Wellentanz und Höhenrausch

Verrückte Weinreifung

Text: Thomas Vaterlaus, Nicole Harreisser, Fotos: Getty Images / Mor65, z.V.g., Roma a camera experience by noma

Wein reift an den verrücktesten Orten! Chantal und Robert Irsslinger lassen ihren Johanniter als Wellentänzer-Wein in einem Bojen-Tank im Zürichsee der Genussreife entgegenschaukeln. Derweil schlummert der Merlot Gransegreto Forte Airolo von Uberto Valsangiacomo in einem Stollen der historischen Gotthardfestung hoch über Airolo. So unterschiedlich die beiden Weine sind, haben sie doch etwas gemeinsam: ihre vorzügliche Qualität und ihre besondere Geschichte…

Un Gran Segreto

Um es gleich vorwegzunehmen. Der Merlot Gransegreto Forte Airolo von Valsangiacomo ist nicht der einzige Schweizer Wein, der mitten in den Schweizer Alpen reift. Der Walliser Gletscherwein wird schon seit über 300 Jahren in Kellern im Val d’Anniviers rund 1200 Meter über Meer ausgebaut. Die Weine der Provins-Edellinie «Les Titans» ruhen gar auf 2200 Metern, in einem Stollen der Grande-Dixence-Staumauer. Und doch steht hinter dem Gransegreto eine ganz besondere Story. Vor mehr als 20 Jahren spendete der Tessiner Winzer Uberto Valsangiacomo zwei Kisten Wein für einen Festakt, bei dem die Renovation des einzigartigen, einen Meter dicken Granitdaches des Forte di Airolo gefeiert wurde. Die Festungsanlage mit dem eigenwillig gewölbten Dach hoch über dem Tal wurde 1890 zum Schutz des neuen Eisenbahn-Gotthardtunnels in Betrieb genommen. Sie war später Teil des legendären Réduit-Bollwerks, in beiden Weltkriegen gingen hier Festungs-Artillerie-Kompanien in Stellung.

An besagtem Fest traf Valsangiacomo den damaligen Kommandanten Urs Caduff und besuchte mit ihm auch die riesige Festungsanlage, die direkt gegenüber dem Forte tief in den Berg führt. Ab und zu fragte der Winzer den Kommandanten, wohin die scheinbar endlosen Gänge und Treppen denn führten, worauf ihm jeweils ein klares «Das ist geheim!» entgegenhallte. Im Berg drin war es sehr kühl und feucht, die Messwerte
zeigten 6 Grad und 95 Prozent Luftfeuchtigkeit. Valsangiacomo bemerkte, dass diese Kaverne, 1329 Meter über Meer gelegen, eigentlich ein perfekter Ort wäre, um Wein in Barrique-Fässern reifen zu lassen. «Lässt sich machen!», lautete die knappe, aber deutliche Antwort des Kommandanten. So erntet Uberto Valsangiacomo seit 2001 eine besondere Selektion von Merlot-Tauben aus Pedrinate im südlichsten Zipfel des Tessins.

Sobald der Wein in Barriques abgefüllt ist, werden diese zur nördlichen Grenze des Kantons am Gotthard gefahren. Dort, im Forte Airolo, reift der Wein dann 28 Monate lang. Dass trotz der langen Fassreife ein überaus eleganter Wein entsteht, hängt auch mit dem in dieser Höhe tiefen Luftdruck zusammen, der alle Prozesse im Wein verlangsamt. Besonders gefragt ist der Gransegreto übrigens in einer besonderen Ausstattung, für die Uberto Valsangiacomo alte Artillerie-Munitionskisten zu Boxen für jeweils sechs Flaschen umfunktioniert hat, inklusive originalgetreuer Beschriftung. Klar, dass der Spitzenwein bei Exponenten der Landesverteidigung besonders beliebt ist. So bekam einst der Schweizer Geheimdienstchef eine Kiste mit der Nummer 007. Aber das Gewächs überzeugt auch ohne seine subtil inszenierte militärische Aura!

Gransegreto Forte Airolo 2016
Ticino Merlot Riserva

17.5 Punkte | 2021 bis 2031

Aromen von roten Beeren, Kirschen, Lakritze, floralen Noten, dazu elegante Würznoten. Am Gaumen dicht gewoben, animierend und subtil. Getragen von einer saftigen Säure.

Gransegreto Forte Airolo 2011
Ticino Merlot Riserva

17.5 Punkte | 2021 bis 2028

In der Nase noch immer verhalten frisch. Liebstöckel und Garriguekräuter, eine Spur von Rauch, eingelegte Kirschen. Klar strukturiert mit viel Substanz, feinkörniges Tannin.

Gransegreto Forte Airolo 2010
Ticino Merlot Riserva

18 Punkte | 2021 bis 2028

Bereitet jetzt optimalen Trinkgenuss, mit verführerischen Noten von reifen Beeren, Orangenzesten, dazu florale und auch erdige Noten. Am Gaumen gehaltvoll, mit saftiger Säure und viel Schmelz.

Gransegreto Forte Airolo 2005
Ticino Merlot Riserva

17 Punkte | 2021 bis 2025

Voll ausgereift, mit Noten von Sauerkirschen, kandierten Früchten und etwas Teer. Auch Kirschfrucht. Am Gaumen robust, mit präsenter Säure und dezenter Alterssüsse.

Wellentänzer

Alle Weine des Weinguts Irsslinger in Wangen SZ profitieren vom seegeprägten Mikroklima, aber ein Wein ist mit dem See auf ganz besondere Weise verbunden: der «Wellentänzer». Es ist ein Herzblut-Projekt von Robert und Chantal Irsslinger, die ihr Weingut seit 2017 betreiben und insgesamt vier Hektar Rebfläche mit neun verschiedenen Rebsorten bewirtschaften.

Wenngleich erst der zweite Jahrgang des Schweizer Wellentänzers seiner Genussreife auf den sanften Wellen des Zürichsees entgegengeschaukelt ist, ist die Geschichte und vor allem die Ursprungsidee eines durch Wellenbewegung gereiften Weines viel älter – aufbauend auf den Erfahrungen von Louis-Gaspard d’Estournel, der seine Weine einst bis ins ferne Indien erfolgreich verkaufte. Als der Markt dort einbrach, verschiffte er sie kurzerhand wieder zurück nach Bordeaux. Bei der anschliessenden Verkostung stellte er überrascht fest, dass die «geschaukelten» Weine hervorragend schmeckten, ja sogar besser als jene, die im heimischen Keller verblieben waren. Diese Idee griff der österreichische Winzer Fabian Sloboda 2017 auf und versenkte seine Weinboje im Neusiedler See. Gekrönt wird die Boje von einer Tänzerin, die der befreundete Designer Nikolas Eberstaller kreierte. Fabians erster Wein schaukelte 144 Tage im See. Bei einem Besuch am Neusiedler See hatten Chantal und Robert die Gelegenheit, den Wellentänzer von Fabian Sloboda zu probieren, und waren von dem Konzept so überzeugt, dass sie sich entschieden, den Wellentänzer über die Landesgrenze zu bringen.

2019 war es dann so weit: Die nach den Originalplänen in der Schweiz gefertigte Boje der Irsslingers wurde mit Johanniter 2019 gefüllt und im Hafen von Rapperswil am Zürichsee am 8. November eingewassert. Die spezielle Konstruktion der Boje mit einer ersten, äusseren Kammer, die mit Luft gefüllt ist, um die Boje auch im befüllten Zustand schweben zu lassen, und einer zweiten, inneren Kammer, in die der Wein gefüllt wird, sorgt für den rein natürlichen Temperatureinfluss. Der Wein wird dabei nicht der Sonneneinstrahlung und somit der Wärme ausgesetzt, sondern nur der unterschiedlichen Wassertemperatur des Sees. Insgesamt 139 Tage wurde die Boje im See belassen und die sanften Wellen im Hafen von Rapperswil sorgten für die ganz besondere Reifung. Der Jahrgang 2020 wurde an einem exponierteren Standort verankert: am Bürkliplatz in Zürich. Durch die an- und ablegenden Seeschiffe ist das Wasser dort mehr in Bewegung und der Wein wird deutlich mehr bewegt. Die Reifezeit wurde auf 70 Tage verkürzt. Das Ergebnis: Der Wein schmeckt noch intensiver und lebhafter.

Johanniter Wellentänzer 2020
Vin de Pays Schweiz

17.5 Punkte | 2021 bis 2025

Gelbe Fruchtnoten umschmeicheln die Nase, feine Kräuternote. Am Gaumen kompakt und wiederum frisch, gelbe Frucht mit mineralischen Noten. Sehr ausgewogen.

Johanniter Zwillingswein 2020
Vin de Pays Schweiz

17 Punkte | 2021 bis 2025

Frische, leichte Zitrusnoten in der Nase. Frisches, weisses Steinobst, Limettenabrieb. Ausgewogene Struktur mit gut eingebundener Säure. Anhaltendes Finale.

Johanniter Wellentänzer 2019
Zürichsee AOC

18 Punkte | 2021 bis 2024

Gelbe, konzentrierte Fruchtnoten und feine Kräuter. Im Mund sehr saftig mit reifer Amalfizitrone. Sehr ausgewogen und kompakt. Die angenehme, intensive Zitrusnote zieht sich bis in den Abgang hinein.

Johanniter Zwillingswein 2019
Zürichsee AOC

17.5 Punkte | 2021 bis 2024

Intensive gelbe Frucht in der Nase, Schmelz und feine Nussnoten, unterlegt mit einem Hauch frischer Gartenkräuter. Am Gaumen mit delikater Zitrusnote, sehr frisch und animierend. Kräuterwürze und ein Hauch Nussschale. Langer Abgang.

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