Wachablösung am Alpennordkamm

Gipfelstürmer: Alpiner Weinbau

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Jan Geerk, Phil Wenger, Siffert/weinweltfoto.ch, z.V.g.

Wachablösung am Alpennordkamm. Die Gletscher ziehen sich zurück, die Weinberge sind auf dem Vormarsch. Vom Vierwaldstättersee aus stösst der Weinbau in Richtung Gotthard vor, und im Gebiet Thunersee haben die Reben nicht nur den Niesen, sondern auch den Eiger und das Stockhorn im Blick. Der Gang zum Berg eröffnet neue Genuss-Horizonte, denn die Alpen-Crus haben in den letzten Jahren kontinuierlich an Qualität zugelegt.

Ob Wilhelm Tell, wenn er denn je leibhaftig einen Fuss auf Urschweizer Boden gesetzt haben sollte, mit einem Glas Urner Wein auf sein Husarenstück, das legendäre Armbrustgeschoss, angestossen hat, wissen wir nicht. Aber möglich gewesen wäre es sehr wohl! Denn die Tell-Story wird dem Jahr 1307 zugeschrieben. Schon 80 Jahre früher, nämlich im Jahr 1248, wird eine Lieferung von Urner Wein an das Fraumünster in Zürich schriftlich erwähnt. Der Weinbau am nördlichen Alpenkamm ist also kein zeitgenössisches Phänomen. Vieles deutet darauf hin, dass bereits in den warmen Perioden des Mittelalters sowohl in der Urschweiz als auch am Thunersee in einem beträchtlichen Umfang Weinbau betrieben wurde. Flurnamen wie «Wiibärgli» oder «Im Räbeli» zeugen davon. Doch spätestens nach der Reblausinvasion am Ende des 19. Jahrhunderts zog sich der Weinbau wieder vom Alpennordfuss zurück.

Jetzt aber feiert er hier ein Comeback. Es sind innovative Idealisten, Weinliebhaber im wahrsten Sinne des Wortes, die als Hobby-Winzer und Quereinsteiger dieses kleine Wunder möglich gemacht haben. Während die Winzer im südlichen Teil der Alpen, etwa in Südtirol, aber auch im Wallis an den nach Süden ausgerichteten Talflanken schon seit Längerem prestigeträchtige Topweine von internationalem Renommee keltern, sind vergleichbare Spitzen-Crus von der Nordseite der Alpen zwar noch rar, aber es gibt sie! Etwa den Pinot Noir Barrique von Manuel Tresch (Weingut zum Rosenberg) in Altdorf. Oder den Spiezer Jubilé, einen vier Jahre auf der Hefe gereiften Schäumer von Winzerin Ursula Irion (Spiezer Alpine Weinkultur). Interessanterweise ist die Schweiz bis heute das einzige Land, wo am nördlichen Alpenkamm eine innovative Winzerszene wächst. In Bayern etwa, aber auch in Österreich hält der Weinbau dagegen noch ehrfürchtig weit Abstand von den Bergen…

Resistente Sorten im Vormarsch

Ohne Zweifel profitieren die helvetischen Bergwinzer neben ihrem treuen Helfer, dem Föhn, von der Klimaerwärmung. Voll ausgereifte Trauben mit hundert Grad Oechsle zu ernten, ist heute auch in Altdorf, Sarnen oder am Thunersee möglich. Schon eher gilt es auch hier, gegen zu viel Oechsle und Wucht anzukämpfen. Probleme bereiten allerdings die zunehmenden Wetterkapriolen, die am Alpennordrand besonders dramatisch ausfallen können. So haben die Bergwinzer im verrückten Sommer 2021 einen grossen Teil ihrer Trauben durch Falschen Mehltau verloren. Es waren die Autoren der Schweizer Terroir-Enzyklopädie «Stein und Wein», die den nördlichen Alpenrand erstmals als eigenständige Weinbauregion definiert und beschrieben haben.

Luzern hat sich vom Exoten zum etablierten Weinbaukanton entwickelt.

Das betreffende Gebiet, in dem die Böden zumeist aus Konglomeraten und Sandstein der subalpinen Molasse aus der letzten Phase der Alpenbildung bestehen, zieht sich vom Walensee über den Vierwaldstättersee bis zum Thunersee. Luzern, wo die Rebfläche gegenwärtig so schnell wächst wie nirgendwo sonst in der Schweiz, hat sich in den letzten Jahren vom Exoten zum etablierten Weinbaukanton entwickelt. Allerdings haben die Luzerner Terroirs mehr mit dem Mittelland gemeinsam als mit dem Alpenrand. Weitaus stärker wirkt der Einfluss der Alpen dagegen in Uri. Auch Obwalden und Nidwalden dürfen sich wieder Weinbaukantone nennen. Bei gesamthaft 3,3 Hektar Reben dominieren hier die pilzwiderstandsfähigen Sorten mit einem Anteil von über 90 Prozent. «Die Weine, die im Herzen der Schweiz am nördlichen Alpenrand wachsen, zeigen idealerweise subtile Primärfrucht und eine animierende Finesse. Sie erinnern mich an die Crus aus dem Südtirol, besonders an jene aus dem Vinschgau», sagt Beat Felder, Winzer und Rebbaukommissär für die Zentralschweiz

Die Kantone entscheiden

Übrigens: Auch die Politik hat zum kleinen Weinwunder am Alpennordrand ihren Beitrag geleistet. Bis 1999 wurde das Rebbaukataster vom Bund geführt. In den zuständigen Kommissionen hatten, wenig überraschend, die Vertreter der Westschweiz das Sagen. Und die Romands hatten wenig Interesse daran, neue Lagen in der Deutschschweiz in das Kataster aufzunehmen, weil sie langfristig nicht die Absatzchancen ihrer eigenen Weine gefährden wollten. Als die Hoheit über den Rebbau an die Kantone übertragen wurde, änderte sich die Situation. Die Verantwortlichen jener Kantone, in denen es noch keinen oder fast keinen Weinbau gab, beurteilten neue Projekte nun bedeutend wohlwollender. Für Beat Felder eine logische Entwicklung: «Erstens ist die Nachfrage nach regionalen Produkten permanent gewachsen. Zweitens hat die Klimaerwärmung die Voraussetzungen verändert. Der Alpennordrand mit seinen kühlen Nächten ist zur idealen Weinbauzone avanciert.» Zudem: Bei offiziellen Anlässen mit kantonseigenem Wein anstossen zu können, ist schliesslich nicht nur eine kulturelle Errungenschaft, sondern fast schon eine staatspolitische Pflicht!

 

Berner Oberland

Wer spektakuläre Rebbergsfotos schiessen will, muss zum Thunerseee fahren. Friedlich wachsen die Reben zwischen dem See und dem majestätisch wie ein Monolith im sanften Voralpenland thronenden Niesen. Und irgendwo weit hinten gibt sich sogar der Eiger zu erkennen. Die Idylle ist Schauplatz eines veritablen Weinwunders. Die Triebfeder dieser Entwicklung ist die Rebbau-Genossenschaft Spiez, die sich heute selbstbewusst Spiezer Alpine Weinkultur nennt und auf einer Rebfläche von 13 Hektar jährlich rund 80 000 Flaschen Wein produziert. Noch mehr als diese stolzen Kernzahlen überzeugt die Qualität der Spiezer Crus. Unter der Ägide der 52-jährigen Betriebsleiterin Ursula Irion werden hier heute Weine angebaut, die Komplexität, individuellen Ausdruck und eine sprichwörtlich alpine Frische perfekt in sich vereinen. Dies zeigt sich exemplarisch in der Flaggschiff-Linie «Gipfelweine».

Etwa im Spiezer Bergsteiger, dem im grossen Holzfass gereiften «Zweitwein» aus der Pinot-Noir-Traube. Mit seiner bewundernswerten Balance zwischen Samtigkeit, Kantigkeit und Frische gehört er zu jenen Weinen, bei denen man mit einem Glas beginnt und dann easy eine ganze Flasche trinkt. Das Prädikat «State of the Art» verdienen aus der gleichen Linie der temperamentvolle Spiezer Sauvignac und der Spiezer Brut Blauburgunder Jubilé, der vier Jahre auf der Hefe reift. Obwohl der Betrieb, dessen Anfänge auf das Jahr 1927 zurückgehen, als Genossenschaft organisiert ist, arbeitet das Team um Ursula Irion wie ein inhabergeführtes Weingut. Die engagierte Weinmacherin absolvierte zunächst ein Geografie-Studium, arbeitete dann bei Weingütern im Wallis, im Armagnac-Gebiet und in Alicante, bevor sie 2003 an den Thunersee kam. «Damals trank man hier einfach roten Spiezer oder weissen Spiezer», erinnert sie sich. «Heute wird unsere Arbeit viel differenzierter wahrgenommen. Und doch hat in Spiez der Wein noch nicht den Stellenwert wie in Epesses oder Féchy. An der lokalen Weingenusskultur müssen wir noch arbeiten.»

Das Herz von Ursula Irion schlägt für typische Cool-Climate-Gewächse, für «Bergsteigerweine mit Ecken und Kanten». Unter den veränderten Bedingungen müssen solche Crus heute erarbeitet werden. Die lehmhaltige Braunerde auf dem glazialen Geschiebe gibt viel Wasser und Stickstoff ab, «die daraus resultierende Wüchsigkeit versuchen wir mit schwachwüchsigen Unterlagsreben und Methoden der regenerativen Landwirtschaft auszugleichen». Auch den regelmässig vor der Ernte einsetzenden Föhn sieht sie nicht mehr nur als Freund und Helfer. «Ich bevorzuge eine langsame Reife bei kühlen Nächten». Grosses Potenzial sieht sie in widerstandsfähigen Sorten wie Sauvignac oder Cabernet Jura. Die Weine, die sie und ihr Team aus diesen Neuzüchtungen bereits keltert, sind qualitativ schweizweit wegweisend.

Weintipps

Spiezer Alpine Weinkultur
Jubilé Blauburgunder Schaumwein
Brut 2016, Thunersee AOC

17.5 Punkte | 2021 bis 2025

Helles Aprikosengelb. Vielschichtige Aromen von Kernobst, besonders Quitten, dazu ein Anflug von karamellisierter Apfeltorte und Brioche. Am Gaumen dicht gewoben und ausdrucksstark. Geradlinig, sehr frisch und knochentrocken.

www.alpineweinkultur.ch

 

Spiezer Alpine Weinkultur
Sauvignac 2020, Thunersee AOC

18 Punkte | 2021 bis 2026

Spontan vergoren und auf der Feinhefe ausgebaut. Vielschichtige Aromatik mit Noten von Mirabellen, Agrumen,  weissen Blüten und traubenwürzigen, an Moschus erinnernden Komponenten. Am Gaumen gehaltvoll, saftige Säure. Ausdrucksstark und temperamentvoll.

www.alpineweinkultur.ch

 

Rindisbacher Weinmanufaktur Bern
«Chatzumuus» 2019, Thunersee AOC

17.5 Punkte | 2021 bis 2027

Überaus gelungene Cuvée aus Cabernet Dorsa und Gamaret. Aromen von Waldbeeren, eingelegten Kirschen, Dörrpflaumen, Rumtopf, unterlegt von edlen Würznoten, mit einem Anflug von Nelken. Am Gaumen sehr elegant, mit zarter Beerenfrucht und belebender Säure.

www.weinmanufaktur.ch 

 

Innerschweiz

Er ist leider von der Autobahn aus nicht zu sehen. Doch wer sich vom Vierwaldstättersee aus dem Gotthard nähert, passiert bei Silenen im Kanton Uri den südlichsten Rebberg auf der Nordseite des Gotthards. Ruth und Joe Kempf-Holdener haben 1996 in der Lage Buchholz ein Drittel von einem Hektar mit den Sorten Pinot Noir, Gamaret, Muscat Oliver und Riesling-Sylvaner bepflanzt und betreuen die Anlage bis heute als Freizeitwinzer. Die Reben wurzeln hier im kristallinen Gestein des Aaremassivs. Mit tatkräftiger Unterstützung des ältesten Urners, dem Föhn, erreichen sie beim Blauburgunder problemlos die Hundert-Oechsle-Schallmauer. Übrigens: Von ihrem Rebberg aus sind es nur noch 17 Kilometer bis zum Nordportal des Gotthardtunnels.

Vom Hype um den Urner Pinot

Der Kantonshauptort Altdorf ist das Zentrum einer je länger je mehr illustren Winzerszene im Kanton Uri. Das Weingut zum Rosenberg mit seinen 1,3 Hektar Reben am Hang des ehemaligen Kapuzinerklosters, nur einen Steinwurf vom Tell-Denkmal entfernt, gilt als Grand Cru. Im Jahr 2012 hat ein motiviertes Team diesen Rebberg, den der ehemalige Möbelschreiner und Winzer-Quereinsteiger Alois Schuler vor mehr als 20 Jahren angelegt hat, übernommen. Und kürzlich kam eine weitere 0,4 Hektar grosse Parzelle im benachbarten Bürglen dazu. Diese hatte Gusti Planzer, lange Zeit Wirt im legendären Gasthaus «Schützenhaus» vor 40 Jahren mit Pinot Noir bepflanzt.

Die treibende Kraft hinter dem dynamischen Projekt, die diese zwei bekannten Rebparzellen nun bewirtschaftet, ist Manuel Tresch. Er war lange Zeit in Arosa als Koch beschäftigt, bis er seine Leidenschaft für den Wein zum Beruf machte und bei der Familie Schwarzenbach im zürcherischen Meilen eine Winzerlehre absolvierte. Dort arbeitet er heute noch und vinifiziert in Meilen auch seine Urner Trauben. «Zweieinhalb Tage im Keller am Zürichsee, dann zweieinhalb Tage in den Reben in Altdorf, was will ich mehr?», fragt Tresch.

Kein Wunder, dass vor allem rund um den Pinot Noir, von dem er künftig rund 4000 Flaschen produzieren kann, ein Hype entstanden ist. Vom Terroir her sind die föhn-verwöhnten Lagen in Altdorf und Bürglen durchaus mit der Bündner Herrschaft vergleichbar. So zeigt sein Urner Pinot ähnlich viel gut gebündelte Kraft wie die Topgewächse aus Fläsch oder Malans. Die Konsequenz: Das Paradegewächs des Gutes, der Pinot Noir Barrique, ist heute schon ausverkauft, bevor die Trauben geerntet werden. Von den Parallelen zur Bündner Herrschaft inspiriert, hat Manuel Tresch übrigens kürzlich einen Block seines Rebberges neu mit Chardonnay bepflanzt. Reift hier schon das nächste Urner Weinwunder heran? «Zweifelsfrei könnten in Uri noch mehr Spitzenweine reifen, doch die dafür nötigen, noch freien Sülagen sind nahezu ausgeschöpft.

Quereinsteiger setzen Akzente

Seit auch in Obwalden und Nidwalden engagierte Quereinsteiger ausgewählte Lagen mit Reben bepflanzt haben, wird nun flächendeckend in allen 26 Kantonen der Schweiz Wein angebaut. Das Winzer-Ehepaar Peter Krummenacher und Karin Dähler Krummenacher hat Obwalden quasi im Alleingang wieder zum Weinbaukanton gemacht und damit im geografischen Zentrum der Schweiz eine verlorene Tradition wiederaufleben lassen. Krummenacher hat eine abenteuerliche Berufskarriere hinter sich. Der 56-Jährige übernahm zuerst den Bauernhof seiner Eltern, wurde dann Jurist in einer international tätigen Anwaltskanzlei und schliesslich eben Winzer. Sein Wein-Abenteuer begann er schon 1997. Heute bewirtschaftet er in Tellen bei Kägiswil, am Landenberg sowie in Kirchhofen im Kantonshauptort Sarnen rund 1,5 Hektar mit den resistenten Sorten Regent, Cabernet Jura und Solaris. Bereit seit 14 Jahren vinifiziert er seine Trauben eigenhändig. Dafür hat er den Familien-Bauernhof zum Boutique-Weingut umfunktioniert. Das entsprechende Knowhow hat er sich in Kursen und als Autodidakt angeeignet.

Und Nidwalden? Hier sind die Winzerin Erlita Terte und ihr Partner Beat Zimmermann, einst Mitbegründer der Gleitschirm-Flugschule Engelberg, daran, ein SchaumweinGut aufzubauen. Vier Hektar soll das Projekt in Ennetbürgen am Südhang des Bürgenstocks einst umfassen. 1,7 Hektar sind schon angepflanzt, mit Chardonnay, Pinot, aber auch resistenten Sorten. Man darf gespannt sein!

Weintipps

Weingut zum Rosenberg
Pinot Grigio 2020, Uri AOC

16.5 Punkte | 2021 bis 2025

Aromen von Kernobst, besonders Birnen und Mirabellen, dazu exotische Früchte wie Melonen. Auch im Gaumen von Primärfrucht geprägt. Elegante Fülle, saftige, tragende Säure.

www.weingut-zum-rosenberg.ch

 

Weingut zum Rosenberg
Pinot Noir Barrique 2019, Uri AOC

17.5 Punkte | 2021 bis 2028

Ein ganzheitlicher Urner Cru, wurde er doch in Barriques aus Urner Eiche ausgereift. Klar herausgearbeitete Aromen von frischen roten Beeren, herbale Noten. Dezente Würze. Am Gaumen kernig eigenständig. Präsente Säure. Frisch!

www.weingut-zum-rosenberg.ch

 

Weingut Tellen
Cabernet Jura Blanc de Noir 2019
Obwalden AOC

16.5 Punkte | 2021 bis 2023

Helles Kupferrot. Zart wirkende Aromen von roten Beeren, dazu florale Noten. Im Gaumen ausgewogen und fruchtbetont. Animierende Spiel zwischen Fruchtsüsse und beschwingter Säure.

www.weingut-tellen.ch

 

Weingut Tellen
Cabernet Jura Barrique 2018
Obwalden AOC

17.5 Punkte | 2021 bis 2027

Edler Duft von Waldbeeren und eingelegten Pflaumen. Dazu Tabak, Rauch, Unterholz und Kräuter. Am Gaumen kräftig und gut strukturiert. Getragen von einer präsenten, saftigen Säure.

www.weingut-tellen.ch 

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