Geschichten statt Klassifikationen

Interview mit Martina Wilhelm

Fotos: z.V.g

Du bist eine junge Sommelière («Wöschi» in Wollishofen) und Community-Managerin für den marmite youngster. Was kommt dir zur Weinregion Bordeaux in den Sinn?

Bei Bordeaux denke ich an Geschichte, Kultur und den Stolz der Winzer. Es ist eine der traditionsreichsten Weinregionen, in der ein stilprägender Weintyp entstand. Ich denke auch an grosse Namen, die Frage nach Cabernet oder Merlot und an all die Klassifikationen, die man auswendig lernen muss.

Was war dein beeindruckendstes Weinerlebnis mit einer Flasche Bordeaux?

Ein frühes Tasting mit gereiften Bordeaux bleibt unvergesslich. Ich war noch in der Ausbildung und durfte im «Wunderbrunnen» Weine aus dem Offenausschank degustieren – darunter einen Cos d’Estournel 1966, Haut-Brion 1970, Margaux 1975 und Palmer 1976. Das war ein Wow-Moment, der mir das Reifepotenzial von Bordeaux-Weinen eindrücklich vor Augen führte.

Welches Bordeaux-Erlebnis war für dich eine grosse Enttäuschung – und warum?

Es war ein offenes Tasting, das stark elitär wirkte. Es ging mehr um Prestige als um Inhalt – grosse Etiketten, aber wenig echte Gespräche. Für mich ging das Herzstück von Bordeaux verloren: die Menschen und ihre Geschichten.

Bordeaux hat das Image, zu teuer, elitär und verstaubt zu sein. Wie stehst du zu diesem Klischee?

Das Klischee ist nicht grundlos entstanden – Bordeaux steht für Prestige und Tradition. Aber es tut sich auch viel: junge Winzer, kleinere Châteaux und neue Ideen. Da wächst etwas, das Hoffnung macht.

Wie ist das Image von Bordeaux bei deinen ähnlich jungen Berufskollegen – sei es im Weinhandel oder in der Gastronomie?

Bordeaux wird von allen respektiert, doch im Alltag dominieren andere Regionen: Loire, Jura, Burgund, Champagne. Bordeaux wirkt oft weniger zugänglich, andere Regionen sprechen die junge Generation direkter an.

Woran liegt es, dass Bordeaux bei jüngeren Generationen dieses Image hat?

Die Kommunikation war und ist oft zu technisch, zu weit weg vom heutigen Publikum. Klassifikationen und Jahrgangstabellen schrecken junge Menschen ab. Was fehlt, ist Nahbarkeit. Dabei hätte Bordeaux alles – es müsste nur verständlicher erzählt werden.

Was kann die Region Bordeaux in deinen Augen tun, um bei jüngeren Segmenten, im Handel sowie auf Restaurantkarten wieder en vogue zu sein?

Es braucht mehr Offenheit und Kommunikation auf Augenhöhe; emotionaler, moderner, mit echtem Storytelling. Bordeaux hat die Geschichten, die Gesichter – sie müssen nur sichtbarer werden.

Welche drei Kernargumente würden untermalen, dass die Weinregion Bordeaux eine rosige Zukunft vor sich hat?

1. Bewährte Qualität – kaum eine Region produziert so konstant lagerfähige, ausgewogene Cuvées wie Bordeaux.

2. Dynamik im Wandel – junge Betriebe, neue Denkweisen, alternative Rebsorten: Es bewegt sich etwas.

3. Internationale Strahlkraft – der Name Bordeaux steht weltweit für Qualität. Was es jetzt braucht, sind frische, greifbare Geschichten dazu.