Das andere Burgund

Reise zum Mittelpunkt der Erde

  • Kathedrale Saint-Étienne in Auxerre

Das andere Burgund ist keine Illusion, kein verborgenes Schlaraffenland, umgeben von einer dicken Dutzendweinmauer, durch die man sich hindurchschlürfen muss. Es liegt offen und für jeden zugänglich da und muss nicht erst mühsam erobert werden, winkt am Weg, an der Grenze zu Bekanntem. Eine Reise zu den verborgenen Schätzen des Burgund.

Die «anderen» Burgunder wird man erst schätzen, wenn man das «andere» Burgund kennenlernt. Wein allein ist viel Wasser mit Gerbstoff und Säure und Alkohol. Zum kulturellen Akt wird er erst durch eine gute Geschichte. Die kann man sich zwar auch erzählen lassen. Doch am besten erlebt man sie selber. Man mag sich ein paar Tage Zeit dafür nehmen und einen Abstecher in die Gegend von Auxerre oder ins Mâconnais planen, oder ein paar Stunden nur, und von Beaune aus, wo das Burgunder Herz pulsiert, Dörfer wie Savigny oder Chorey, Ladoix oder Marsannay besuchen, die Haut-Côtes, Saint-Romain, Maranges, das Couchois oder die Côte Chalonnaise. Man verzichte ganz einfach ausnahmsweise einmal darauf, mit Touristen aus aller Welt um den besten Stehplatz vor dem Kreuz bei La Romanée-Conti zu balgen oder vor dem Clos Vougeot Schlange zu stehen. Stattdessen schaukele man gemächlich über autoleere Strässchen, schlendere gemütlich durch schmucke Dörfer, geniesse im Schatten der Linde des Landbistros ein Glas Bouzeron oder einen cremigen Crémant, klopfe bei Winzern an die Tür, die für Besucher noch Zeit übrig haben, oder lasse sich in der Genossenschaftskellerei kompetent beraten.

So wird man verstaubte Vorurteile abbauen und eine frische Welt auftun. Und nie mehr behaupten, das Burgund sei zur Spielwiese für neureiche russische Mädchenhändler verkommen, sondern in diesem uralten Rebenland eine brandneue Weinheimat wiederfinden.

Grand Auxerrois

Schöne neue Welt

Schlechtes Wetter hat auch sein Gutes. Selbst für den Fotografen. Es zwingt zu Geduld und genauem Hinschauen. Es verschlingt Zeit, doch es spuckt sie gleich wieder aus, stellt, was es dem Schnappschussjäger geklaut hat, dem aufmerksamen Betrachter zur Verfügung, der dankbar die dröhnende, röhrende, stampfende Zivilisation der Autobahnen und Umfahrungsstrassen hinter sich lässt, um geruhsam über einsame Wege zu stampfen, den Boden unter den Füssen spürt statt den lauten Wind, der über Kotflügel rasselt, auf Adlerauge und Röntgenblick setzt statt auf das Blinzeln durch die von der Sonne geblendete, angelaufene, vom Strassenstaub getrübte Brille. Überflug macht Einsicht Platz: Aus der Distanz gemustert, mit dem Teleobjektiv erlegt, sind alle Katzen grau, alle Rebhügel grün und alle Böden braun, selbst die schlecht bestellten. Wer auf Licht wartet, das nicht kommen will, hat trotzdem eine Erleuchtung: Mein Gott, ist diese Gegend herrlich!

Der Abstecher in den Nordwesten des Burgund, als Stippvisite geplant, wird so zur eigentlichen Initiation. Der Blick aus der Höhe über den Reben auf Auxerre, über dem sich die Gewitterwolken ballen, Zentrum einer völlig verkannten Weinregion, selbst unter grauem Himmel als hübsche Provinzstadt auszumachen, mit seinen Kirchen, Winkeln und Gässchen, seiner Brücke, in deren Mitte das Denkmal von Paul Bert thront, dem Erfinder der öffentlichen laizistischen Schule. Die graugoldenen Hänge von Saint-Bris mit ihren klobigen Kalksplittern, die bei jedem Schritt knirschen und rumpeln und rollen und die Schuhe zerkratzen. Die Rebinseln des Auxerrois im Meer der endlosen lindgrünen und strohgelben Weizenfelder, über denen Flügel moderner Windmühlen drehen und Strom mahlen statt Korn.

Avallon, Geburtsstadt von Festungsbauer Vauban, nur ein paar Kilometer von der berühmt-berüchtigten Autobahn A6 entfernt, die Paris mit Beaune, Mâcon, Lyon verbindet und damit die sonnenhungrigen Bürger der kühlen Kapitale mit dem heiss geliebten Süden, zu hungrig auf Sea, Sex & Sun, um den Kombi mit der Zeitmaschine zu vertauschen, zu ungeduldig, um die Reise zum Badestrand durch einen Kopfsprung ins Herz der französischen Provinz zu unterbrechen. Sie lassen das schmucke Avallon rechts liegen, verpassen es, durch das pittoreske Stadttor mit Zeitglockenturm zu stolzieren, das jeden Berner neidisch macht, nehmen nie einen Umweg über den einsamen Weiler Tharoiseau in Kauf, um den traumhaften Blick auf Vezelay zu geniessen, Hochstätte des Christentums, dessen Weissweine schon im Mittelalter klar und frisch wie Quellwasser waren und heute wieder am steilen Hang unter dem Pilgerort mit seiner Klosterbruderschaft und der weltbekannten Basilika gehegt und gepflegt werden, wo Spiritualität und Mystik aus jeder kalksteinernen Pore tropfen.

Sie kurven mit links um Chitry, das wie viele Dörfer – Precy-le-Sec, Annay-la-Côte, Luxy-le-Bois – einen Zunamen verdient: Chitry-le-Fort. «Stark» ist die alte Wehrkirche aus dem 13. Jahrhundert mit ihren drei pittoresken Türmen, die denen einer Trutzburg gleichen – tatsächlich in mehr als einer Beziehung. Mit Zunamen schmücken sich weitere Weindörfer: Saint-Bris-le-Vineux, Coulanges-la-Vineuse, Irancyla-Rouge. Der von Irancy ist zwar inoffiziell und soll darauf hinweisen, dass hier ausschliesslich Rotwein angebaut wird. Stänkerer aus der Nachbarschaft behaupten hingegen, das käme vom eigenwilligen und kämpferischen Charakter der Einwohner dieses so typischen wie pittoresken Winzerdorfs mit eigener AOC, die als einzige im Burgund einer uralten Sorte namens César Asyl gewähren, die einst mit den römischen Legionen hier angekommen sein soll.

Das Anbaugebiet der Yonne und des «Grand Auxerrois», zu der all diese «kleinen» Appellationen im Dreieck Avallon-Auxerre-Tonnerre gehören, wird durch das weltbekannte Chablis dominiert. Im Gegensatz zu Chablis wird Rebbau hier nicht als Monokultur betrieben, was die ländliche, hüglige Gegend besonders abwechslungsreich und reizvoll macht. «Tja, die würden ja schon alle gerne zu uns gehören», meinte ein Chablis-Winzer etwas herablassend. Ohne Chablis den Verdienst an hervorragenden Terroirs und ausgezeichnet arbeitenden Winzern absprechen zu wollen: Terroir-, klima- und qualitätsmässig würden sie es glattweg verdienen, die ausgezeichneten Lagen bei Tonnerre, Chitry und sogar Saint-Bris (selbst wenn hier wie an der Loire ausschliesslich Sauvignon Blanc und Gris angebaut werden). Doch dann würden sie in der Fülle untergehen. Damit sie dennoch überleben und gedeihen, auch ohne klingenden Namen, braucht es einfach eine Handvoll interessierter Weinfreunde, die bereit sind, ein paar neue Saiten auf die Kellerharfe zu spannen.

Mâconnais

Verwunschenes Weissweinparadies

Wurde selbst für mich, der ich das Burgund wie meine Hosentasche zu kennen glaubte, das Vertiefen meiner Bekanntschaft mit den Anbaugebieten von Auxerre, das ich einzig dem grauen Himmel verdanke, der mich tagelang da festgehalten hat, zur positiven Überraschung, traf ich im Mâconnais auf einen alten Bekannten. Einen frisch herausgeputzten! Lag’s an der Sonne, die nach Wochen schlechten Wetters plötzlich strahlte wie eine frisch verliebte Göre und mir die rosa Brille verpasste? Noch nie kamen mir die hübschen, in die grünen Laken sanfter Hügel gebetteten Dörfer so frisch herausgeputzt vor, flimmerten die Felsen, die über den Rebgärten wachen, in der vom Wochen dauernden Regen klar gespülten Luft so golden, und selbst das früher so graue Mâcon schien nach Seife und Generalüberholung zu duften. Überall ratterten Baumaschinen, werkten Arbeiter, belegten Strassen und Gassen neu, schrubbten Fassaden rein und kleideten Häuserviertel frisch ein. Unter dem russigen Aschenputtel an der Saône kommt langsam, aber sicher eine fesche Prinzessin zum Vorschein, die nicht länger im Spinnennetz der Autobahnzubringer und Umfahrungsstrassen zappelt, sondern befreit aufatmen und dem ganzen Mâconnais, das mehr und mehr dem Bild des gelobten Lands in Chaplins «Great Dictator» gleicht, neues Leben einhauchen will.

Hoffentlich macht dieser spürbare Elan auch bald mit der Rolle als verkanntestes Weisswein-Schlaraffenland der Welt Schluss, die dieses Paradies für mutige Radler und stramme Wanderer bis heute spielen muss. Bacchus sei mein Zeuge: Nirgendwo gibt es eine solche Fülle ausgezeichneter und doch preiswerter Weine auf Chardonnay-Basis, die es im besten Fall mit einem der unbezahlbaren Spitzenweine der Côte-d’Or aufnehmen können und im schlechtesten mit jedem anderen trinkigen, erfrischenden Sommerwein. Nirgendwo findet man Kreszenzen, die so anpassungsfähig sind und sich so gut auf eine Küche jeder Couleur abstimmen lassen. Die grossen weissen Burgunder, die uns beinahe abhanden gekommen wären, haben in diesem alten Anbaugebiet eine neue Heimat gefunden: Und wenn sie nicht alle getrunken sind, leben sie morgen noch.

Hautes-Côtes

Wein aus Höhen mit Tiefe

Wer ohnehin im klassischen Burgund weilt, sollte unbedingt den Hautes-Côtes (de Beaune oder de Nuits) einen Besuch abstatten. Statt von Süden nach Norden zu brausen und zurück, lege er einfach im geeigneten Moment einen rechten Winkel auf der Strasse ein und gewinne etwas an Höhe. Die Hautes-Côtes heissen nicht nur so. Sie liegen wirklich ganz oben und blicken stolz auf die Grands Crus herab. Nur ein paar Minuten von Nuits oder Gevrey oder Corton entfernt, aber für viele Weinliebhaber am Ende der Welt, sind die Dörfer nicht weniger blumengeschmückt oder sauber herausgeputzt. Nur viel autofreier. Wie im Auxerrois oder in der Côte Chalonnaise liegen Rebgärten inmitten von Feldern, Hainen und Wäldern. Auch hier sind die Winzer zuvorkommend und empfangen den Besucher mit Handschlag und breitem Lachen. Weissweine und Crémants sind besonders gelungen, schlank und frisch und doch kräftig.

Wer es wirklich schrecklich eilig hat, muss nicht einmal die Spitzenweinzone verlassen, wenn er davon probieren will. Er findet sie bequem im Weinshop, im Bistro, in der Kellerei. Mehr und mehr bekannte Weinbaubetriebe investieren in ein paar Hektar Bourgogne Hautes Côtes de Nuits oder de Beaune und damit in die Zukunft. In ihre wie in unsere.

Côte Chalonnaise & Co

Verkanntes gleich nebenan

Theorie ist schon gut. Aber Praxis ist immer noch besser. Ich mag noch so sehr darauf pochen, wie ähnlich sich, sagen wir, Rully und Chassagne, Chorey und Corton, Ladoix und Nuits-Saint-Georges sehen. So richtig glauben wird der Leser dies erst, wenn er es selber mit eigenen Augen sieht, am eigenen Leib, mit eigenem Wagen erfährt. Wie verloren wäre ich beim Aussortieren meiner Landschaftsaufnahmen, hätte ich nicht Bordbuch geführt und Metadaten aufgezeichnet! Man fahre von Chassagne über die D 113 nach Santenay, von da aus nach Dezize-les-Maranges und weiter Richtung Couches. Die Landschaft ändert sich, doch die Böden und Lagen sehen sich weiter ähnlich. Das Relief wird höchstens etwas grosszügiger, die Hügel werden etwas höher, die Dörfer schwimmen obenauf wie Fettaugen auf der Suppe, bewacht von protzigen Schlössern und trutzigen Burgen, die Weinberge verstecken sich in Kornfeldern und Wiesen, auf denen friedlich Rinder grasen.

Etwas weniger augenfällig mag das sein, wenn der neugierige Besucher von Chassagne über Chagny nach Givry fährt, denn hier wird der Rebensegen kurz vom Fluch der Zivilisation unterbrochen. Doch kaum ist er am Ziel angelangt, fühlt er sich wieder unter alten Bekannten. Givry oder Rully könnten genauso gut in der Côte-d’Or liegen. Die Lagen um Mercurey, Montagny oder Bouzeron mögen mehr Eigencharakter zeigen. Das macht sie im schlechtesten Fall unverwechselbar. Denn auch hier sind Böden hervorragend und die besten Lagen bestockt. Der Blick über die Grenzen der bekannten Climats der Côtes d’Or lohnt sich also.

Das gilt ganz besonders für die Gemeinden im Herzen des Burgund, die gleich neben den ganz grossen liegen: Maranges und Santenay, Chorey- und Savigny-les-Beaune, Ladoix-Serigny und Marsannay-la-Côte. Einige dieser «Angrenzler» haben den Sprung in die erste Liga der Burgunder Weine mittlerweile ganz oder beinah geschafft, meist dank des Verdienstes hartnäckiger Winzer. Auxey-Duresses, Saint-Aubin, Monthelie, Pernand-Vergelesses oder Fixin werden nur noch von Weinbanausen, die sich besser an Hopfen und Malz halten würden, mit Verachtung belegt. Andere warten weiter auf ihre Anerkennung. Damit sie ihr Handicap endgültig begraben können, müssen wir einfach das Gleiche mit unseren Vorurteilen tun.

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