Wein der dritten Art

Beaujolais-Renaissance

Text und Bild: Rolf Bichsel

Genug von all den fast unbezahlbaren, alkoholstarken, holztriefenden, jung so gut wie untrinkbaren Rebensäften der aktuellen Weltweinunkultur, die man wie Jagdtrophäen im Keller hortet? Dann sind Sie reif für zehn wohltuende Inseln im Meer des Einheitsbreis: die Cru-Lagen des Beaujolais. Vergessen Sie alles, was man Ihnen Böses von dieser Region vorgeschwatzt hat. Entdecken Sie eine der schönsten, spannendsten Weinregionen der Welt wieder, verlieben Sie sich in einen Saint-Amour oder lassen Sie sich von einem sinnlichen Fleurie verführen. 


Wer Vorurteile ablegt, entdeckt in den Crus des Beaujolais die simple Freude am süffigen, fruchtigen, auf Trinkigkeit ausgelegten Rebensaft wieder.


Unsere erste Begegnung hat wie ich graue Haare angesetzt. An einem Fest war’s, einer verworrenen, nächtelangen Fress- und Saufparty mit Livemusik. Ich vergewaltigte die 50 anwesenden Gäste, indem ich sie zuerst ausgiebig bekochte und anschliessend mit vom Knoblauchhacken klammen Fingern mit ausgeführter Tastenakrobatik malträtierte. Den passenden Wein machte ich bei einem lokalen Weinmatador namens Weinmann ausfindig (Name von der Redaktion geändert). Mit dem Stolz des Aficionados schwenkte er das rote Tuch vor allen Bordeaux (schlecht gemacht und zu teuer), Burgundern (Wein für Snobs) und Piemont-Weinen (sauer, sauer, sauer), wühlte in einer staubigen Kiste, zauberte eine Flasche hervor und klatschte sie mit Schwung auf den Tresen, der unter der Wucht des Aufpralls erzitterte wie ein von der Banderilla getroffener Stier. «Hier, probieren Sie das.» Ein Chenas war’s, in der rudimentären Verkostungssprache meines vergilbten Tagebuchs: «Fruchtig und komplex, sexy, fellinesk.» Auch an den Preis erinnern die fleckigen Seiten, 12 CHF. Der gleiche Wein ist heute, 40 Jahre später, für 11,95 Euro zu haben. Kurz: Von meiner Kür als Küchen- und Tastenkünstler sprach niemand aus meinem Freundeskreis in den nächsten Wochen, doch mein Ruf als Weinkenner war gemacht. Merke: Zu unverdienten Lorbeeren kommt man immer dann, wenn man sich vom Fachmann fachgerecht beraten lässt.

Die schönste Weinregion der Welt

Überspringen wir die weitere Entwicklung meiner engen Freundschaft mit den Crus des Beaujolais, Fleurie, Brouilly, Chiroubles, Saint-Amour und Co, der ich dann meine Memoiren widme. Springen wir kühn und ohne wortgewaltigen Übergang direkt in die Gegenwart. Besuch eines Nachbarn. Wir schwatzen bei einem Glas Champagner über alles und nichts und landen bei der Gretchenfrage: Was, zum Teufel, hat jemand, der nicht so verrückt ist wie ich, in einer so gottverlassenen Ecke verloren? «Familienbesitz. Ein Teil meiner Vorfahren stammt aus dem Beaujolais, andere haben sich in der Gironde niedergelassen. Ich habe hier einen Hof geerbt, mein Bruder die Domäne im Beaujolais. Glauben Sie mir, ich habe die bessere Karte gezogen. Mein Bruder hat das Handtuch geworfen und züchtet heute Pferde.»

Überlassen wir den Nachbarn dem Schicksal und befassen wir uns endlich mit dem Ernst der Lage. Die Spatzen, vom Aussterben bedroht wie echte Trinker, pfeifen es von den Dächern: Die schönste Weinregion der Welt steckt in der Krise. Hat mit dem Zeitgeist zu tun. Wir süffeln lieber Rosé und sammeln holztriefende Unikate, die im Keller darauf warten, Wert anzusetzen, als uns mit dem Wein der Weine zu vergnügen. Mag sein, dass ein Gutteil der Krise, die am Ende selbst verschuldet ist, mit dem Erfolg des Beaujolais Nouveau zu tun hat, der nach wie vor mit Pauken und Trompeten am dritten Novemberdonnerstag nach der Ernte in die ganze Welt verfrachtet wird. Mag sein, dass dieser Erfolg an der Marketingfront die Winzer träge machte, sie dazu veranlasste, das Letzte aus ihren kargen Böden zu pressen, mit koscheren und weniger koscheren Mitteln. Mag sein, dass die halbe Weinwelt auf den Zug des Jungweinkults gehopst ist und das Beaujolais auf Dauer mit der Konkurrenz nicht mithalten konnte. Mag sein, dass, als seinerzeit alle anderen Weinregionen der Welt Bordeaux kopierten, das Umdenken zu spät eingesetzt hat und die Beaujolaiswinzer ratlos zuschauten, wie wir Weinsammler unsere Keller zu Eichenfriedhöfen umfunktionierten. Doch heute ist alles ausgestanden und wir Weinfreunde um eine schlechte Erfahrung reicher. Lernen wir doch aus unseren Fehlern! Entdecken wir wieder Weine, die Spass bereiten, echtes Terroir vermitteln, gut gemacht sind, von echten Winzern, die längst eingesehen haben, dass es so nicht weitergehen kann!

Simple Freude am Süffigen

Gibt es ein pittoreskeres Weinland als diese ewig grünen Hügel am Fuss der Berge, mit ihren steilen, kargen Flanken aus rostrosa Granit, aus verwittertem Gestein vulkanischen Ursprungs, aus blauem Geröll von Schiefer und Diorit, bald vermischt mit magerem Sand, aus Sandstein, von Adern von Kalk und Lehm durchzogen? Wo Dörfer sich eng an ihre Kirche schmiegen, Rebtrakoren oft die einzigen Fahrzeuge sind, die über schmale Strässchen tuckern, sich durch enge Täler und über einsame Pässe winden, und wo selbst Telefonmasten und Hochspannungsleitungen zum Lokalkolorit beitragen? Zeigt der verschmähte Gamay, hier obligatorisch von Hand gelesen, anderswo auf der Welt so viele Facetten wie in den beiden Regionalappellationen und den zehn Crus des Beaujolais? Gibt es einen anderen Wein, der immer, überall, zu allem und jedem mundet, jung, leicht gereift oder sich in einigen Fällen, wenn er in einem Spitzenjahre geerntet wurde, sogar nach langem Schönheitsschlaf im Keller von einem vermeintlich hässlichen Entchen in einen stolzen Schwan verwandelt, einen superben, lasziven Schmeichler mit dem Gehalt und der aromatischen Komplexität eines grossen Burgunders? Gibt es einen anderen Rebensaft, der so knackig wirkt wie ein Schaumwein, so erfrischend wie ein Weisser und doch vollmundig und gut strukturiert, wie man es von einem Wein granatroter Farbe erwartet?

Wer seine Vorurteile ablegt, entdeckt in den Crus des Beaujolais die simple Freude am süffigen, fruchtigen, auf Trinkigkeit ausgelegten Rebensaft wieder. In den Beaujolais Villages und der Basisappellation findet er den idealen Wein für jeden Tag, sogar in Form des ominösen Beaujolais Primeur. Die zehn Cru-Dörfer haben für jeden den passenden Partner für das ganze Leben – oder einen frivolen One-Night-Stand. Beaujolais ist weder vornehm intellektuell noch herztriefend oberflächlich, weder Thomas Mann noch Hedwig Courths-Mahler. Er ist gleich beides und damit nicht nur ein Wein der dritten Art, sondern auch gleich der Wein des dritten Jahrtausends. Der Beweis folgt auf den nächsten Seiten, mit einer Übersicht über die zehn Dorflagen und die beiden Regionalappellationen des Beaujolais.

Brouilly

Fläche: 1230 Hektar
Produktion: 8,5 Millionen Flaschen

Die grösste und südlichste der Cru-Lagen des Beaujolais am Fuss des Mont Brouilly. Die Bodenformation ist hier komplexer: Rosa Granit dominiert, oft in Form von Kies, vermischt mit Sand über Lehm und Kalk. Die Weine besitzen besonderen Charme, wirken fruchtig, rund und doch saftig und können schon jung genossen werden.

 

Côte de Brouilly

Fläche: 314 Hektar
Produktion: 2 Millionen Flaschen

Die mageren, kargen Böden um den Mont de Brouilly liegen inmitten einer grosszügigen Landschaft, unverkennbar und von Weitem zu sehen und sind vulkanischen Ursprungs. An den steilen Flanken erreicht die Rebsorte Gamay besondere Saftigkeit, Frische und aromatische Komplexität und lässt lagerfähige Weine voller Rasse entstehen.

 

Chénas

Fläche: 227 Hektar
Produktion: 1,3 Millionen Flaschen

Das kleinste der Beaujolais-Crus gilt als Wiege für Weine, wie Kenner sie mögen, mit delikat-würziger Aromatik und von grosszügiger, gut strukturierter und doch ausgewogener Art. 
Im höher gelegenen Teil liegen die Parzellen in oft sehr steiler Lage auf Böden von Granit, im unteren Teil auf steinigen, aber flacher auslaufenden Halden. Ein Chénas verdient generell drei 
bis zehn Jahre Flaschenreife.

 

Chiroubles

Fläche: 308 Hektar
Produktion: 2 Millionen Flaschen

Die höchstgelegene Lage der Region: Die Reben wachsen auf Höhen zwischen 250 und 450 Metern über Meer. Die dünnschichtigen Böden sind sehr karg und stärker sandhaltig. Der Gamay 
reift hier eine Woche länger als in den anderen Crus. Das fördert die blumige Aromatik, Eleganz und Frische. Ein Chiroubles wirkt selten imposant, sondern im Gegenteil schlank und lang.

 

Fleurie

Fläche: 830 Hektar
Produktion: 5,5 Millionen Flaschen

Für viele die charakteristischste Lage der Regi-on inmitten einer beeindruckenden Landschaft. Die Reben wachsen an teils ordentlich steilen Hängen auf mageren Böden aus verwittertem Granit von gräulich-rosaroter Farbe. Einen blumigen, eleganten, sinnlichen Fleurie kann man jung geniessen, im Alter von zwei bis fünf Jahren.

 

Juliénas

Fläche: 550 Hektar
Produktion: 3 Millionen Flaschen

Die Geologie ist hier im Nordwesten der Region besonders interessant. Die Rebparzellen liegen in einer Höhe von 230 bis 430 Metern auf Böden von «blauem Gestein», einer Mischung aus Schiefer und Diorit, Sandstein, Geschiebe und Lehm. Die Weine besitzen Mineralität und Frische und ein Bouquet von Blüten und roten Beeren.

 

Morgon

Fläche: 1130 Hektar
Produktion: 6,3 Millionen Flaschen

Die Geologie des zweitgrössten Crus des Beaujolais ist weniger einheitlich. Dominiert zwischen Saint-Joseph und Villié-Morgon der Granit, verschwindet dieser an der Côte du Py unter einer Schicht aus Geschiebe aus verwittertem Schiefer und vermischt sich teils gar mit Lehm. Die Weine, entsprechend vielfältig, geraten meist gut strukturiert, kräftig und fleischig.

 

Moulin à Vent

Fläche: 640 Hektar
Produktion: 3,2 Millionen Flaschen

Bekanntes Wahrzeichen ist die unter Denkmalschutz stehende Windmühle im Herzen des Crus. Die Rebberge liegen auf 200 bis 250 Meter Höhe auf homogenen, flachen Böden von graurosa Granit. Dank Struktur und Rasse wirkt ein junger Moulin à Vent in seiner Jugend recht kantig 
und herb. Fünf bis zehn Jahre gereift, mit verführerischem Bouquet von Cassis und Rose, kommt er einem klassischen roten Burgunder nahe.

 

Régnié

Fläche: 430 Hektar
Produktion: 2,4 Millionen Flaschen

Die Kirche von Régnié mit ihren zwei von weither sichtbaren Glockentürmen bildet eine ausgezeichnete Orientierungshilfe für Besucher. In der jüngsten Gemeindeappellation (1988) wachsen die Reben auf teils sandigen und kiesigen Böden von verwittertem Granit in einer Höhe von 250 bis 500 Metern über Meer und ergeben schlanke, frische und geschmeidige Weine mit würzig-mineralischem Bouquet von roten Beeren.

 

Saint-Amour

Fläche: 300 Hektar
Produktion: 2 Millionen Flaschen

Eine kleine, aber weltbekannte Gemeinde: Ein Viertel der Saint-Amour-Produktion wird jährlich am Valentinstag weggeputzt, was illustriert, 
wie hilfreich ein zugkräftiger Name sein kann. Und damit alle Verliebten auf ihre Rechnung kommen, macht die komplexe Geologie (Granit, Schiefer, Lehm) sowohl jung zu trinkende, verführerisch-elegante, sanft-fruchtige Weine als auch gut lagerfähige Tropfen von beträchtlicher Rasse und Kraft möglich.

 

Beaujolais

Fläche: 6000 Hektar
Produktion: 35 Millionen Flaschen

Die ausgedehnteste Zone des Beaujolais liegt weitgehend im Süden der Region, auf etwas fetteren, kalkhaltigen Böden. Beaujolais gibt es in drei Farben: Doch über 90 Prozent werden als Rotweine abgefüllt. Zwei Drittel der Produktion dient dem berühmt-berüchtigten Beaujolais Nouveau (1/4 der Gesamtproduktion, 25 Millionen Flaschen jährlich). Die Weine geraten 
fruchtig und süffig und sind jung zu geniessen. 
Dem Schicksal überlassene Reben zeugen 
von strukturellen Problemen.

 

Beaujolais Villages

Fläche: 4200 Hektar
Produktion: 30 Millionen Flaschen

Die Dörfer dieser Zone, im Norden der 
Region gelegen, verteilen sich wie Perlen an einer Kette rings um die zehn eigentlichen Crus. Die Gamay-Reben (Rotwein und Rosé), und Chardonnaystöcke (Weisswein) wachsen auf naturgemäss sehr unterschiedlichen Böden 
in einer Höhe von 200 bis 500 Metern. Die Rotweine weisen grundsätzlich grössere aromatische Intensität, Komplexität, Struktur und Dichte auf als einfacher Beaujolais. Ein Drittel der Produktion ergibt Beaujolais Nouveau.

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