Wie Hermann Müller Geschichte schrieb

Der talentierte Herr Müller

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: z.V.g.

Laborraum der Versuchsanstalt Wädenswil, welche Hermann Müller als erster Direktor ab 1891 geleitet hat.

Noch im Jahr 2000, als sich das Geburtsjahr von Hermann Müller zum 150. Mal gejährt hatte, war es fast gespenstisch ruhig um den Biologen und Rebforscher, dem mit der nach ihm benannten Rebsorte die weltweit erfolgreichste weisse Züchtung der Geschichte gelungen war. Die damalige Zurückhaltung hatte ihre Gründe: Erstens verlor der Müller-Thurgau in jenen Jahren dramatisch an Popularität. Zweitens hatte sich ein Jahr zuvor mittels einer gentechnischen Analyse bestätigt, was schon lange vermutet worden war: Hermann Müller und seinem Team war während des Züchtungsprozesses ein ärgerlicher Fehler unterlaufen, hatten sie doch nicht, wie von ihnen angenommen und publiziert, die Sorten Riesling und Silvaner gekreuzt, sondern Riesling und die unbekannte Sorte Madeleine Royale. In Deutschland hatte die Verwechslung kaum Folgen, weil die Sorte dort von Anfang an Müller-Thurgau genannt wurde. Ganz anders in der Schweiz, wo sie fatalerweise unter ihrem falschen Kreuzungsnamen «Riesling × Silvaner» bekannt war. Eine klare Namensänderung hätte die logische Folge sein müssen. Doch die Schweizer Weinbaubranche konnte sich lediglich zu einem «juristischen Winkelzug» durchringen und ersetzte das «×» im Namen durch einen Bindestrich, so dass die Sorte bis heute «Riesling-Silvaner» genannt wird. Keine Meisterleistung in Sachen Transparenz und wahrheitsgetreuer Deklaration. Die Folge dieser «Mauschelei»: In der Schweiz müssen all jene, die jetzt die mannigfaltigen Leistungen von Hermann Müller neu würdigen, damit leben, dass jede Flasche, die als «Riesling-Silvaner» in den Handel kommt, auf diesen Makel in der Karriere Müllers verweist.

Die jetzige Wiederentdeckung des Naturwissenschaftlers, 175 Jahre nach seiner Geburt, kommt zur richtigen Zeit. Nach einer jahrzehntelangen Talfahrt hat sich die Anbaufläche seiner Sorte wieder stabilisiert. Abseits der dominierenden «Mainstream-Weine» mit Muskat-Touch und ordentlich Restzucker entlocken Spitzenwinzer dem Gewächs kaum für möglich gehaltene Eigenschaften. Maischegärung oder Maischestandzeit, Ausbau auf der Feinhefe sowie die Vinifikation in Tonamphoren oder Betoneiern – all dies bringt Weine mit Charakter, Grip und Temperament hervor. Hermann Müller hat sich zu Lebzeiten garantiert nicht vorstellen können, dass seine Sorte fast hundert Jahre nach seinem Tod zur Basis von unkonventionellen Weinen wird. Oder dass sie einen Grand Cru wie den Vigna Feldmarschall von Fenner von der Schlosskellerei Tiefenbrunner hervorbringen kann, der im Südtiroler Unterland rund tausend Meter über Meer reift und seinen Preis von 46 Euro mehr als wert ist.

Noch wenig bekannt ist auch, dass das Schaffen von Hermann Müller weit über seine Rolle als Rebzüchter hinausging. So setzte er sich, lange bevor der Weinkonsum zu schrumpfen begann, mit alkoholfreien Mosten auseinander, was schliesslich zur Buchpublikation «Die Herstellung unvergorener und alkoholfreier Obst- und Traubenweine» führte, noch heute ein Standardwerk. Dass sein Schaffen inzwischen ganzheitlich gewürdigt wird, ist vor allem das Verdienst der 2019 gegründeten Müller-Thurgau Stiftung. «Hermann Müller hatte nicht nur eigene Ideen, er konnte Wissen verständlich weitergeben und andere begeistern. Auch wie er Wissenschaft und Praxis verband, war richtungsweisend», sagt Stiftungspräsident Lukas Bertschinger. Um diesen ganzheitlichen Ansatz im Wirken von Hermann Müller weiterzutragen, fördert die Stiftung vor allem «die Transformation von Agro-Food-Systemen mit dem Fokus auf Spezialkulturen».

Schlossherr in Wädenswil

Doch wer war der im Jahr 1850 geborene Hermann Müller? Aus einer Bäcker- und Bauernfamilie im thurgauischen Tägerwilen stammend, schien sein Berufsweg im Bereich der Naturwissenschaften nicht vorgezeichnet und somit ungewöhnlich. Offenbar konnte er schon früh mit viel Tatendrang, einer raschen Auffassungsgabe und klaren Vorstellungen in Bezug auf seinen Berufsweg das Manko wettmachen, dass er kein Vertreter jener gesellschaftlichen Schicht war, in der damals ein akademischer Lebensweg quasi vorgezeichnet war. Trotzdem legte Müller schon in jungen Jahren eine beeindruckend rasante Karriere hin. Zuerst kurze Zeit als Lehrer tätig, studierte er an der heutigen ETH in Zürich sowie der Universität Neuenburg. Schon 1872, im Alter von 22 Jahren, fand er als Doktorand und Assistent von Julius Sachs am Botanischen Institut der Universität Würzburg sein bevorzugtes Berufsfeld. Sachs, der als Begründer der experimentellen Pflanzenphysiologie gilt, hatte, was seinen Lebensweg anbelangte, einiges mit Müller gemeinsam.

Auch er stammte aus vergleichsweise einfachen Verhältnissen und avancierte zielstrebig zu einem Wissenschaftler von internationalem Ruf. In Würzburg erhielt der Schweizer Forscher übrigens auch seinen Beinamen «Müller-Thurgau», um ihn von seinem Namensvetter Heinrich Ludwig Hermann Müller zu unterscheiden, der in der gleichen Epoche ebenfalls ein renommierter Botaniker war. Nach einigen Jahren in Würzburg wurde Hermann Müller dann 1876, zu diesem Zeitpunkt gerade mal 25 Jahre alt, als Leiter der pflanzenphysiologischen Versuchsstation an die Forschungsanstalt Geisenheim berufen. Hier im Rheingau lernte er auch seine Frau kennen, die Weinhändlerstochter Bertha Anna Biegen. 1882 kündigte er seine Neuzüchtung an, die später als Müller-Thurgau in die Geschichte eingehen sollte. Rund zehn Jahre später, im Jahr 1891, wurde er zum ersten Direktor der Deutschschweizerischen Versuchsanstalt und Schule für Obst-, Wein- und Gartenbau ernannt. So zog das Ehepaar mit seinen drei Töchtern nach Wädenswil an den Zürichsee. Hier residierte die Familie fortan, selbst für einen Institutsleiter nicht selbstverständlich, im zum Institut gehörenden Schloss mit herrlicher Sicht auf den See.

In Wädenswil fand dann auch die Vermehrung seiner Neuzüchtung statt. Wie es dabei zur ärgerlichen Verwechslung der Kreuzungspartner kam, ist nicht restlos geklärt. Müller liess sich 150 Stecklinge seiner Kreuzung, «fein säuberlich verpackt», wie er später ausführte, von Geisenheim in die Schweiz schicken. Doch was in Wädenswil schliesslich vermehrt wurde, war Riesling × Madeleine Royale. Hermann Müller soll geahnt haben, dass etwas schiefgelaufen war. So sollen handschriftliche Notizen existieren, in denen er anregt, die Kreuzung nochmals zu überprüfen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Die Neuzüchtung hatte schon zu viel Eigendynamik entwickelt. Als Hermann Müller im Jahr 1927 starb, war seine Sorte noch eine hoffnungsvolle Neuzüchtung von vielen. 50 Jahre später avancierte sie zur meistangebauten Sorte in Deutschland.

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