Winzerlegende: Markus Molitor, Mosel

Meister der selektiven Lese

Text: Stephan Reinhardt, Fotos: Jon Wyand

Manche halten ihn für wahnsinnig, andere für einen Masochisten, und wieder andere finden ihn mindestens so genial wie seine Weine. Markus Molitor ist der Herr der tausend Rieslinge. An die 70 verschiedene Weine füllt er pro Jahrgang ab. Doch egal, wie hoch die Zahl ist: Kein einziger ist unter ihnen, der es nicht wert wäre, geschätzt, geliebt, gehortet oder getrunken zu werden.

Entweder ist es so still, dass man die sprichwörtliche Nadel in den Heuhaufen donnern hören könnte. Oder die Luft hängt voller Selbstgespräche (die jedoch eher gestammelt als gesprochen klingen): «Genial», «Wahnsinn», «Irrsinn», «unglaublich»... Wer nach einer üblicherweise mit einer Vertikale abgeschlossenen Jahrgangsprobe das Weingut Molitor in Bernkastel-Wehlen (Mosel) verlässt, ringt um Fassung. Manche Besucher sind erschüttert, andere gerührt, wieder andere entrückt. Und der eine oder andere ist schlichtweg überfordert. Molitor mutet seinen Kunden ganz schön viel zu – in der Menge, noch mehr aber in der faszinierenden Vielfalt und Tiefe seiner Weine.

Genau 50 frisch ab gefüllte Weine stehen im September 2012 im gerade modernisierten Haus Klosterberg in Reihe und Glied: sieben Pinot Noir, drei Pinot Blanc und nicht weniger als 40 Rieslinge. Weitere Hochkaräter gären noch immer im Gewölbekeller und werden erst in den nächsten Jahren vorgestellt. Jeder einzelne Wein dieser 50, egal ob rot oder weiss, ob trocken, feinherb oder süss, ob Qualitäts- oder Prädikatswein, ist höchst originell und einzigartig im Ausdruck: typisch für seine Lage, den Jahrgang, das Prädikat und die einzelnen Selektionen, die gutsintern mit Sternen klassifiziert werden. Kurzum: Ein jeder Wein ist, in seiner eigenen Kategorie, von aussergewöhnlicher, in seinem individuellen Ausdruck sogar ergreifender Klasse.

Wer die Armada der 50 durchprobiert hat, ist aber noch längst nicht fertig. Sondern landet bei den letzten 20 Jahrgängen der jeweils feinsten trockenen Riesling-Auslesen aus der Zeltinger Sonnenuhr, die bei Molitor – wie die weissen und roten Pinots auch – mit einem (feine Auslese), zwei (feinste Auslese) oder drei Sternen (hochfeine Auslese) ausgezeichnet werden. Unter diesen befinden  sich auch einige Versteigerungsweine im Gesamtwert von mehreren hundert Euro. Molitor zeigt sie alle, weil es ihm  – ganz undeutsch irgendwie – nicht ums Sparen geht, sondern um Kunst. Weinbaukunst. Seine Philosophie. Seinen Kosmos. Der wäre unvollständig wie das Sonnensystem ohne Mars und Venus, würde ein Wein in dieser Reihe fehlen. «Durch die Vielfalt der Schieferböden und Mikroklimata repräsentieren wir sämtliche Spielarten des Moselweins», sagt Molitor, und bezogen auf die Vertikale: «Was die Zeltinger Sonnenuhr wirklich zu leisten imstande ist, bekommt man ja nicht mit, wenn man nur den jüngsten, von Primärfruchtaromen dominierten Jahrgang verkostet. Ihr wahrer Charakter erschliesst sich einem erst, wenn man in die Tiefe geht. Denn nur dann kann man schmecken, was der Einfluss des jeweiligen Jahrgangs ist und welche Eigenschaften auf die Lage zurückzuführen sind.»

Zehn TBAs aus einer Lage

Als Markus Molitor 1984 als 20-Jähriger den Betrieb seines Vaters übernahm, wollte er an die grosse Zeit des Moselrieslings anknüpfen, die etwas mehr als 50 Jahre währende Epoche zwischen den 1850er Jahren und dem Ersten Weltkrieg. Dank seiner Auffassung von der deutschen Lagen und Selektionskultur, die sich zumal in der Kombination durcheine schier unendliche Vielfalt von Geschmacksstilen auszeichnet, dürfte ihm das mittlerweile gelungen sein. Authentischer und ausdrucksvoller kann man sich Mosel weine nicht vorstellen.

Irrsinniger aber auch nicht. Dass Molitor im grandiosen Jahrgang 2010 alleine in der Zeltinger Sonnenuhr zehn (!) verschiedene Trockenbeerenauslesen selektioniert hat, mag dem Verkäufer wie ein Computerfehler erscheinen. Aus Sicht des Künstlers, eines manischen Beerchen und Rosinensortierers, ist es nur konsequent.

Sich mit den 20 Auslesen des Jahrgangs 2011 aus der Zeltinger Sonnenuhr auseinanderzusetzen, Molitors aufgrund der Rebfläche wichtigster Lage, und sie dabei zu beobachten, wie sie sich über Stunden hinweg entwickeln und verfeinern, an Tiefe, Drive und Finesse gewinnen, wie sie mehr und mehr zu sich finden nach all den Jahren in der Flasche, wäre schon einen ganzen Studientag wert. Sollten wir mit unserer Zeit wirklich knauseriger sein als dieser den Selektionsprozess sämtlicher seiner Weine minuziös erläuternde Mann in Bluejeans und weissem Hemd da vorne, den man sich ohne weiteres auch auf dem Genfer Autosalon vorstellen könnte, wie er als Chefingenieur einer edlen Automarke einem raunenden Fachpublikum die raffinierte technische Weiterentwicklung einer Nobeltype erklärt? Da steht man dann also da im Saal des Hauses Klosterberg, torkelnd, und wundert sich über die ganzen Weinfestivals dieser Welt, für die viel Eintrittsgeld bezahlt, wer kostend daran teilnehmen möchte, während diese dreitägige Hausmesse in Wehlen Deutschlands wohl am besten gehütetes Weingeheimnis ist. Weltklasse en masse für lau im Land der Aldianer  – doch bislang kommt Markus Molitor ohne Sperrgitter und Security aus.

Viele, die kommen, vor allem die älteren Herrschaften, haben hier schon eingekauft, als Molitors Vater die Weine noch erzeugte. Sie probieren wie immer den ein oder anderen hochwertigen Wein und nehmen am Ende dann doch die fruchtbetonten Sortenweine der Linie Haus Klosterberg: Schliesslich gebe es ja auch noch andere Moselwinzer mit süffigen Prädikaten.

Und tschüss, bis nächstes Jahr.

Mit der Perfektion eines Uhrmachers

Die Basis der einsamen Klasse der Molitor-Weine sind zum einen seine Weingärten. Sie befinden sich in 18 Steil- und Steilstlagen zwischen Brauneberg und Traben-Trarbach. Die meisten davon sind weltberühmt: Graacher Himmelreich, Graacher Domprobst, Wehlener Sonnenuhr, Zeltinger Sonnenuhr, Ürziger Würzgarten, Erdener Treppchen. Im letzten Jahr sind dann auch noch die renommierten Saarlagen Ockfener Bockstein und Saarburger Rausch hinzugekommen. Molitors einzelne Parzellen, viele davon mit wurzelechten Reben von hundert und mehr Jahren, deren Erbgut er durch massale Selektion erhält, summieren sich mittlerweile zu etwas mehr als 40 Hektar. Um die kümmern sich rund 50 erfahrene Weinbergarbeiter, während der Lese zwischen September und November noch einige mehr. Somit wird das grösste Privatweingut der Mosel wie ein kleiner Familienbetrieb geführt, eher sogar noch pedantischer.

Tatsächlich kommt keine Traube in den Keller des Hauses Klosterberg, die Markus Molitor nicht persönlich in Augenschein oder gar auf die Zunge genommen hat. Von Mitte September bis zum Jahresende und darüber hinaus ist er daher für niemanden ausser sein Team zu sprechen. Zur Lesezeit ist er im Weingarten und betrachtet und verkostet Beeren: von den Trauben vom langen Holz, von denen aus dem Bogen, aber natürlich auch von der «Rückseite» des Rebstocks, also der sonnenabgewandten Seite. Und dann entscheidet er, wer in seinem Team welche Trauben vom Stock schneidet. Denn die einen selektieren die in höheren, kühleren Parzellen wachsenden Kabinettweine, die anderen die Spätlesen und wieder andere die diversen Auslesen, Beerenauslesen und Trockenbeerenauslesen. Doch auch bei den Prädikaten gibt es Unterschiede, nicht nur bezüglich des Feinheitsgrades, sondern auch in der Geschmacksrichtung. Eine fruchtsüsse Spätlese etwa wird bis zu drei Wochen früher gelesen als die trockene aus der gleichen Lage. «Weil es bei der fruchtigen Spätlese auf Eleganz und Feinheit ankommt und natürlich darauf, die unvergorene Süsse mit einer entsprechend rassigen Säure zu umspielen», erläutert Molitor. «Bei der trockenen Spätlese benötigen wir hingegen eine reife Säure sowie hohen Extrakt, um den vollen Körper ausfüllen zu können. Und bei der trockenen Auslese ist die Selektion noch extremer.» Da Molitor in trockenen Weinen nicht eine einzige Botrytisbeere duldet, kann man sich leicht vorstellen, dass er nicht Trauben, sondern Beere für Beere lesen lässt. Die erste Selektion findet im Weinberg statt, doch in der Kellerei folgen weitere. Bis etwa die Rosinen für die Versteigerungs-TBAs ausgelesen sind, ist jede einzelne mehrfach begutachtet und abgewogen worden. Markus Molitor pflegt jenen Grad von Perfektion, der selbst einen Schweizer Uhrmacher staunen lassen dürfte.

 

«Das ist ja das Schöne, dass man die Lagenunterschiede in den Weinen so herausarbeiten kann, dass man sie auch schmeckt.»

Der Grossteil der Weine (zu 94 Prozent Riesling) wird im kühlen, luftfeuchten Gewölbekeller zumeist in grossen Eichenholzfässern von 1000 bis 3000 Liter Fassungsvermögen vergoren und lange auf der Hefe ausgebaut. Schönungsmittel, Enzyme, Reinzuchthefen oder sonstige Hilfsmittel werden nicht verwendet, allenfalls wird ein Qualitätswein wie der ohne Einzellagenbezeichnung vermarktete Riesling Alte Reben Saar mal angereichert, um ihm den nötigen Körper zu geben, den ein Tischwein zum Essen nun einmal benötigt. Die langsame natürliche Vergärung führt dazu, dass bei der Jahrespräsentation nicht immer alle Weine fertig sind. Im September 2004 beispielsweise waren erst 60 Prozent der 2003er abgefüllt, der Rest gärte noch und wurde erst Jahre später vermarktet.

Es sind nicht die Markterfordernisse, nach denen sich Molitor richtet, sondern die Vorgaben des jeweiligen Jahrgangs. Während in normalen Jahren wie 2007 oder 2008 50 bis 70 Prozent seiner Weine im geschmacklich trockenen und feinherben Bereich liegen, waren es im Jahrgang 2006 aufgrund des plötzlich einsetzenden Botrytisbefalls nur 20 Prozent, 2003 aus anderen Gründen sogar lediglich sieben Prozent. «Das habe ich mir über Jahre erarbeitet, dass ich nicht abhängig bin vom aktuellen Jahrgang und mit der Brechstange trockene Weine erzeugen muss, obwohl der Jahrgang dafür nicht geeignet ist», so Molitor.

Tatsächlich hat er genügend Weine aus anderen Jahrgängen im Keller, um praktisch jede Nachfrage bedienen zu können. Vom aktuellen Jahrgang verkauft er im ersten Jahr ohnehin nur etwa 40 Prozent, der Rest wird eingelagert und Jahre später wieder angeboten. «Die Weine, egal aus welchem Jahrgang, brauchen eben eine gewisse Zeit.» Der Ruhm des Moselrieslings beruhte ja schliesslich auch nicht auf jungen, sondern über viele Jahre gereiften Weinen. In puncto Fruchtreife, Extraktdichte und Struktur sind Molitors Naturweine einzigartig. Zudem findet man selten Preziosen, die bei vergleichbar komplexer Expression noch derart raffiniert, verspielt, animierend und bekömmlich sind. Im hochwertigen edelsüssen Bereich steht das Weingut mit den Ikonen des Gebiets längst auf einer Höhe: Egon Müller-Scharzhof, Joh. Jos. Prüm und Fritz Haag.

Und wie grandios kraftvoll, konzentriert, vital und langlebig seine hochwertigen trockenen Riesling-Auslesen sind, das beweisen heute Jahrgänge wie 1988, 1990 oder auch 1993: Diese Weine scheinen erst jetzt so langsam ins beste Trinkalter zu kommen. In ganz Deutschland, aber auch im Elsass und in Österreich, findet  man beim trockenen Riesling kaum vergleichbare Qualitäten.

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