Klartext von Miguel Zamorano

Weinschätze soll man teilen

Text: Miguel Zamorano

Kann ich die grossen Weine aus dem Keller holen für Personen, die Grösse und Qualität dieser Weine nicht mal erahnen? Auf diese Frage, die man sich immer mal wieder bei einem langen Abend am heimischen Tisch stellt, kann es eigentlich nur eine glasklare Antwort geben.

In Zürich Wein zu kaufen, das macht enorm Spass. In nur wenigen Schritten erhält man Zugang zur weiten, fast grenzenlosen Welt der Weine, wie es woanders in Europa vielleicht nicht möglich ist. Es sei denn, es ist Samstag, 16:45 Uhr. Dann muss man die Beine unter die Arme nehmen und schnell sein – um 17 Uhr schliessen in der Global City Zürich sämtliche Fachgeschäfte. Für die Angestellten ein Segen, für den Verbraucher ein Graus. Und schade um die Flasche Riesling Kabinett, die ich nicht mehr meinen Freunden vor dem Grillieren servieren konnte.

Selbst schuld, wird jetzt mancher Lesende einwenden, wie kann man für eine Weinzeitschrift arbeiten und daheim keine Flasche Von Hövel Riesling Kabinett haben? Der Einwand ist berechtigt. Allerdings ist es ja auch so, dass in unseren Zeiten so viele Gewissheiten flöten gegangen sind, dass man jetzt dankbar sein muss, dass ABBA Reunion feiert. Was für ein Timing für eine Single – «I still have faith in you». Selten durfte wohl ein Lied dem Zeitgeist so zur Rettung eilen. Man möchte bei diesen Strophen mitträllern vor erlösender Freude, auf dass diese vier alten schwedischen Pop-Titanen uns mit der sahnigen Wärme ihrer Melodien Halt geben, den uns der Selbstzweifel der letzten 18 Monate geraubt hat. Wobei: Waren ABBA nicht diejenigen, die in den 70er Jahren dem Zeitgeist so richtig die Rebellion austrieben? Egal. Gott sei Dank, dass es ABBA nochmal gibt, damit kann man auch an einem Zürcher Samstag das Fehlen eines Riesling Kabinetts verkraften.

Die Gewissheiten, die uns der Wein beschert, bleiben so oder so von besonderer Natur. Es gibt Weine, die haben mich schlauer gemacht. Erst neulich war es der Jaspis Pinot Noir vom Badener Ziereisen aus dem Jahr 2009, der mich in die geheimnisvolle Welt dieser Rebsorte entführte. Es gibt Weine, die haben mich überrascht und mich demütig zugleich gemacht: wie der Pinot Gris Orange 2019 der Bernerin Anne Claire Schott oder der Pinot Grigio Skin 2018 vom Collio-Erzeuger Primosic. Dass man so was mit Grauburgunder hinbekommt, das ist schon stark.

Und schliesslich gibt es Weine, die haben mir einfach nur Glück beschert. Glück, weil ich mit ihnen in die Vino-Welt initiiert wurde und somit überhaupt das machen darf, was ich heute tue: über Wein schwadronieren und so tun, als hätte ich eine Ahnung davon. Zu jenen Weinen zählt zweifellos Bruno di Rocca von Vecchie Terre di Montefili aus dem Jahrgang 2000, zum Zeitpunkt der Entdeckung schon über zehn Jahre auf der Flasche. Nun müssen gereifte Crus nicht jedem gefallen, manche sind wirklich nur was für Liebhaber, aber dieser Wein ist mir im Gedächtnis geblieben, er ist mir unter die Haut gegangen, von dort wird er kommen, um mich jederzeit sanft, aber dezidiert daran zu erinnern, dass eigentlich nur die Toskana einen Freischein zum Paradies gewährt.

Darf man so einen Wein mit jemandem trinken, der von Wein keine Ahnung hat? Einige Händler bemühen an dieser Stelle die Formel «Her mit dem Volkschampagner» und meinen jene französischen Schäumer, die für kleines Geld über den Tresen wandern und das vermeintlich kleine Volk beglücken sollen. Davon ist hier nicht die Rede. Die Frage, die an einem langen Abend am heimischen Tisch immer mal wieder aufkommt: Soll ich die grossen Weine aus dem Keller holen, wenn jemand am Tisch sitzt, der Grösse und Qualität dieser Weine nicht mal erahnen kann?

Wahre Schätze teilen

Nun ist mir die oben genannte toskanische Perle vor kurzem erneut in die Hände geraten. Gleich eine ganze Kiste davon, zwölf Flaschen vom Jahrgang 1999. Es war eine Spende vom Schweizer Händler Casa del Vino für die Zürcher Freiwilligengruppe Essen für Alle, gehoben aus alten Restbeständen. Die Freiwilligengruppe verteilt seit Corona am Samstag in Zürich Essen für bedürftige Menschen und Sans-Papiers, ich helfe da immer wieder mit. Mehrere Kisten Bruno di Rocca erhielt die Gruppe so als Spende. Mit plötzlich so viel Toskana im Lager stellten mir viele Leute die Frage: Kann man diesen Wein unseren fleissigsten Helferinnen und Helfern schenken? Ich finde: Man muss sogar. Alles andere wäre ein Vergehen an der Weinkultur. Ein grosser Wein erschliesst sich jedem, der dafür empfänglich ist. Ich war nicht verwundert, als ein Helfer mir nach den ersten Gläsern schrieb: «Es war ein unfassbares Erlebnis.» In diesem Sinne stosse ich mit den Händlern an – Toskana für alle!

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