Die Kunst des Viognier
Christine Vernay, Condrieu, Rhône
Text: Birte Jantzen, Fotos: Olivier Roux

Eigentlich hatte sich Christine Vernay für eine Karriere in Paris entschieden, als Französisch- und Italienischlehrerin an der Eliteschule École Nationale d’Administration (ENA). Doch dann kam alles ganz anders – wie so häufig im Leben. Sie trat mutig in die Winzer-Fussstapfen ihres Vaters und entpuppte sich ebenso wie er als sensible und leidenschaftliche Interpretin des Viognier und des Terroirs von Condrieu.
Christine Vernay kam im Haus ihrer Eltern in Condrieu auf die Welt. Der Garten ging und geht noch immer fliessend in die Steillage Coteau de Vernon über, wovon ein Grossteil der Familie Vernay gehört. Als Kind tollte sie also durch die Weinberge, kletterte über Trockensteinmauern, genoss den Ausblick auf das Rhône-Tal, und während der Sommerferien half sie im Verkauf auf dem Weingut. Ihre Grosseltern waren Landwirte und Winzer, betrieben Viehzucht, Obst- und Gemüseanbau. Grossvater Francis bepflanzte 1937 rund einen Hektar der Hanglagen hinter dem Haus mit der Rebsorte Viognier. Der Rest der Terrassen blieb jedoch mit Obstbäumen bestückt. 1940 wurde Condrieu offiziell AOC, Appellation d’Origine Contrôlée, und der Grossvater nutzte die Gelegenheit, um seinen ersten, heute legendären Condrieu auf den Markt zu bringen. Er legte den Grundstein für das heutige Weingut. Die Familie betrieb aber weiterhin Mischkultur, und Wein wurde eher nebenbei produziert. Nach Reblaus, zwei Weltkriegen und einer schnell voranschreitenden Mechanisierung litt die Region unter starken strukturellen Herausforderungen. 1953 übernahm Vater Georges den Betrieb und beschloss, dem Wein mehr Platz einzuräumen. Er machte sich an die gigantische Arbeit, einen weiteren Teil des Coteau de Vernon zu roden, um die terrassierten Rebberge wieder herzustellen. Nichts konnte maschinell erledigt werden, alles geschah von Hand, die Restaurierung der unzähligen Trockensteinmauern inbegriffen. Aber nicht alle Winzer waren so mutig und überzeugt wie Georges. Um 1960 gab es in Condrieu nur noch etwa sechs Hektar Rebberge. Wein war unrentabel, die Appellation lag am Boden, der Viognier war so gut wie ausgestorben. Georges jedoch hatte eine Vision, und die verfolgte er unbeirrbar. Wie seine Tochter Christine kam auch er im Elternhaus in Condrieu auf die Welt und spielte als Kind in den an den Garten angrenzenden Hanglagen. Zudem hatte er zusammen mit Francis Wein gekeltert und erahnte die Einzigartigkeit des Zusammenspiels zwischen dem örtlichen Granit- Terroir und dem Viognier. Für beide war es eine Kombination, die nirgendwo anders existierte und die dem grosszügig ausladenden Viognier eine einmalige Präsenz, Eleganz und Vertikalität verpasste. Sie waren überzeugt: Nur im historischen Herzstück von Condrieu entfaltet sich diese Magie. Unermüdlich setzte Georges sich also für sie ein, unterstützte und beriet Kollegen, teilte seine Erfahrungen und war 30 Jahre lang Präsident der Appellation. Es ist ein Erbe, welches nicht einfach anzutreten war. Vor allem, wenn man zwar als «Kind von...» geboren wird, als Winzer aber keinerlei Erfahrung hat. Das Gut war unter Führung des Vaters auf 14 Hektar angewachsen und ein reines Weingut geworden.

Von Paris in die Weinberge
Rückblickend sieht Christine die Dinge mit Humor: «Ich war glücklich in Paris und hatte alles, was das Herz begehrt. Als 1996 klar wurde, dass nur ich den Betrieb übernehmen konnte, entdeckte ich meine Wurzeln neu. Ich habe gespürt, dass es das ist. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was auf mich zukommen würde. Mein Vater hatte mich, seine Tochter, stets beschützt. Ich habe weder im Keller noch in den Weinbergen mitgearbeitet. Ich verkostete mit ihm, aber das war auch schon alles. Es war ein Sprung ins Ungewisse.» Lachend fügt sie hinzu: «Mein Vater hat nämlich von einem Tag auf den anderen komplett aufgehört und zu mir gesagt: ‹Zwei Köpfe sind ein Monster, also los, ich überlasse es dir.› Es war hart. Aber ich hatte die Freiheit, die Dinge anders zu machen, selbstständig zu denken.» Lange haderte sie damit, dass ihr Vater sie in ihren Anfängen nicht aktiver begleitete. Nach seinem Tod in 2017 wurde ihr klar: Es war eine «stille» Art der Weitergabe. «Irgendwie war es effizient, erklären kann ich es aber nicht. Vielleicht fühle ich mich heute auch deshalb noch so stark von der Geschichte meiner Eltern und der meines Vaters, des Winzers, geprägt.» Augenzwinkernd ergänzt sie: «Meiner Tochter Emma bringe ich die Dinge allerdings anders bei...»

Ohne vorherige Einarbeitung packte sie 1996 die Arbeit mit beiden Händen an, verliess sich – wie ihr Vater – auf ihre Intuition und das erfahrene Team. Eine klassische Winzerausbildung wollte sie nicht absolvieren. «Ich dachte mir, das Team weiss schon, wie das geht. Schliesslich wurde mir klar: Sie warteten auf meine Anweisungen. Und mir wurde auch klar, dass ich sie nicht allein lassen konnte. Also habe ich mich reingehängt. Insgesamt hat es zehn Jahre gebraucht, bis ich mich etwas entspannter fühlte. Man zweifelt zwar immer noch, aber Zweifel sind konstruktiv, und letztendlich muss man sich ohnehin jedes Jahr neu anpassen.» Denn jeder Jahrgang ist für Christine wie eines ihrer Kinder: von individueller Persönlichkeit und voller neuer Herausforderungen. Das Wichtigste für sie ist, perfektes Traubengut in den Keller zu bringen, die authentischen Feinheiten des Zusammenspiels zwischen Rebsorte, Bodenbeschaffenheit und Jahrgang herauszuarbeiten. Rückblickend kann man sagen: Es ist ihr zweifellos gelungen. Man braucht eigentlich nur die Weine zu verkosten, um sich davon zu überzeugen. Nicht von ungefähr hat sich der exzellente Ruf des Weingutes nahtlos fortgesetzt.
«Auf dem Granit von Condrieu kann der Viognier sein magisches Potenzial voll entfalten.»
Lange schon arbeitet Christine allein im Keller, hat ihn ihrer Arbeitsweise angepasst, hört dem Charakter der Gärung und der Weine zu, liebt die fast meditative Ruhe des Ortes sowie den wundervollen Ausblick aus ihrem Büro. Fast niemand kommt hierher, es ist Christines geheimer Garten. Oberhalb der Steillagen gelegen, verschmilzt das Gebäude mit seiner Umgebung, und obwohl schon vom Grossvater gebaut und seither mehrmals erweitert, ist der Keller praktisch und grosszügig, den 24 Hektar Rebbergen – zehn in Condrieu, sechs in Côte Rôtie, zwei in Saint-Joseph und sechs ausserhalb der AOP – perfekt angepasst.

Die Bearbeitung der Weinberge stellte sie nach Übernahme recht schnell auf biologischen Weinbau um. «Mein Vater setzte Glyphosat noch ein, denn es herrschte Vollbeschäftigung in Frankreich und man fand niemanden, der bereit war, die Steillagen mit der Hacke zu bearbeiten. Er sagte immer: Ohne Unkrautvernichtungsmittel hätten die Hänge von Condrieu und Côte Rôtie nicht wieder zum Leben erweckt werden können. Und ich verstehe das. Das Limit unserer terrassierten Steillagen ist tatsächlich die Arbeitskraft. Für mich war die eigentliche Herausforderung bei der Umstellung auf Bio dann auch das Team. Erst waren alle total verunsichert. Also kaufte ich anfangs Unkrautvernichtungsmittel, sozusagen als Sicherheitsnetz. Wir versuchten, es ohne zu schaffen. Und wir haben es geschafft. Ich gab das Unkrautvernichtungsmittel zurück, und das Team war mächtig stolz! Der Blick, den man auf die Reben, die Pflanzen, auf das Leben wirft, und der Rhythmus im Weinberg, sind bei Bio eben nicht mehr dieselben.»

Was Christine auch sehr schätzt, ist sich und den Weinen Zeit zu geben. Schon länger wollte sie die Reifung um ein Jahr verlängern und nicht sofort den Wein verkaufen, sobald er abgefüllt ist. Seit dem Jahrgang 2022 ruht der Coteau de Vernon nun zwöf Monate länger im Keller. Gut Ding will Weile haben. Vor allem, wenn man so viel Individualität und Feinheit auf die Flasche bringt. Tatsächlich zeigt sich der Viognier hier vielschichtig, harmonisch, anspruchsvoll und trotzdem grazil und zugänglich. Die anderen Weine des Weingutes sind ebenso wundervoll. Christines Sensibilität ist eben ihre grösste Stärke.

Viognier wie kein anderer
Die Vertikale der Coteau de Vernon zeigt: Kaum einer verbindet die Qualitäten des Viognier mit Terroir und Jahrgang so grandios wie das Weingut Georges Vernay.
2022
98 Punkte | 2025 bis 2050
Harmonisch entfalten sich komplexe Noten von Wildkräutern, Menthol, Williams-Birne, Bergamotte und kandierter Orangenschale, begleitet von würzigem Ingwer. Umhüllend, zart, mit schmelzender Frische, spürt man die Grosszügigkeit des Jahrgangs, ohne dass der Wein überwältigend wird.
2021
96 Punkte | 2025 bis 2050
Ein kompliziertes Jahr. Zurückhaltend, mit Noten von Kakifrucht, Stachelbeere, Kardamom, grünem Tee, Sternanis und Bergamotte, ist er langanhaltend, mit einem Hauch von Feuerstein. Er entfaltet sich vielschichtig und erzählt seinen Jahrgang. Ein Wein zum Zuhören.
2019
97 Punkte | 2025 bis 2050
Ein zunächst herausforderndes, dann sanftes Jahr. Vollmundig, mit kandierten Zitrusfrüchten, Würze, frisch gemähter Wildwiese, Mandarine, Kirschkern und Bittermandel, etwas geröstete Haselnuss im langen Finale. Von schmelzender Frische, mineralisch-salzig, zeigt sich sehr komplex, dicht, anmutig und grosszügig zugleich.
2017
98 Punkte | 2025 bis 2050
Minzig, würzig, blumig, Wildkräuter, Jasmin, Mandarine, Bergamotte und Yuzu, sehr lang im Finale. Zeitlos, getragen von schmelzender Frische und sehr jung, tanzt er üppig auf dem Jahrgang und bleibt dennoch ziemlich vertikal und fest verankert. Ein Wein, der die Komplexität des Jahres widerspiegelt.
2016
97 Punkte | 2025 bis 2050
Anis, Birne, Jackfruit, Nektarine, indischer Chai und Sencha-Grüntee – plötzlich sitzt man im Zug von Pondicherry nach Kyoto, mit einem Abstecher ins Rhônetal. Frisch und schmelzend, fein rauchig, sehr lang und noch immer sehr jung. Ein Wein, der einen mit auf Reisen nimmt.
2012
100 Punkte | 2025 bis 2050
Ein klassisches Jahr. Kräuter, Fenchel, reife Zitrusfrucht, ein Hauch von Feuerstein, Minze und Melisse, mit zart schmelzender Frische, schöner Salzigkeit und Mineralität. Feine, blumige Bitternoten zeigen ein perfektes Zusammenspiel zwischen Terroir und Rebsorte. Ausgewogen, zeitlos, grossartig.