn das Wein-Paradies liegt neben an.

 

Nadine und Cédric Besson-Strasser Winzerkeller Strasser, Uhwiesen

«Weniger ist viel mehr»

Während viele Winzer noch immer spät ernten und im Keller gerne und viel an ihren Weinen herumwerkeln, agieren Nadine und Cédric Strasser-Besson heute radikal anders: «Wir ernten immer früher und machen im Keller immer weniger, ja eigentlich inzwischen fast gar nichts mehr», sagt Cédric. Der 40-jährige Bauernsohn aus Montreux hat die gleichaltrige Nadine Strasser während der Weinbau-Ausbildung in Changins kennengelernt. 2004 begannen beide im Winzerkeller Strasser in Uhwiesen im nördlichsten Zipfel des Zürcher Weinlandes zu arbeiten, zusammen mit Nadines Eltern. Schon damals führten sie erste biodynamische Praktiken ein. Heute, 15 Jahre später, haben sie diese Anbauphilosophie so verinnerlicht wie wenige andere Winzer. «Wenn es dich mal gepackt hat, gehst du zwangsläufig immer tiefer und willst die Interaktionen zwischen dir und deinen Reben immer besser verstehen», meint Nadine. So arbeiten sie gezielt an der Revitalisierung ihrer Rebberge, die sie durch das Anlegen von Trockenmauern und Steinhaufen (als Lebensraum für Echsen, Frösche, Blindschleichen etc.) sowie das Pflanzen von Getreide und Bäumen (darunter eine lokale Varietät des Weinbergspfirsich) noch stärker als eigenständige Ökosysteme etablieren möchten. Zudem befassen sie sich mit dem Anpflanzen von wurzelechten Reben. «Nach dem Schock des Reblauseinfalls vor 150 Jahren hat man vielleicht zu extrem reagiert. Das heute in ganz Europa ausschliesslich gepfropfte Reben gepflanzt werden, ist aus unserer Sicht übertrieben. Gerade in sandhaltigen Lagen müsste es möglich sein, mit wurzelechten Reben zu arbeiten, wovon wir uns authentischere Weine erhoffen», sagt Cédric. Im Mittelpunkt ihres Konzeptes steht eine rigoros qualitätsorientierte Ernte. Gesunde, knackige Trauben ermöglichen eine Vinifikation mit minimalsten Interventionen. So arbeiten sie auch mit extrem geringen Schwefelzugaben. Beim Pinot etwa beträgt die Gesamtschwefelzugabe total gerade mal 25 Milligramm. Speziell ist auch ihr «röstigrabenübergreifender» Esprit. Mit den beiden Kindern wird französisch gesprochen. Und sie sind Mitglied der frankophilen Gruppierung Biodyn, bei der sie sich regelmässig mit Persönlichkeiten wie Olivier Humbrecht aus dem Elsass oder Stéphane Tissot aus dem Jura austauschen. In diesem Kontext entstehen Weine, die durchwegs mit lebendig animierendem, authentischem Charakter begeistern. Vor allem ihre beiden Top-Pinots Albi (auf kiesigem Lehm gewachsen und entsprechend kraftvoll) und Chlosterberg (auf sandigem Kies angebaut und ausgesprochen filigran), aber auch der Uhwiesener Räuschling Nature sind burgundisch inspirierte Crus der absoluten Spitzenklasse.

Chlosterberg Pinot Noir

Grand Cru 2016

18.5 Punkte | 2019 bis 2025

Von 40-jährigen Stöcken in Uhwiesen. Frische Aromen von Waldbeeren und Kirschen, florale Noten. Entwickelt im Gaumen viel Zug. Feinkörniger Gerbstoff, lebendige Säure. Langanhaltend.

www.wein.ch

 

Mathias Bechtel Bechtel Weine, Eglisau

Ein Mann für alle Fälle

«Wenn ich dieses riesige Loch sehe, kriege ich manchmal selber Angst», sagt Mathias Bechtel, während er auf den Bauplatz zwischen der Eglisauer Altstadt und den Reben im vorderen Stadtberg schaut, wo gerade seine neue Kellerei entsteht. Der heute 35-Jährige gewann 2015 den Jungwinzer-Contest von VINUM. «Ab da ging es so richtig los», erinnert er sich. Als Selfmade-Mann ohne grosse Investoren im Hintergrund gründete er sein eigenes Weingut, das heute bereits 3,6 Hektar selber bewirtschaftet und Trauben von drei weiteren Hektar dazukauft. Kein Wunder, dass der Keller, in den er gegenwärtig noch eingemietet ist, aus allen Nähten platzt. Der Jungunternehmer und Familienvater von zwei kleinen Töchtern steht ständig unter Strom, ein veritables Wunder, dass er noch den Überblick über alle 1001 Details seines dynamisch wachsenden Projektes hat. Im bündnerischen Zizers neben einem Rebberg aufgewachsen, absolvierte er eine Winzerlehre, studierte in Changins und arbeitete danach sieben Jahre lang als Kellermeister beim Weingut Urs Pircher in Eglisau. Dass er dort nun auch sein eigenes Projekt gestartet hat, ist ein Glücksfall für das Städtchen. Denn Eglisau verfügt zwar mit dem imposanten Stadtberg über einen der besten Rebberge im Kanton. Und doch geniesst diese rund 20 Hektar umfassende Steillage noch nicht das Renommee, das sie verdient. Denn viele Trauben aus diesem Grand Cru landen noch immer in Handelsweinen, die unter der Bezeichnung AOC Zürich auf den Markt kommen. Das möchte Mathias Bechtel ändern. «Auf den Flaschen, wo Wein von hier drin ist, soll künftig auch Eglisau draufstehen», sagt er. Weil der Vordere Stadtberg im Zuge einer Melioration gerade neu konzipiert und erschlossen wird, eröffnen sich für ihn mannigfaltige Möglichkeiten, auch was die Wahl der Sorten anbelangt. Keine Frage: Mit Mathias Bechtel als neuem Zugpferd stehen dem Weinstädtchen Eglisau glanzvolle Zeiten bevor. Seine Weine baut er auf nachhaltig-konventionelle Weise an. «Ich gehöre nicht zu jenen, die jedem Trend nachlaufen», antwortet er auf die Naturweinbewegung angesprochen. Akribische Arbeit in Rebberg und Keller sowie kleine Erträge von durchschnittlich nur 500 Gramm pro Quadratmeter sind die Basis für seine ausserordentlichen Weine. So ist sein «Saignée» der Prototyp eines gehaltvollen, aber doch knackig-frischen Rosés und der vermeintlich «einfache» Pinot Noir bereits ein beeindruckender Cru. Und vor dem «Bechtus», seiner hochwertigsten Pinot-Selektion, kann man nur den Hut ziehen…

Chardonnay 2017

17.5 Punkte | 2019 bis 2025

Im 500-Liter-Eichenfass aus dem Südtirol vinifiziert. Vielschichtig, mit Aromen von Agrumen, Akazienblüten, auch florale Noten und etwas Butterscotch. Im Gaumen noch jugendlich, kernig und charaktervoll.

www.bechtel-weine.ch

 

Stephan Herter Herter Wein, Hettlingen

Fabelhaftes aus dem Speckgürtel

Mit akkurat gepflegtem Bart und moderat freakigen Outfit wirkt der 39-jährige Stephan Herter wie der Prototyp eines Winzer-Hipsters, doch wer mit ihm spricht, merkt schnell, dass man diesem eigenständigen Geist mit solchen «Schubladisierungen» nicht gerecht wird. Das beweist allein schon sein Werdegang: Nach seiner Kochlehre arbeitete er bei Meistern wie Philippe Rochat in Crissier, war aber auch Gitarrist in einer «Alternative Metal»-Band und lebte in besetzten Häusern in Zürich, wo er übrigens den Künstler Michel Casarramona traf, der seine Etiketten im Retro-Stil entworfen hat, illustriert mit Tier- und Fabelwesen aus der deutschen Literatur. Später verschlug es Stephan Herter nach Schottland, wo er in der Whiskybrennerei von Macallan arbeitete, aber auch auf einem Fischkutter, der von Ullapool aus Pollack-Dorsch fischte. Dann landete er im Weinhandel, der ihn aber nach der Jahrtausendwende zunehmend frustrierte, weil der zunehmende Rentabilitätsdruck den besonderen Esprit der Szene zerstört habe. So wurde er Winzer und lebt heute mit Frau und Kind draussen in den Pampas, sprich dem «Speckgürtel» um Winterthur. Das Metier erlernte er unter anderem beim charismatischen Michael Broger im thurgauischen Ottenberg. Wie dieser baut er heute seine Weine ohne synthetische Pflanzenschutzmittel an, inspiriert von den Schriften Rudolf Steiners. Sein Rebberg am Taggenberg in Winterthur ist legendär, denn hier kelterte schon Hans Herzog, der heute mit seiner Frau Therese die «Herzog Winery & Restaurant» im neuseeländischen Marlborough betreibt, in den 80er und 90er Jahren vielschichtige Pinots mit burgundischer Finesse. Stephan Herter selektioniert heute aus dem 35 und 40 Jahre alten Rebberg zwei verschiedene Pinots. Der «Grimbart» kommt von Wädenswiler- und Geisenheimer-Klonen, die in tonigem Lehm auf Bundsandstein wurzeln. Der «Ruprecht» dagegen stammt von Burgunder-Klonen, die im steilsten Teil des Rebberges wachsen, wo auch der Kalkanteil am höchsten ist. Im Ausbau verfolgt Herter ein differenziertes Konzept. Bei den länger ausgebauten Crus wie den beiden Top-Pinots setzt Herter auf minimalste Intervention (Vergärung mit rebbergseigenen Hefen, kein Pumpen, keine Filtrierung, minimale Schwefelung). «Lage und Jahrgang sollen den Wein prägen. Ich als Winzer nehme mich da zurück. Obwohl ich eher tiefe Alkoholgrade anstrebe, muss ich deshalb auch akzeptieren, dass bei den 2018er Weinen wohl durchweg 14 Volumenprozent auf den Labels stehen wird». Bei jenen Weinen dagegen, die vergleichsweise früh in die Flasche kommen, wie dem Sauvignon Blanc oder dem Räuschling, setzt er auf mehr Weinmaking. Dies gilt auch für seine Linie «Väterchen Frost», die eigentlich aus der Not geboren worden ist. 2016 und 2017 musste das noch junge Weingut grosse Ausfälle wegen der Frühlingsfröste hinnehmen. Herter kaufte Trauben im Kanton Zürich, aber auch in der Waadt und kelterte daraus Weine, die er unter dem Namen «Väterchen Frost» auf den Markt brachte. Es sind charmante, süffige Alltags-Weine mit ein paar Gramm Restzucker. Der Mann ist eben kein Anhänger einer einzigen Lehre, sondern ein Pragmatiker, der verschiedene Konzepte umzusetzen weiss.

Grimbart Pinot Noir 2017

17.5 Punkte | 2020 bis 2028

Rote Beeren, besonders Kirschen, aber auch Johannisbeeren, dazu frische Würze (Pfeffer) und mineralische Noten, an Graphit erinnernd. Im Gaumen noch jugendlich temperamentvoll, mit kernigem Gerbstoff und präsenter Säure.

www.herterwein.ch

 

Patrick Thalmann Winzerei Zur Metzg, Marthalen

Kein «borstiger» Kerl

Bonvivant Patrick Thalmann bringt Schwung, Witz und Savoir-vivre in die noch immer etwas zwinglianisch-nüchtern anmutende Zürcher Weinszene. Erfrischend bodenständigen Zeitgeist verkörpern allein schon seine Labels, auf denen sich Metzgermesserchen und Schweinchen tummeln. Der Name seines Projektes «Winzerei zur Metzg» erinnert übrigens an seine ersten provisorischen Keller-Räumlichkeiten, die zuvor als Metzgerei dienten. Heute residiert der 44-Jährige in einem Gewerbebau in Marthalen, in dem englische Geschäftsleute früher Socken produzieren liessen. Thalmann empfängt seine Gäste hier an einer acht Meter langen, schwarzen Marmorbar, die sich in jedem 5-Sterne-Hotel gut machen würde. «Ein Abbruch-Objekt, das Ding stand im Zürcher Kongresshaus dem Umbau im Wege», sagt er. Der «mittelalterliche» Jungwinzer aus dem Winzerdorf Ossingen studierte Betriebswirtschaft und arbeitete lange Zeit bei einer Zürcher Bank im Fondsmanagement. Zum Wein kam er im Militär: «In der Ausbildung zum Quartiersmeister besuchten wir eine Weinverkostung, da hat’s mich erwischt.» Er wurde Weinfreak und Sammler von Spitzen-Crus. 2009 folgte der finale Schritt. Er kelterte seine ersten eigenen Weine, zuerst noch als Hobbywinzer, doch 2013 verlieh er seinem Projekt eine professionelle Struktur. Heute bewirtschaftet er in Benken rund 0,8 Hektar in eigener Regie und kauft im Zürcher Weinland noch Trauben von weiteren 2,3 Hektar dazu. Seine Top-Crus tragen den schweinischen Namen «Borstig’ Kerl». Das passt, denn wie alle grossen Weine zeigen sich die Topgewächse (mit Naturhefen vergoren und unfiltriert abgefüllt) in ihrer Jugend in positiver Weise etwas sperrig, offenbaren aber gerade dadurch ihr Entwicklungspotenzial. Beeindruckend ist vor allem der stets massgeschneiderte Holzeinsatz. Schon der «Bunte Hund», ein Müller-Thurgau, spontan vergoren und zwei Jahre im Holz ausgebaut, verspricht ein völlig neues, edles, komplex-trinkiges Müller-Thurgau-Feeling, vor allem seit dieser Wein ab dem Jahrgang 2016 völlig trocken ausgebaut wird. Seine beiden «borstigen Kerle» sind Grands Crus wie aus dem Bilderbuch, vielschichtig, animierend, mit frischer Würze und säurebetontem Schmelz. Das gilt für den Pinot (besonders für die Topselektion Borstig’ Kerl Selektion Kirschberg 2015), vor allem aber auch für den maischenvergorenen Räuschling, der mit Saft, Kraft und viel Rasse an einen burgundischen Top-Cru erinnert. Auch Thalmann variiert gekonnt die Stilistik. Denn während er bei seinen Prestige-Crus alle Register zieht, kommen seine Einstiegsweine wie der «Red» oder der «Junior» mit süffig-gefälliger Fruchtsüsse daher. Nicht zuletzt ist Thalmann auch ein begnadeter Selbstdarsteller, Unterhalter und Gastgeber. Das zeigt sich etwa bei seiner alljährlichen «Wulesau-Metzgete» auf der geschichtsträchtigen Rütli-Wiese oder seinen Wine Battles, bei denen er mit seinen Weinen im Rahmen eines Wine & Dine gegen andere Spitzenwinzer antritt, etwa das gewichtige burgenländische Urgestein Johann Schwarz…

Borstig’ Kerl weiss 2015

18 Punkte | 2019 bis 2026

In Burgunder Piècen spontanvergorener Räuschling. Aromen von gelben Früchten, Quitten und Birnen, verführerisch frische Würznoten. Im Gaumen vielschichtig, kräftig, mit burgundischer Finesse. Hat viel Potenzial.

www.winzerei-zur-metzg.ch

 

Michele Bono Strickhof, Winterthur

Ein «staatlicher» Topwinzer

Kantonale Weinbaubetriebe spielen eine Sonderrolle in der Schweizer Weinszene. Natürlich müssen auch sie zunehmend nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit agieren, sind gleichzeitig aber auch Ausbildungs- und Versuchsbetriebe. Dies eröffnet Freiräume, dank derer diese «Staatsweingüter» eigentlich als Innovationszentren dem kantonalen Weinbau neue Impulse verleihen sollten. Der 40-jährige Michele Bono erfüllt diese Mission im Strickhof Winterthur in beeindruckender Weise. Genau darum ist er heute nicht in erster Linie ein kantonaler Beamter, sondern vielmehr ein Spitzenwinzer sowie ein Pionier und Vorreiter der Zürcher Weinbauszene. Wer ihn in Winterthur-Wülflingen besucht, kann jedes Mal wieder von Neuem Versuchsweine verkosten, die er in dieser Form zuvor noch nie im Glas hatte. Im Herbst 2018 beispielsweise haben er selber aus Riesling-Trauben und zwei seiner Lehrlinge aus Pinot-Noir-Trauben zwei «Pet Nats» (Pétillant Naturel) gekeltert, die zwar noch heftig schäumen, gleichzeitig aber auch zeigen, dass diese natürlichen Sprudler auch in Zürich zu einem kleinen Hype werden könnten. 2016 füllten sie zwei ungeschwefelte Vin Naturel ab. Bono stammt aus einer sizilianischen Familie, ist aber in Deutschland aufgewachsen. Er wurde Restaurantfachmann, arbeitete unter anderem in der Küche im Weingut von Michele Chiarlo im Piemont. Später studierte er Weinbau in Geisenheim und machte dort seine Diplomarbeit beim bekannten Biodynamiker Georg Meissner. Seit 2011 sorgt er nun beim Strickhof für Furore. Etwa indem er 2013 erstmals einen Riesling-Sylvaner in einer klassischen, 1200 Liter fassenden georgischen Amphore («Kvevri») mit der Maische vergären liess. 2018 wiederholte er dieses Experiment, allerdings mit zuvor abgepresstem Saft. Das Ziel ist, einen «Zürcher Orange Wine light» zu produzieren. Gleichzeitig steht im Keller seit kurzem ein 1000 Liter fassender Granittank, in dem er zum Vergleich gerade ebenfalls einen Riesling-Sylvaner vinifiziert. Und das ist noch längst nicht alles. Inspiriert von den legendären Champagnern des Hauses Krug hat Bono mit der Ernte 2013 einen Blanc de Noirs mit natürlichen Hefen im Eichenfass vergoren und ausgebaut. Dieser Grundwein mit zehn Volumenprozent Alkohol und zehn Gramm Säure durchlief dann beim Schaumweinhaus Mauler die zweite Flaschengärung. Und dort liegen die Flaschen heute nach mehr als fünf Jahren immer noch auf der Hefe. Bei der gewaltigen Dynamik, die hier herrscht, und der Freude an Versuchskelterungen aller Art, geht manchmal fast vergessen, dass auch das Standart-Sortiment des Strickhofs von ausgezeichneter Qualität ist. Das gilt besonders für die Topselektion «1!», die heute zu besten Pinots im Kanton Zürich gehört.

Pinot Noir 1! 2015

17.5 Punkte | 2019 bis 2026

Auf schwerem Lehm und Kalksandstein am Wolfensberg in Wülflingen reift dieser Top-Cru. Aromen von dunklen Waldbeeren, dazu florale und würzige Noten. Im Gaumen füllig, mit kräftigem Tannin und saftiger Säure.

www.strickhof.ch

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