
Als Psychologe, Forschungsingenieur und Dozent an der Université de Bourgogne hat Jacky Rigaux die Verkostungstechnik der Gourmets dank dem Winzer Henri Jayer neu entdeckt. Von Rigaux stammt der Begriff «geosensorische Verkostung».
Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal von den Gourmets gehört haben?
Das war während einer Weinprobe bei dem aus dem Burgund stammenden Henri Jayer. Als ich den Wein mit unzähligen Geruchsnotizen beschrieb, sah er mich an und sagte: «Sag mal, Wein ist nicht zum Riechen da, sondern zum Trinken!» Er bezog sich auf die Gourmets. Er empfahl mir das Buch «Histoire et Statistique de la Vigne et des Grands Vins de la Côte d’Or», das 1855 von Professor Jules Lavalle veröffentlicht wurde. Später stiess ich auch in «Die fünf Sinne» von einem unserer grossen Philosophen, Michel Serre, auf die Gourmets.
Wer sind diese berühmten Gourmets?
Ab dem 12. Jahrhundert entwickelte sich ein europaweiter Weinhandel. Es gab in allen wichtigen Städten und Weinanbaugebieten Weinhändler, die als «Gourmets» bezeichnet wurden. Sie existierten bis zur Französischen Revolution und konnten erkennen, ob der Wein in einem Fass tatsächlich von dem Ort stammte, der auf dem Etikett angegeben war. Sie konnten ihn insbesondere durch den Geschmackssinn erkennen. Zwar achteten sie auch auf die Aromen, doch diese nahmen sie eher über den retronasalen Geruchssinn wahr.
Definieren Sie geosensorische Verkostung!
Bevor es die sogenannte sensorische Analyse gab, wurde der Tastevin verwendet. Die geosensorische Verkostung ist eng mit der Philosophie der Klimazonen verbunden. Der Ort hinterlässt im Glas eine spürbare Botschaft. Unsere früheren Gourmets nahmen den Wein zuerst in den Mund, tasteten ihn ab.
Warum ist die Methode der Gourmets in Vergessenheit geraten?
Im 19. Jahrhundert setzten sich technische Weine durch, die Praxis der Gourmets ging verloren. Vergessen wir nicht, dass in den 1960er und 1970er Jahren das Vokabular der Weinverkostung unglaublich armselig war. Damals wollten die Winzer die Appellationen erheblich ausweiten. Die sensorische Analyse von Aromen setzte sich als allgemeiner Standard durch. Dies wurde durch die Einführung des Glases INAO, den Aufstieg der Massenweine aus der Neuen Welt und die Vorliebe der Amerikaner für Weine mit Holznoten begünstigt.
Warum sollten wir zu den Verkostungsmethoden der Gourmets zurückkehren?
Weil wir wissen, dass die Gourmets viel mehr Herkunftsinformationen zum Wein erhielten, wenn sie mit dem Mund begannen. Sobald ich anfing, wie sie zu verkosten, nahm ich im Wein viel mehr wahr.
«Wenn es um den Geschmackssinn geht, kann man keine Märchen erzählen.»
Als ich anfangs mit meinem Freund Henri Jayer übte, dachte ich überhaupt nicht daran, diese Praxis zu konzeptualisieren. Ich war ein passionierter Verfechter der Terroirs, ein Umweltschützer der ersten Stunde, und die Verkostungsmethode der Gourmets war für mich eine Möglichkeit, meine Überzeugungen zu untermauern.
Und dennoch haben Sie diese Methode konzeptualisiert und umbenannt.
Ja, denn die Bezeichnung «Verkostung der Gourmets» erinnerte zu sehr an Kochen. Es war einfacher, sie umzubenennen und so einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Auge, erste Nase, zweite Nase, Mund: Die analytische Verkostung folgt diesen Schritten. Wie sieht es bei der geosensorischen Verkostung aus?
Wir sprechen von den vier Mundbewegungen. Beim ersten Schluck wird der Wein gekaut, um die Textur zu spüren und ihn mit allen Tastempfindungen im Mund wahrzunehmen. Beim zweiten Schluck schliesst man die Augen und konzentriert sich auf die Speichelbildung. Mit dem dritten Schluck kommt die Geschmacksanalyse: Lebendigkeit, Salzigkeit, Bitterkeit, Süsse und jetzt umami. Erst beim vierten Schluck kommen die Aromen ins Spiel, allerdings über die retronasale Wahrnehmung und nicht über die Nase.
Wie wichtig ist die Analyse von Aromen in Ihrem Verkostungsansatz?
Anfangs dachten die Journalisten, wir würden Aromen leugnen, aber das ist nicht der Fall! Ich bin ein Verfechter von Aromen. Laut dem Soziologen Edgar Morin beruht die moderne Wissenschaft auf Vereinfachung. Genau das ist der Fall bei der analytischen Verkostung. Als Jules Chauvet in den 1960er Jahren die analytische Verkostung entwickelte, hat er die Verkostung gewissermassen verkürzt. Er behauptete, dass der Geruchssinn 20 000-mal empfindlicher sei als der Geschmackssinn. Er hatte tatsächlich eine unglaubliche Nase!
Ist die Rebsorte noch wichtig?
Man blendet die Rebsorte völlig aus, um die Botschaft des Ortes zu spüren. Dies macht die geosensorische Verkostung so faszinierend.
Bei der analytischen Verkostung spricht man von Deskriptoren (Veilchen für Syrah, Aprikose für Viognier und so weiter). Ist das hier auch der Fall?
Definitiv! Auch wenn die geosensorische Verkostung ein eher ganzheitliches Ziel verfolgt.
Wir haben den Geschmackssinn angesprochen. Hier kommt dem Speichelfluss eine besonders grosse Bedeutung zu...
Ein grosser Terroirwein ist ein Wein, der den Speichelfluss anregt. Es gibt diese sogenannten «Monsterweine» aus der Neuen Welt, gut strukturiert und beim ersten Schluck ein Genuss, aber beim zweiten fehlt ihnen etwas. Während bei einem echten Ortswein der Speichelfluss angeregt wird.
Ist die geosensorische Verkostung für Weinkenner aller Niveaus geeignet?
Natürlich! Denn in Bezug auf den Mund kann man keine Märchen erzählen. Begriffe wie kräftig oder schlank, warm oder kalt sind sehr präzise. Für die Textur lassen wir die Schülerinnen und Schüler eine Reihe von Stoffen anfassen. Etwa 30 Prozent der taktilen Rezeptoren befinden sich im Mund. Das bedeutet, dass er beim Tasten ebenso empfindlich wie Hände, Füsse oder die Haut ist. Man muss diese Fähigkeiten lediglich wiederentdecken. Der Amateur, der mit dem Mund beginnt, fühlt sich viel wohler, weil er an ganz natürliche Dinge anknüpft. Auch wenn er nicht sofort Veilchen oder Pflaume erkennt, spürt er die Substanz. Der Gaumen ist universeller. Mundgefühle lassen sich leichter beschreiben als Geruchseindrücke.
Trotzdem sind wir es nicht gewohnt, das Gefühl im Mund zu beschreiben. Gibt Ihre Ausbildung in Strassburg dafür Werkzeuge an die Hand?
Ja, natürlich. Wir bringen unseren Schülern bei, die taktilen Merkmale zu identifizieren, die für den Speichelfluss, aber auch für die verschiedenen Geschmacksrichtungen verantwortlich sind: Schärfe, Salzigkeit, Bitterkeit, Süsse und umami.
Wer sind die Teilnehmer Ihrer Ausbildung?
Das ist ganz verschieden: Kritiker, Winzer, passionierte Amateure, die nun professionell tätig sind.
Ist jedes Terroir in jeder Weinregion für eine geosensorische Verkostung geeignet?
Natürlich. Die Italiener zum Beispiel sind sehr an diesem Ansatz interessiert, den sie mit den grossen Barolo und zunehmend auch mit den toskanischen Weinen verbinden. Ein italienischer Verlag wird übrigens mein Buch übersetzen. In Spanien wendet auch Álvaro Palacios diese Methode an. Ich stehe in Deutschland mit Egon Müller und Katharina Prüm in Verbindung. Und ich komme gerade aus Santa Barbara in Kalifornien zurück. Ich leite regelmässig Workshops für chinesische Amateure. In Shanghai wurde eine Schule für geosensorische Verkostung eröffnet. Glücklicherweise ist man es dort gewohnt, den Tee auf eine etwas ähnliche Art und Weise zu verkosten.
Was raten Sie jemandem, der damit beginnen möchte?
Üben, üben, üben! Zum Beispiel durch die Teilnahme an Workshops.
Was antworten Sie den Skeptikern?
Ich empfehle ihnen, die Arbeiten meines Freundes Gabriel Lépousez, eines Neurobiologen und Spezialisten für Sinneswahrnehmung, sowie von Historikern und anderen Experten zu lesen, die sich mit den Gourmets und ihren Praktiken befasst haben.