Klartext von Thomas Vaterlaus

Weinlegenden leben (nicht) ewig?!

Text: Thomas Vaterlaus

Legenden leben ewig. Gemeint sind nicht James Dean oder Jimi Hendrix, sondern jene Mythen, auf denen die Weinkultur basiert. Da wäre der noch immer unerschütterliche Glaube, dass Weine besser werden, wenn sie im Keller liegen. Beim Entkorken heisst’s dann aber eben meistens: «We should have met earlier!»

Jeder hat so seine eigenen Erlebnisse mit alten Jahrgängen. Weinmässig betrachtet natürlich. Einige dieser Treffen zwischen Mensch und betagtem Wein sind unvergesslich und zaubern einem noch Jahre später eine Träne der Rührung auf die Wange. Andere solcher Rendezvous sind eher der Sparte Horror zuzurechnen. Ich erinnere mich an einige Edel-Crus der Jahrgänge 1988 bis 1990 aus Montalcino und dem Piemont, die ich damals mit Geld, das ich eigentlich nicht hatte, kaufte. Als ich zehn Jahre später mit grosser Vorfreude erstmals zwei dieser Flaschen entkorkte, erwies sich deren Inhalt als so tot, wie Weine nur tot sein können. Und es kam noch schlimmer, stellte sich doch heraus, dass die entkorkten Todesfälle keine Einzelschicksale waren, sondern dass ich es mit einem kollektiven Selbstmord zu tun hatte. Ich war so enttäuscht und zornig, dass ich alle Flaschen auskippte. Doch das war ein Fehler. Denn als ich jenen Freund, der damals mit mir die gleichen Weine gekauft hatte, auf diese italienische Tragödie ansprach, meinte der mit breitem Grinsen: «Natürlich waren diese Jahrgänge völlig oxidiert, aber ich konnte sie trotzdem mit sattem Gewinn bei einer Auktion verkaufen!»

So lernte ich bezüglich gereifter Weine einen wichtigen Grundsatz: Wenn «No Name»-Weine nach ein paar Jahren von uns gehen, sind sie nicht nur tot, sondern dazu völlig wertlos. Wenn hingegen Icon-Weine früh das Zeitliche segnen, bleiben sie auch tot noch wertvoll. Mindestens so lange, wie man den Namen auf dem Etikett noch gut lesen kann. Und bis wirklich auch der allerletzte Banause gemerkt hat, dass Leichenschändung keine ehrenwerte Handlung ist.

Natürlich gibt es Bordeaux- und Burgund-Freaks, die mit buchhalterischer Akribie verfolgen, wie sich ihre Weine entwickeln, und die genau vorhersagen können, wann welcher Jahrgang seine optimale Trinkreife erreicht hat. Aber es sind Ausnahmen. In den frühen Ausgaben von VINUM wurde die Trinkreife oft sehr euphorisch angegeben. Als ich 1995 für das Heft zu arbeiten begann, kamen ab und zu Sammler in die Redaktion, entkorkten vor unseren Augen eine Flasche aus Bordeaux und meinten beim gemeinsamen Verkosten: «Gemäss ihren Empfehlungen vor zehn Jahren müsste dieser Wein nun den Höhepunkt seiner Genussreife erreicht haben. Und was ist er? Eine Leiche!» Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns für die zu euphorischen Trinkreife-Empfehlungen unserer Vorgänger zu entschuldigen und künftig mehr Vorsicht walten zu lassen. Also lieber ein paar Jahre weniger als zu viel anzugeben.

Weiss gewinnt

Zweifellos gewinnen viele Crus aus Bordeaux, dem Piemont oder dem Burgund, wenn man sie mal 20 Jahre vergisst. Aber wartet man noch viel länger, wird’s zum Lotteriespiel. Ein Winzer und Sammler gab mir mal einen Tipp, den ich bis heute beherzige: «Frag dich bei jedem alten Wein, der dich euphorisch macht, ob es wirklich die sensorischen Qualitäten sind, die dich begeistern oder vielleicht nur die viel bescheidenere Tatsache, dass dieser Wein nach all den Jahren überhaupt noch lebt, also lebensmitteltechnisch intakt ist. Und frage dich, ob der betreffende Wein vielleicht nicht mehr Spass gemacht hätte, wenn du ihn ein paar Jahre früher entkorkt hättest». Gemäss dieser Taktik bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich eher ein Jungwein-Trinker bin. Ich liebe den Spannungsbogen, den ich in jüngeren Weine erkenne, die klare Frucht, das kühl anmutende Temperament, die Griffigkeit, auch kernige Würze weitaus mehr als das oft ölige, pilzige, erdige und malzige in gereiften Rotweinen. Und ich habe bei der Familie López de Heredia in der Rioja gelernt, dass ich gereiften Weissweinen meist mehr abgewinnen kann als gereiften Rotweinen. Bei einer Verkostung vor rund zehn Jahren standen einige der historischen Viña Tondonia Gran Reservas aus den 70er und 60er Jahren auf dem Tisch. In Rot und in Weiss. In zwei Fällen sogar mit dem gleichen Jahrgang. Die versiegelten Flaschen hatten den kühlen Keller nie verlassen und zeigten kaum Schwund. Die Roten waren hervorragend, die Weissen schlicht überirdisch. Mein persönliches Resümee war, dass sich Rotweine während einer langen Reife eher linear entwickeln, Weissweine hingegen immer wieder ganz neue Dimensionen offenbaren. Das gilt nicht nur für weisse Riojas, sondern ebenso für Rieslinge, Chenin Blancs, gewisse Chardonnays und Chasselas