Etwas für jeden Gaumen

Einmalige Vielfalt der aktuellen Bordeaux-Jahrgänge

Text & Fotos: Rolf Bichsel

Die aktuell angebotenen Bordeaux-Jahrgänge könnten unterschiedlicher nicht sein. Das gilt besonders für die letzten, den ausgelieferten, grosszügigen 2019er und den komplexen, aber klassischeren 2021er.

Den abgefüllten und ausgelieferten Jahrgang 2019 mussten (oder durften) wir noch in unserem Stützpunkt im Süden von Bordeaux unter die Lupe nehmen. Den Jahrgang 2021 – offiziell einen Monat später freigegeben als dies früher der Fall war, verkosteten wir dann endlich wieder vor Ort, direkt auf den Gütern und wie immer seit über drei Jahrzehnten bei exklusiv für VINUM organisierten Degustationstouren. Dass es dabei zu manchmal schon fast rührenden Wiedersehensszenen kam, nicht nur unter echten Freunden, sondern sogar unter guten alten Feinden, erstaunt nur am Rand. Spitzen-Bordeaux sind Weine für die ganze weite Welt, Weine, die gut und gerne reisen, und das tun auch deren Macher, denen die Zeit während der diversen Lockdowns mitunter wohl ganz schön lang vorgekommen ist, trotz Weinjahren – 2021 ganz besonders –, die alle Hände voll zu tun gaben. Wir akzeptierten denn auch (ganz im Gegensatz zu unserem Grundprinzip während Verkostungstouren), ein paar Lunchs und Diners mit Machern und Besitzern. Schliesslich war so viel passiert, gab es so viel zu erzählen! Neuer Keller, neue(r) technische(r) Direktor(in), neue Richtlinien im Anbau, Umstellung auf Bio... Niemand wagt es heute ernstlich, nicht wenigstens ein wenig mit der Idee naturnahen Anbaus schwanger zu gehen oder mit modischen Schlagworten wie «Agroforesterie» (gemeint ist das Pflanzen von Bäumen und Büschen in den Reben) oder «Karbonbilanz» um sich zu werfen – das ist gut so.

Ja, Bordeaux grünt weiter. Besonders gewitzte Köpfe leiteten ihre Periode der Umstellung auf biologischen Anbau kurz vor der Ernte ein (das Jahr zählt trotzdem für die dreijährige Phase der Bio-Konversion) und konnten so ein im Rebberg besonders arbeitsintensives Jahr noch konventionell angehen. Andere gingen den eingeschlagenen Weg konsequent weiter, etwa, indem sie alles daran setzten, die Reaktivität im Fall von Problemen wie falschem Mehltau drastisch zu erhöhen, das heisst, die Zeit der Zubereitung und Ausbringung von natürlichen Präparaten zu verkürzen, um nicht die gleichen Ernteausfälle zu erleiden wie etwa 2018. Verbessert wurden auch die Mittel gegen den Schutz vor Spätfrösten, vorab möglichst lang herausgezögerter Rebschnitt, spezielle Windmühlen etc. Ein anderes Mittel ist das Abbrennen von Strohballen im Rebberg (oder Öl in speziellen Heizkörpern) – nicht eben ökologisch, doch wenn so die Ernte gerettet werden kann, zumindest verständlich. Nach dem ungewohnt warmen Februar (doch was ist schon «gewohnt» in unserer seltsamen Epoche) haben Frostnächte Anfang April dennoch für Ernteausfälle gesorgt, besonders in Sauternes/Barsac. Im Gegensatz zu den letzten sechs, sieben Jahrgängen (und ganz besonders zu den letzten drei) blieb das Wetter nach dem milden Winter und dem regnerischen Frühsommer 2021 regnerisch und mässig warm. Ohne den Umschwung während der Ernteperiode September/Oktober hätte Bordeaux wohl Weine à la 2013 eingefahren. Dennoch pegelte die Reife sich (besonders, was das Gleichgewicht von Zucker und Säure anbelangte) zögerlich an der unteren Grenze ein.

Mit Mass und Fingerspitzengefühl

Für uns war es daher nach zwei Jahren Zwangspause mit beschränkten Gutsbesuchen besonders aufschlussreich zu sehen und zu hören, wie die einzelnen Weinmacher die Probleme von 2021 gemeistert hatten. Seien wir ehrlich: Noch vor zehn Jahren wäre ein Grossteil der Macher der Versuchung erlegen, das im Rebberg erlittene Defizit im
Keller aufzufangen, durch künstliche Konzentration und viel Eiche. Glücklicherweise ist genau das Gegenteil passiert. Die meisten Güter verzichteten auf Umkehrosmose oder Ablassen von Most (Saignée) und griffen stattdessen zum guten alten Zuckersack. Gerade die massvoll angewandte Chaptalisierung sorgte für die erfreulich ausgeglichenen, stilvollen Weine mit (endlich wieder) erträglichem Alkohol, guter Säure, feinkörnigem Tannin und sehr interessantem aromatischem Potenzial, die wir besonders am linken Ufer vielerorts verkosten konnten. Interessant ist dabei, dass dort oft nicht der Cabernet Sauvignon angereichert werden musste, sondern der normalerweise zuckerreichere Merlot (noch eine absolute Premiere!). Dank des endlich wieder einmal erträglichen Alkoholanteils von rund 12,8 bis 13,5 Volumenprozent und der exzellenten Tanninqualität wurde die Primeurverkostung denn auch zu einem echten Vergnügen.

Als Eselsbrücke (und weil es an anderen allgemein verständlichen Ausdrücken fehlt) mag man 2021 effektiv als «klassisches» Bordeaux-Jahr bezeichnen, vergleichbar mit, sagen wir, 1988 oder 1993. Der Vergleich hinkt vor allem, weil sich fast alles geändert hat in den letzten 30 Jahren. Die Rebgärten sind besser unterhalten, die Erträge natürlich tiefer, Fruchtigkeit, Frische und Ausgewogenheit zählen heute fast überall mehr als Extrakt und Eiche. Selbst Jahre wie 2008 oder 2011 sind stilistisch mit 2021 höchstens verschwägert. Wie auch immer: Mit dem geschmeidigen und ausgewogenen 2017er, der heute bereits Freude bereitet, den exotischen und vollblütigen 2018ern und dem sinnlichen, vollmundig-knackigen 2019er hat Bordeaux Jahrgänge im Angebot, deren Bandbreite alles übertrifft, was die Region bislang produziert hat. Da kommt effektiv jeder Weinfreund auf seine Rechnung. Einsteiger finden unter den 2017ern eine ganze Anzahl Weine, die bereits heute gut munden. Wer generell eher vollmundige Weine aus südlichen Lagen mag, darf es ruhig mal mit ein paar Flaschen 2018er (am Markt) und 2020er (ab Anfang 2023 ausgeliefert) versuchen. 2019 wird all denen schmecken, die grosszügige und doch ausgewogene Weine schätzen. Wer diesen Jahrgang subskribiert hat, braucht es nicht zu bereuen, denn die Preise dieses relativ preiswert angebotenen Jahrgangs tendieren eher nach oben. 2019 konnten ferner auch weniger bekannte Güter und Regionen gute Resultate erzielen. 2019 ist folglich diesbezüglich ein Jahrgang für Schnäppchenjäger.

Komplex und überraschend

Kompliziert, komplex, stressig, aber schliesslich überraschend – das sind Ausdrücke, die auf den Jahrgang 2021 passen. Sauternes etwa hat nur wenig Wein produziert (weniger als die Hälfte der Güter bieten überhaupt Primeur an), doch die besten Weine sind von überraschend hoher Qualität. Grossartig sind die besten trockenen Weissen – vorab aus Pessac-Léognan. Was die Roten anbelangt, ist 2021 grundsätzlich ein Cabernet-Jahr (Sauvignon und Franc). Der (als erster austreibende) Merlot litt stärker unter den schwierigen Bedingungen. Als wir kurz vor der Ernte durch die Rebgärten von Saint-Émilion fuhren, hingen besonders in den tieferen Lagen kaum mehr Trauben. Der Cabernet Franc wurde weit besser mit der schwierigen Witterung fertig. Er trieb wie gewohnt etwas später aus und hielt sogar dem Regen stand: Wer (vor allem in den Pieds de Côtes, den unteren Hanglagen von Saint-Émilion) auf diese Sorte setzte, konnte beachtliche Weine einbringen, wie Cheval Blanc, Figeac, aber auch Angélus oder das einmal mehr verblüffende Laroze zeigen.

Das linke Ufer mit seinen grossen (und erst noch meist frostresistenteren) Cabernet-Sauvignon-Lagen war aber klar im Vorteil. Wer den «klassischen» Stil mag, findet dort die schönsten, harmonischsten, raffiniertesten und elegantesten Bordeaux seit 2016. Gerade da lohnt sich folglich der Kauf en primeur von Weinen, die aufgrund ihrer Harmonie bereits recht früh getrunken Spass bereiten werden, aber auch problemlos reifen können.

Ein Wort zu den bis Redaktionsschluss bekannten Preisen: Trotz sicher unregelmässiger, doch im obersten Segment ausgezeichneter Qualität, untadeligem Stil, leicht oder stark eingeschränkter Erntemenge und hohem Arbeitsaufwand wird 2021 kaum teurer. Aktuell liegt die Tendenz zwischen –10 und +5 Prozent. Das scheint fair und verdient eine klare Kaufempfehlung.