Warum wir trotz abgeho-bener Preise der Spitzenweine an Bordeaux glauben.
Bordeaux: Von wegen teuer!
Fotos: GettyImages/SpiritProd33, z.V.g.

Ja, es gibt sie, die Top-100-Châteaux, die preislich nur noch für Multimillionäre erschwinglich sind und bei denen selbst signifikante Preissenkungen, wie wir sie beim Jahrgang 2024 gerade sehen, aus «viel zu teuer» immer noch «zu teuer» machen. Doch daneben gibt’s unzählige Weine, die zu Unrecht im Schatten der grossen Namen stehen. Weine, die im Kontext des Preises extrem viel Genuss bieten, die von Familienbetrieben gekeltert werden, welchen das Wasser teils zum Hals steht. Wir brechen eine Lanze für die Winzerinnen und Winzer einer Weinregion, die zu Unrecht als zu teuer gilt.
Kaum ein Name elektrisiert die Weinwelt so sehr wie «Bordeaux». Das Bordelais steht für Geschichte, Prestige, komplexe Cuvées – und seit einigen Jahren zunehmend auch für eine Preispolitik, die für Verwirrung sorgt. Die Premiers Crus der legendären Weingüter des Médoc, Château Mouton Rothschild, Château Lafite Rothschild, Château Latour, Château Margaux und Château Haut-Brion, aber auch die Topweine der sogenannten Rive Droite, Château Cheval Blanc, Château Ausone, Château Lafleur und, und, und – sie alle erzielen bei Subskription oder auf Auktionen Preise, die längst in die Welt der Spekulation abgedriftet sind. Eine Flasche Pétrus? Oder Le Pin? Je nach Jahrgang im mittleren vierstelligen Bereich. Für viele Weinliebhaber sind solche Preise nicht mehr nachvollziehbar und, ganz simpel gesagt, nicht erschwinglich.

Natürlich: Es handelt sich um Weltklasse-Weine mit Historie, besten Terroirs und immensem Renommee. Aber was früher einmal als halbwegs verlässlich galt – die Preisentwicklung eines Weines über mehrere Jahrgänge hinweg –, ist heute ein Spiel mit dem Feuer. In guten Jahren werden die Preise mit Nachdruck nach oben geschraubt, gerne auch um 20 bis 30 Prozent, mit dem Verweis auf Qualität, Klima oder zu starke Nachfrage bei zu kleinem Angebot. Bis der Bogen überspannt ist. Dann folgen – wie aktuell – Absatzkrisen. Der Markt reagiert mit Zurückhaltung, die Subskriptionszahlen brechen ein, und plötzlich korrigieren viele Châteaux die Preise drastisch nach unten. Manchmal sogar unter das Niveau weniger begehrter Vorjahrgänge.
Und so kommt es, dass ein hervorragender Jahrgang heute deutlich günstiger angeboten wird als ein mittelmässiger aus dem Vorjahr – oder umgekehrt. Die Folge? Ein Flickenteppich an Preisen, der selbst Kenner ratlos zurücklässt. Für die Konsumentinnen und Konsumenten wird es immer schwerer, die richtige Kaufentscheidung zu treffen. Wer will heute eine Flasche in Subskription für 150 Franken kaufen, wenn der nächste Jahrgang – womöglich qualitativ ebenbürtig oder sogar besser – in zwölf Monaten für 100 Franken auf den Markt kommt?
«Das Château Laroque in Saint-Émilion gehört zu den aufsteigenden Sternen in Bordeaux; die Weine sind von ausgezeichneter Qualität, und der Preis ist mehr als korrekt.»
Diese enorme Preisvolatilität untergräbt das Vertrauen in das Bordelaiser Subskriptionssystem, einst das Herzstück des Bordeaux-Handels. Immer mehr Weinbegeisterte warten ab, kaufen später – oder wenden sich ganz ab. Denn wenn Kalkulierbarkeit fehlt, wird der Genuss zum Risiko. Und genau das steht der Region Bordeaux heute im Weg.
Doch Bordeaux ist mehr als seine überteuerte Elite. Viel mehr. Während die mediale Aufmerksamkeit Jahr für Jahr den paar Dutzend Topgütern gilt, arbeiten Hunderte Winzerinnen und Winzer abseits des Rampenlichts mit Leidenschaft, Handwerk und Fingerspitzengefühl – oft auf Terroirs, die denen der Grossen in nichts nachstehen. Sie produzieren mit hoher Regelmässigkeit Weine von höchster Qualität, die zudem zu äusserst anständigen Preisen auf den Markt kommen. Doch weil sie nicht im legendären Jahrgang 1855 klassifiziert wurden, weil sie «nur» Saint-Émilion-Grands-Crus sind, weil sie keiner berühmten französischen Familie gehören oder weil sie keine vermögenden asiatischen Investoren haben, bleiben ihre Weine im Schatten der Prestige-Cuvées. Und das ist ein Fehler.

Denn in den weniger prestigeträchtigen Appellationen Médoc, Haut-Médoc, Moulis, Listrac, Pessac-Léognan oder in den sogenannten «Satelliten-Appellationen» wie Fronsac, Castillon Côtes de Bordeaux oder Lalande-de-Pomerol finden sich beeindruckende Weine, die auch anspruchsvolle Gaumen überzeugen – für Preise, die oft unter 25 Franken liegen. Wer ein wenig sucht (und probiert), wird schnell feststellen: Bordeaux bietet ein unschlagbares Preis-Genuss-Verhältnis – wenn man bereit ist, die ausgetretenen Pfade zu verlassen.
Auch technologisch und stilistisch hat sich in den letzten zehn Jahren viel getan. Der überholte Ruf vom «untrinkbaren jungen Bordeaux» hält der Realität nicht mehr stand. Viele Winzer setzen auf frühere Trinkreife, weniger Extraktion und mehr Frische. Aufgrund des Klimawandels und dank präziserer Kellertechnik sind die Tanninqualitäten heute auch in mittelmässigen und kleinen Jahren auf einem Niveau, wie es früher nur in den besten Jahren erreicht wurde. Der klassische Bordeaux mit seinen würzigen, fruchtbetonten Cuvées aus Merlot, Cabernet Sauvignon und Cabernet Franc war nie zugänglicher.
Es ist ein Widerspruch, der schwer zu greifen ist: Bordeaux ist gleichzeitig überteuert und unterschätzt. Die Spitzengüter schrecken ab, der Rest wird übersehen. Dabei war gerade Bordeaux historisch immer eine Region des Handels, der Mengen – und damit auch der fairen Preise. Erst mit dem Kult um die Premiers Crus, befeuert durch globale Märkte und Spekulation, entstand eine Zweiklassengesellschaft, die dem Image der Region schadet.
Dabei gibt es sie noch, die Bordeaux-Winzer, die mit Herzblut und Bodenhaftung arbeiten – und deren Weine uns zeigen, was Bordeaux wirklich sein kann: elegant, vielschichtig, authentisch. Ohne Blendwerk. Ohne Preisschock.
Natürlich wird sich an der Spitze wenig ändern. Lafite, Mouton, Cheval Blanc und Co. werden nicht plötzlich wieder für 150 Franken zu haben sein – und das müssen sie auch nicht. Aber es braucht seitens der Medien und der Konsumenten mehr Aufmerksamkeit für jene Betriebe, die heute genau das leisten, was viele sich von Bordeaux erhoffen: ehrliche und bezahlbare Weine mit Herkunft und Charakter.
«Das Team von Château de La Dauphine arbeitet nach biody-namischen Grundsätzen; seit Jahren produziert das Weingut einen der be-sten Weine der unterschätzten Appellation Fronsac.»
Wir fordern: Schluss mit dem Tunnelblick auf die Top 100! Bordeaux ist mehr als Prestige, Punkte und Preisrekorde. Wer die Seele dieser Region wirklich begreifen will, muss genauer hinsehen, intensiver hinschmecken – und bereit sein, auch jene Châteaux zu entdecken, die (noch) niemand auf dem Radar hat. Denn der bezahlbare Bordeaux existiert. Und er überzeugt: mit einer Qualität, wie sie vor 20 Jahren kaum denkbar war, und mit Weinen, die mehr bieten, als sie kosten. Weine, die Bordeaux in den Köpfen der Konsumenten wieder zu dem machen können, was es sein sollte: eine der spannendsten, vielfältigsten, zugänglichsten und preisgünstigsten Weinregionen der Welt.
Darum haben wir für die diesjährige Print-Publikation eine «Preis/Genuss-Rangierung» gemacht, die nicht nur die Note, sondern auch den Preis des Weins berücksichtigt. Sie werden möglicherweise gewisse «grosse Namen» vermissen, dafür aber Namen lesen, von denen Sie bisher noch nie gehört haben. Keine Angst: Sämtliche Verkostungsnotizen und -bewertungen – in ihrer Summe über 500 – findet man in unserer Online-Datenbank.