
Mitten in der historischen Wiege des Weinbaus gelegen, ist Armenien für die meisten Weinliebhaber trotzdem ein weisser Fleck auf der Weltkarte. Kein Wunder, führte die uralte armenische Weinkultur während des 20. Jahrhunderts aus geopolitischen Gründen doch hauptsächlich ein Schattendasein. Aber damit ist Schluss. Geschichte einer bemerkenswerten Auferstehung.

Mit seinen 30 000 Quadratkilometern und drei Millionen Einwohnern (plus sieben Millionen in der Diaspora) ist Armenien gerade mal so gross wie das deutsche Bundesland Brandenburg. Umgeben von Georgien, Aserbaidschan, dem Iran und der Türkei, hat das kleine Gebirgsland eine lange, bewegte Geschichte, und dies bis in die jüngste Gegenwart. Allein schon deshalb sind Resilienz, Gastfreundschaft und Lebensfreude der Armenier bemerkenswert. Bildung wird trotz struktureller Herausforderungen selbst in den entlegensten Ecken eine grosse Bedeutung beigemessen, und ist sicher einer der Gründe für die heutige Dynamik des Landes. Das gilt zum Beispiel auch für das Weinbau- und Önologiestudium: Seit 2014 gibt es ein Austauschprogramm mit der führenden deutschen Hochschule Geisenheim University.
«Versteht man die Heilige Schrift richtig, dann lag das Paradies in Armenien.»
Lord Byron (1788 – 1824)
Die Armenier träumen von Frieden, Austausch und wirtschaftlicher Entwicklung – und jüngst auch wieder von Wein. Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 erwacht der Weinbau langsam wieder aus dem Dornröschenschlaf und offenbart eine lebendige und faszinierende Weinkultur, die in erstaunlich kurzer Zeit – über die letzten 20 Jahre – ausserordentlich an Qualität gewann. Heute sind Armeniens Weine einfach nur spannend, vielfältig, authentisch und ausdrucksstark. Dank einer übersichtlichen Produktion, einer Vielfalt von grossen und kleinen Produzenten, einer erstaunlichen Anzahl an indigenen Rebsorten und dem Fakt, dass die Weine im Gegensatz zu anderen nicht überall zu finden sind, ist das Land ein Glücksfall für jeden neugierigen Weinabenteurer und Freigeist. Und: Die armenischen Weine können es ohne Zweifel mit den besten europäischen Weinen aufnehmen. Die Wiege des Weins zeigt uns auf elegante Weise, dass sie ihren Status nicht umsonst innehat!
Biblische Berge und wurzelechte Reben

Der Legende nach strandete Noah mit seiner Arche am Fusse des Berges Ararat. Jemand hatte einen kleinen Weinstock mit an Bord genommen, und als die Arche nach langer Irrfahrt am Fusse des Berges anlegte, ging Noah an Land, kniete nieder und pflanzte die erste Rebe. Er ging als biblischer Vater des Weinbaus in die Geschichte ein – egal ob zu Recht oder nicht. Heute mag der Berg Ararat vielleicht auf türkischem Gebiet liegen, aber eines ist sicher: Für die Armenier ist und bleibt er das symbolische Wahrzeichen ihres Landes. Ein Land, in welchem der Weinbau höchstwahrscheinlich seinen Ursprung hat: 2007 wurden in der Region Vayots Dzor, unweit des Dorfes Areni, bei archäologischen Ausgrabungen Traubenkerne gefunden, was dazu veranlasste, 2010 eine neue Kampagne an Ausgrabungen zu finanzieren. Sie brachten, verborgen in einer Grotte, eine gut 700 Quadratmeter grosse Produktionsstätte zu Tage, die eindeutig bereits vor 6100 Jahren dem Wein gewidmet war – die weltweit älteste überhaupt. Sie wurde Areni-1 getauft, ein Name, der zugleich für die repräsentativste Rebsorte des Landes steht: Sev Areni (schwarzer Areni).
In Armenien gibt es etwa 400 einheimische Rebsorten, und noch immer werden neue entdeckt. Die Erklärung dafür ist geschichtlich. Bis Ende des 19. Jahrhunderts galt Weinbau als eine der drei Säulen der Wirtschaft. In Sowjet-Zeiten wurde jedoch entschieden, dass Georgien Wein und Armenien Brandy produzieren solle. Zwangsweise wurde auf Destillation umgestellt, die Weinproduktion kam weitestgehend zum Erliegen. Aber die Weinbauern – und auch die Klöster – behielten Rebberge für den Eigenbedarf und halfen so, die Rebsortenvielfalt und Weinkultur zu bewahren. Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 wurden die Rebberge neu durchstrukturiert und schrumpften von gut 37 000 Hektar im Jahr 1981 auf 13 000 Hektar heute. Brandy wird noch immer produziert, und die Armenier sind stolz darauf. Aber es ist der Wein, der gegenwärtig die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Eines steht fest: Das Land hat ideale Voraussetzungen für den Weinbau – 300 Tage Sonne im Jahr, ein kontinentales Klima mit ausgeprägten Jahreszeiten (inklusive trockener und heisser Sommer). Zudem befinden sich 90 Prozent Armeniens auf über tausend Meter Höhe. Die Weinberge reichen bis auf 1800 Meter hinauf, was ideale Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht mit sich bringt. Zu den vulkanisch geprägten Böden gesellt sich ortsweise auch Kalkstein. Es ist ein kleines Wunder, dass bis heute viele der Rebberge noch wurzelecht sind. Zwar gibt es die Reblaus in Armenien schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, aber sie blieb auf zwei abgelegene Areale begrenzt, trotz intensiven Weinbaus. Seit nunmehr 15 Jahren läuft die Situation allerdings langsam aus dem Ruder. Zu vermuten ist, dass die Reblaus erneut als blinder Passagier einreiste, zusammen mit internationalen Rebsorten, die vermutlich von französischen Weinbauberatern, die genau in dieser Zeitspanne anfingen, die hiesigen Winzer zu beraten, angeregt wurden. Die neue Lage ist mehr als bedauerlich, denn: Eigentlich brauchen Armenien und die Welt keinen weiteren Merlot, Cabernet Sauvignon oder Syrah, und die jetzige Situation wäre mit Sicherheit vermeidbar gewesen.

Von den gut 400 einheimischen Rebsorten werden lediglich 55 in grösserem Stil angebaut, davon 31 für die Weinherstellung, die restlichen sind der Tafeltraubenproduktion gewidmet. Es gibt fünf Weinbaugebiete, deren Namen wie die Titel von Abenteuerromanen klingen und die in Landschaften liegen, die – bis auf eine Ausnahme – karg, wild und aride sind. Es erscheint schon fast wie ein Wunder, dass hier überhaupt Weinbau betrieben werden kann. Auf den kleineren Weingütern wird noch viel per Hand gemacht, aber so archaisch man sich Armenien vielleicht vorstellen mag, sobald man eines der Weingüter betritt, trifft man auf leidenschaftliche Winzer, modernste Kellertechnik und eine herzliche Gastfreundschaft. Und: Beim Besuch werden einem überall als Begleitung zum Wein einheimische, äusserst schmackhafte Köstlichkeiten angeboten, denen man nur schwer widerstehen kann. Das Einzige, was traditionell geblieben ist, ist die Nutzung von Amphoren, die Karas genannt werden. Der dafür verwendete Ton unterscheidet sich von dem in Georgien: Er ist heller und feinkörniger, weshalb die Karas-Weine andere Charakteristiken aufweisen und nicht mit den georgischen vergleichbar sind. Allerdings werden sie, zumindest zurzeit, nur spärlich verwendet, denn viele wurden während der Sowjetzeit zerstört, und das Know-how ging weitestgehend verloren. Jedoch wird mit Hochdruck daran gearbeitet, die Tradition wiederzubeleben und eine einheimische Produktion auf die Beine zu stellen.
Von Sev Areni und anderen Köstlichkeiten

Die Region Vayots Dzor, die etwa 1200 Hektar gross ist, gilt inoffiziell als Grand Cru des Landes, und ist dementsprechend äusserst dynamisch. Zwei Unterzonen wurden definiert: Areni und Aghavnadzor. Deren Landschaften sind recht unterschiedlich, doch haben sie eines gemeinsam: Sie sind die Heimat der roten Rebsorte Sev Areni. Aus ihr werden herausragende, lagerfähige Rotweine gekeltert, die dunkle Fruchtnoten haben, seidige Tannine und eine Frische aufweisen, die der dichten Struktur des Weins wunderbare Leichtigkeit verleiht. Eine weitere Rebsorte ist Voskehat: Bereits über 3000 Jahre alt, bringt sie knackige Weissweine mit viel Frische, Tiefe und filigranen Aromen hervor. Khatoun Kharji ist ebenfalls nicht zu unterschätzen und zeichnet sich durch zierliche Lebendigkeit und blumig-zitronige Aromen aus. Bemerkenswerte Weingüter von Vayots Dzor sind Zorah und Trinity Canyon Vineyards, die beide mit Talent vielseitige Charakterweine auf die Flasche bringen.

Die Region Tavush, etwa 1350 Hektar gross, liegt mitten in bewaldeten Gebirgszügen, zwischen dem Sewansee und der georgischen Grenze. Das Klima ist dank der Wälder feuchter und gemässigter, was für Feld- und Weinbau von Vorteil ist. Fast die gesamte Wein- und Brandyproduktion der Region wird von einem der grössten armenischen Weinproduzenten bestritten: der Ijevan Winery. Diese bewirtschaftet nicht nur ihre eigenen Weinberge und kauft Trauben aus allen Regionen Armeniens, sondern arbeitet auch lokal Hand in Hand mit kleinen und privaten Traubenproduzenten, da viele noch Reben in ihren Gärten stehen haben oder auf kleinen Parzellen hie und da an den bewaldeten Berghängen anbauen. Es ist schon fast eine Art von sozialer Unterstützung, denn viele leben in einfachsten Verhältnissen und können das zusätzliche Einkommen gut gebrauchen. So gross Ijevan ist, so klein ist der einzige hiesige Gegenspieler, «Hovaz Wines», eine hervorragende Weinbar in Dilijan, die ebenfalls sehr gelungene Garagenweine produziert. Hovaz hat keine eigenen Weinberge, sondern kauft Trauben in ganz Armenien – und zwar nur von kleinen Produzenten, um die lokalen Traditionen zu unterstützen. Sev Areni zeigt sich bei ihnen leutselig und intensiv fruchtig. Interessant ist aber auch Kangun, eine weisse Traube, die eigentlich für Brandy zum Einsatz kommt, sich hier jedoch dank intelligentem Ausbau zu gastronomischer Grösse entwickelt. Hovaz ist übrigens eine Anspielung auf den lange aus der Region verschwundenen persischen Leoparden, der 2018 endlich wieder gesichtet wurde und den das Weingut nun in einem Schutzprogramm in Zusammenarbeit mit dem WWF unterstützt.
«6000 Jahre Geschichte in jeder Flasche.»
Die drei übrigen Weinregionen, die auch das grösste Areal umfassen, sind Ararat (circa 5000 Hektar), Armavir (circa 6800 Hektar) und Aragatsotn (circa 1300 Hektar). Sie liegen in Höhenlagen zwischen 800 und 1400 Metern rund um Jerewan. Hier gibt es die gesamte Bandbreite an Produzenten, von klein bis gross, von exklusiv bis hin zu Massenwein. Neben einer beeindruckenden Vielfalt an einheimischen und authentischen Rebsorten findet man hier auch die internationalen Klassiker wie Syrah und Cabernet. Die Nähe zur Hauptstadt macht Tagesausflüge leicht, und so bieten viele der Weingüter nicht nur Wein, sondern auch die Möglichkeit, vor Ort zu essen. Die Einheimischen nehmen das Angebot ebenso wahr wie die Touristen, und man muss sagen: Die Qualität der landwirtschaftlichen Produkte Armeniens – die zumeist noch aus einer nicht industrialisierten Familienlandwirtschaft und freier Tierhaltung stammen – ist so hoch, dass man das überraschende Gefühl hat, den wahren Geschmack der Dinge wiederzuentdecken. Es ist ein Fest für die Sinne, in eine Tomate zu beissen, den einheimischen Käse zu erkunden und ganz allgemein die armenische Küche zu probieren. Der Wein ist dabei das Tüpfelchen auf dem «i».
Weinbars, Steinmetze und Lebensfreude

Jerewan ist das pulsierende Herz des Landes: kontrastreich, chaotisch, liebenswert, lebendig. Erfrischenderweise gibt es hier noch keine unendlichen Shoppingmeilen wie in Europa, dafür aber viele Cafés mit Terrassen und versteckten Innenhöfen, wie zum Beispiel das verwunschene und entspannte Restaurant «Abovyan» oder das sehr schicke «Vostan». Wer tagsüber beim Spazierengehen Glück hat, kann in einer der kleinen Seitenstrassen unweit des Zentrums Steinmetze beobachten, die mit einfachsten Mitteln und mitten auf dem Bürgersteig wahre Kunstwerke erschaffen. Erstaunlich ist auch die Liebe der Armenier zu ausgefeilten Blumensträussen, die selbst in Paris nicht ihresgleichen finden: Manch Blumenladen ähnelt eher einer Kunstgalerie und weckt fast den unwiderstehlichen Drang, mit einem Strauss ins Hotel zurückzukehren. Aber am schönsten ist das Ambiente der Stadt am frühen Abend. Die Strassen sind voll, Jugend und ältere Generationen sind bunt gemischt unterwegs, gehen essen oder sitzen auf einem der vielen Plätze und diskutieren.

Und wer sich für Wein begeistert, findet alles, was das Herz begehrt, in der aufblühenden Weinszene der Stadt, die vor allem die einheimischen Weine ins rechte Licht rückt. In der angesagten Bar «In Vino» zum Beispiel gibt es eine fantastische Auswahl davon sowie einheimische Käse- und Aufschnittplatten. Auch manch Weingut hat in der Hauptstadt eine Weinbar, allen voran Trinity Canyon Vineyards mit dem Restaurant «The Club», wo es in rustikal-schick gestyltem Ambiente auch gutes Essen gibt.
«Die Trauben fielen wie Regen herab, und der Wein floss wie das Wasser eines Flusses.»
König Sargon II.
Man merkt dem Land, den Winzern und den Einheimischen die Begeisterung an, mit welcher der Weinkultur heute entgegengekommen wird. Was nicht heisst, dass es für die Winzer immer einfach war oder ist. Wer zum Beispiel Zorik Gharibian, den Besitzer des Vorzeige-Weinguts Zorah, fragt, der merkt schnell, dass die Anfänge kompliziert waren. In der Sowjetzeit hatte der Wein seinen Glanz und seine Qualität verloren, und nach der Unabhängigkeit glaubte keiner daran, dass der Wein im Land eine Zukunft hat. Anfangs versuchte man, Gharibian zu entmutigen, was jedoch – glücklicherweise – nicht klappte. Bei manchen ist die Geschichte noch dramatischer, zum Beispiel bei der Kataro Winery. Eigentlich in Bergkarabach ansässig, musste die Familie während der jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan von heute auf morgen alles aufgeben und ist nun dabei, ihre Existenz neu aufzubauen.
Die Weine Armeniens stehen also nicht nur für den Ursprung des Weins, sondern auch für seine Moderne, für Herausforderungen, die weit über den Klimawandel hinausgehen. Sie stehen für die Courage der Winzer und verkörpern neue Welten der Exzellenz. Hut ab!