Interview mit Michael Tischler-Zimmermann und Theresa Olkus
Zwei Verbände, eine Lage
Text: Harald Scholl, Fotos: Annette Sandner

Wenn zwei der prägendsten Vereinigungen des deutschsprachigen Weinbaus zusammenkommen, geht es nicht um PR, sondern um Perspektiven. Den Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) und die Österreichischen Traditionsweingüter (ÖTW) eint eine Idee: Qualität durch Herkunft. Ein Gespräch über die aktuelle Lage des Qualitätsweinbaus im deutschsprachigen Raum.
Der Anlass für dieses Gespräch ist nicht zufällig. Mit der Vorpremiere VDP.GROSSES GEWÄCHS® in Wiesbaden und dem ÖTW Wine Summit in Grafenegg liegen gerade zwei der wichtigsten Veranstaltungen des Jahres hinter der deutschsprachigen Weinwelt. Beide Formate gelten als Gradmesser für die Herkunftspyramide, die Überzeugung der Verbände und die internationale Wirkung deutscher und österreichischer Spitzenweine. Grund genug also, nachzufragen: Wo stehen beide Organisationen heute bei der Umsetzung ihrer Lagen- beziehungsweise Riedenklassifikation? Wie weit ist der Schulterschluss möglich, und was bedeutet das für die Zukunft des Weins in Deutschland und Österreich? Denn die Lagenfrage war und ist ein langer Weg zur Klarheit. Die Einführung einer Herkunftspyramide ist für beide Verbände mehr als ein Marketingkonzept. Es ist die Rückbesinnung auf ein Prinzip, das in klassischen Weinbaunationen wie Frankreich längst als Fundament gilt: Das Terroir ist entscheidend, nicht die Rebsorte. In Deutschland und Österreich hingegen war die Rebsortenklassifikation über Jahrzehnte prägend, ergänzt durch die Qualitätsstufen des Mostgewichts – ein System, das international oft für Verwirrung sorgte.
«Die Tatsache, dass unsere Klassifikation 2023 vom Minister unterschrieben wurde, ist ein starkes Signal.»
Michael Tischler-Zimmermann
Die Umstellung hin zu einem herkunftsbezogenen Modell ist deshalb nicht nur ein Paradigmenwechsel, sondern auch ein mühsamer, oft emotional geführter Prozess. Während im 1910 gegründeten VDP die Diskussionen schon über 30 Jahre andauern, haben sich die ÖTW im Jahr 1991 mit dieser Zielsetzung aus einer regionalen Keimzelle gegründet. Besonders schwierig gestaltete sich die Frage, welche Lagen tatsächlich herausragende Qualität liefern, eine anerkannte Reputation aufweisen und auch historisch als solche belegt sind. In beiden Ländern mussten Regionen systematisch neu bewertet, kartiert und juristisch definiert werden. Dabei ging es nicht nur um Geologie oder Klima, sondern auch um Besitzverhältnisse, regionale Eitelkeiten und wirtschaftliche Interessen. In Österreich war zunächst zu klären, wo überhaupt welche Lage beginnt und endet – die sogenannte Riedenabgrenzung. Auch in Deutschland führte die Diskussion über Einzellagen, Grosslagen und ihre Bewertung über Jahre hinweg zu intensiven Auseinandersetzungen. Zudem erschwert die föderale Struktur beider Länder den Prozess. Während in Frankreich zentrale Regelungen durch das Institut National des Appellations d’Origine (INAO) getroffen werden, müssen in Deutschland und Österreich zahlreiche regionale Schutzgemeinschaften, Landesministerien und Winzervereinigungen eingebunden werden. Was auf der Karte so klar wirkt, war in der Umsetzung ein Kraftakt, der neben Sachverstand vor allem eines erforderte: Geduld und Dialogbereitschaft.

Michael Tischler-Zimmermann, wie weit ist man mit dem Thema Riedenklassifikation in Österreich?
Michael Tischler-Zimmermann: «Noch nicht ganz da, wo wir gerne wären, aber dramatisch sehe ich das nicht. Ja, es war ein langer Weg. Wir haben sehr früh begonnen – eigentlich war schon bei der Gründung der ÖTW klar, dass wir uns mit der Klassifikation beschäftigen werden. Zehn Jahre intensive Arbeit haben wir gebraucht, um die Grundlagen zu schaffen. Seit 2010 klassifizieren wir Rieden, angefangen im Kremstal. Inzwischen sind auch Wagram, Traisental, Wien, die Thermenregion und das Weinviertel dabei. Das Burgenland fehlt noch, ebenso wie ein Teil der Steiermark.» Schon die systematische Abgrenzung der Rieden sei ein Kraftakt gewesen, erklärt Tischler-Zimmermann. «In der Steiermark hat dieser Prozess bis letztes Jahr gedauert. Wir brauchten eine exakte Grundlage, um sagen zu können: Um welche Riede geht es konkret? Welche historischen, geologischen, klimatischen Kriterien greifen hier? Nur dann ist die Klassifikation glaubwürdig.»
Auch in Deutschland war der Weg zur Lagenklassifikation lang – wenn auch in anderer Form. Statt auf staatlicher Ebene zu starten, entwickelte der VDP früh sein eigenes Stufensystem mit Guts-, Orts- und Lagenweinen. Mit dem Grossen Gewächs wurde die Spitze der Herkunftspyramide 2002 offiziell etabliert. 20 Jahre später ist dieses System in der Branche breit akzeptiert – und nun im Begriff, auf das deutsche Weinrecht überzugehen.

Theresa Olkus, wie ist der Stand in Deutschland?
Theresa Olkus: Insgesamt sind wir an einem ähnlichen Punkt wie die Kollegen in Österreich. Auch wenn der VDP natürlich historisch betrachtet früher mit dem Prozess begonnen hat. Wir haben auch schon viel erreicht: 2022 haben wir 20 Jahre Grosses Gewächs gefeiert, das war ein Meilenstein. Heute liegt ein Beschluss für eine gesetzliche Lagenklassifikation beim zuständigen Bundesministerium, und das ist wirklich ein Riesenschritt.» Sie berichtet vom intensiven Abstimmungsprozess: «Wir waren in allen Regionen unterwegs, bei Schutzgemeinschaften, Gremien, Betrieben. Es ging darum, immer wieder zu erklären, was wir machen, warum wir das machen und was es braucht: Verzicht, Konsequenz und einen langen Atem.» Der Wille zur Differenzierung sei gross, sagt sie, aber auch der Widerstand. Denn Lagenklassifikation ist ein komplexes Thema, das sich nicht über Nacht verankern lässt. «Am Anfang hatten viele nur eine grobe Vorstellung. Heute ist das Wissen gewachsen, auch weil wir es immer und immer wieder erklärt haben.»
Keine Pyramide ohne Spitze
Beide Verbandsvertreter sind überzeugt: Herkunftsqualität funktioniert nur, wenn es eine klar definierte Spitze gibt. In Zeiten rückläufigen Konsums, internationaler Überproduktion und inflationsbedingter Kaufzurückhaltung gilt mehr denn je: ohne Exzellenz keine Orientierung, ohne Orientierung keine Strahlkraft, ohne Strahlkraft kein Absatz – weder im Handel noch beim Endverbraucher. Billigwein aus Deutschland oder Österreich hat langfristig keine Chance auf dem Weltmarkt. Die Produktionskosten sind zu hoch, die Konkurrenz aus Übersee oder Osteuropa bei preiswerten Konsumweinen zu stark. Tatsächlich wird in beiden Ländern inzwischen offen über Flächenstilllegungen diskutiert, vor allem in weniger qualitätsträchtigen Lagen. In diesem Kontext wird die Lagenklassifikation zu einem Leitinstrument – nicht nur für Vermarktung, sondern auch für die Struktur des gesamten Weinbaus. Aber es ist nicht leicht, sich auf eine Spitze zu einigen. Wie schwer war es also, diesen Exzellenzgedanken durchzusetzen?
«Früher haben wir selbst mit dem Claim ‹Die Elite Deutschlands›gearbeitet. Heute geht es mehr um geteilte Werte.»
Theresa Olkus
Michael Tischler-Zimmermann: «Ich komme aus einem internationalen Umfeld. Und da ist klar: Es geht nur über die Spitze. Die besten Betriebe müssen den Weg weisen. Seit den 1990er Jahren gab es Vorreiter, die unfassbar viel Arbeit geleistet haben. Zeit, Geld, Reisen, Weine, alles wurde investiert. Jetzt profitiert eine ganze Generation davon. Aber wir dürfen nicht nachlassen. Wir müssen den Nächsten wieder klarmachen: Wir brauchen die qualitative Speerspitze.»
Theresa Olkus:«Die Spitze ist ein Versprechen. Sie funktioniert aber nur, wenn sie glaubhaft und konsequent gedacht ist. Nicht jede Lage kann Erste Lage oder Grosses Gewächs sein. Das ist nicht einfach zu kommunizieren, aber essenziell. Und es ist schön zu sehen, dass dieser Gedanke mittlerweile auch in der Breite des Marktes angekommen ist.»

Rückenwind oder Gegenwind?
Die Umsetzung solcher Systeme hängt auch entscheidend davon ab, ob Politik und Behörden bereit sind, sie rechtlich abzusichern und in die nationale Gesetzgebung zu überführen. In Österreich wurde mit der Novelle des Weingesetzes 2023 die Grundlage für eine gesetzlich verankerte Lagenklassifikation geschaffen. Möglich wurde das durch die jahrelange Vorarbeit der Österreichischen Traditionsweingüter, deren Systematik mittlerweile in offizielle Strukturen einfliesst. Der Prozess ist dennoch komplex: Die Klassifikation erfolgt in Abstimmung mit regionalen Weinbauvereinen, muss durch regionale Weinkomitees beschlossen und vom Landwirtschaftsministerium genehmigt werden. Bisher ist dies im Kamptal am weitesten fortgeschritten – andere DAC-Gebiete wie das Burgenland stehen noch am Anfang. In Deutschland wiederum wird das Thema im Kontext des neuen Herkunftsrechts verhandelt, das im Rahmen des § 42 a der Weinverordnung im Jahr 2021 eingeführt wurde. Es erlaubt Schutzgemeinschaften, Lagen nach qualitativen Kriterien zu unterteilen. Der VDP hat seine Systematik als Blaupause angeboten und massgeblich an den Gesprächen im Deutschen Weinbauverband mitgewirkt. Im November 2024 wurde ein Vorschlag für eine nationale Lagenklassifikation beschlossen und liegt derzeit zur Prüfung beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Auch hier ist der Prozess föderal und politisch anspruchsvoll, denn jede Region muss mitziehen, jede Schutzgemeinschaft zustimmen, und nicht zuletzt müssen juristische Details wie Lagenabgrenzung, Prüfmethoden und Kennzeichnungsregeln eindeutig formuliert werden, um ein Auseinanderdriften auf regionaler Ebene zu verhindern. Trotz dieser Herausforderungen ist die politische Resonanz heute deutlich positiver als noch vor zehn Jahren. Sowohl in Wien als auch in Berlin scheint man erkannt zu haben, dass eine glaubwürdige Herkunftspyramide ein strategischer Vorteil ist – wirtschaftlich, weinbaulich und kulturell.
Theresa Olkus: «Das Ministerium sieht, welchen Beitrag unsere Mitglieder leisten. In einer Zeit, in der viele Betriebe umdenken müssen, ist das wichtig. Unsere Weingüter geben Orientierung, sie stehen für Qualität. Und das schätzt man auch politisch.»
Michael Tischler-Zimmermann: «Die Tatsache, dass unsere Klassifikation 2023 vom Minister unterschrieben wurde, ist ein starkes Signal. Auch die ÖWM unterstützt uns, etwa mit einem detaillierten Kartenwerk zu den Rieden. Ich finde das fantastisch. Es zeigt, dass Herkunft kein Randthema mehr ist, sondern in der Mitte der Weinpolitik angekommen ist.»
Sowohl ÖTW als auch VDP sind keine staatlichen Institutionen, sondern private Vereine – getragen von engagierten Winzerinnen und Winzern, aber auch von hauptamtlichen Geschäftsstellen. Die Balance zwischen freiwilligem Engagement und professionellem Anspruch ist dabei eine Herausforderung.
ÖTW wie VDP sind letztlich private Organisationen, keine staatlichen Stellen. Wären all diese Prozesse nicht eigentlich eine staatliche Aufgabe?
Michael Tischler-Zimmermann: «Jein. Klar könnte man sagen, dass das eigentlich eine ministerielle Aufgabe ist. Aber wir verstehen uns immer auch als Vordenker, als Motor der Branche. Wir bringen Leistung ein – ideell wie monetär. Unsere Mitglieder bekommen nicht das Standardpaket, sondern das Pluspaket.»
Theresa Olkus: «Ich habe das in meiner Anfangszeit beim VDP unterschätzt. Erst nach und nach wurde mir klar, welchen gesellschaftlichen Auftrag wir indirekt auch haben. Wir sind Kompass, nicht nur für unsere Mitglieder, sondern für die gesamte Branche.»
Die Herkunftsorientierung hat den Ruf beider Verbände grundlegend verändert – doch das Image einer «Wein-Elite» haftet mancherorts noch immer. Beide Geschäftsführer werben dafür, diesen Begriff als Ansporn zu verstehen – nicht als Ausgrenzung. Das Wort «Elite» fällt oft. Wie geht man damit um?
«Wir teilen die Idee von Herkunft. Das verbindet.»
Theresa Olkus
Theresa Olkus: «Früher haben wir selbst mit dem Claim ‹Die Weinelite hat einen Vogel› gearbeitet. Heute geht es mehr um geteilte Werte. Unsere Mitglieder sind Orientierungspunkte. Und viele Jungwinzer wollen genau das: Teil eines Werteverbunds sein.»
Michael Tischler-Zimmermann: «Ja, das hören wir teilweise immer noch. Aber es gibt auch viel positives Feedback. Viele wollen Mitglied werden. Wenn wir erklären, was dazugehört, ist das oft ein Weckruf für die Betriebe. Und wenn jemand daran wachsen will, ist das doch grossartig.»
Inzwischen sei das Interesse junger Betriebe gross, betont Theresa Olkus: «Was mich freut: Wir haben die nächste Generation aktiv ins Präsidium eingebunden. Acht junge Leute arbeiten hier mit. Die Mischung aus jahrzehntelanger Erfahrung und frischem Blick hat uns enorm bereichert.»
Die Bühnen der Herkunft
Ähnliche Wege geht man auch in Fragen der Präsentation. Ende August, bzw. Anfang September gehen beide Verbände mit den jeweils neuesten Jahrgänge ihrer Mitgliedsbetriebe an die Öffentlichkeit. Beides Ereignisse mit veritabler öffentlicher Aufmerksamkeit: Journalisten, Händler, Sommeliers erhalten hier einen konzentrierten Eindruck von den kurz danach in den Handel kommenden Spitzenweinen. Beide Formate gelten international als beispielhaft und zeigen, wie konsequent Herkunft heute inszeniert werden kann.
Theresa Olkus: «Die VDP.Vorpremiere in Wiesbaden ist unsere wichtigste Veranstaltung. Perfekte Bedingungen für Verkoster, alles am Platz, nach Herkunft sortiert. International wird uns dafür Respekt gezollt. Und es hat die Entwicklung des Grossen Gewächses massiv vorangetrieben.»
Michael Tischler-Zimmermann: «Der ÖTW Summit ist ein Meilenstein für uns. Über 500 Weine, die relevantesten Rieden, gezielt eingeladene Verkoster. Wir wollen Sichtbarkeit, international wie national. Und wir wollen nicht nur grösser werden, sondern besser.»
Dass sich die beiden Verbände immer enger austauschen, ist mehr als Symbolik. In Gesprächen mit Akteuren aus Südtirol, dem Elsass und sogar der Schweiz zeigt sich: Die Idee eines gemeinsamen «deutschsprachigen Herkunftsmodells» ist gereift. Erste konkrete Schritte sind gemacht. In Grafenegg 2025 wurde ein VDP-Flight präsentiert, in Wiesbaden könnten künftig ÖTW-Weine folgen.
Michael Tischler-Zimmermann: «Dieses Jahr haben wir erstmals VDP-Weine in Grafenegg gezeigt. Ein kleiner Flight, als Zeichen der Verbundenheit.»
Theresa Olkus: «Crossmarketing nennen wir das. Und wenn es klappt, gibt es im Gegenzug ÖTW-Weine in Wiesbaden.»
Die Perspektive ist klar: gemeinsames Auftreten auf internationalen Bühnen, abgestimmte Kommunikation, gegenseitiger Wissenstransfer.
Theresa Olkus: «Wir lernen voneinander. Klassifikation ist kein statisches System. Und der Austausch bringt immer neue Impulse.»
Michael Tischler-Zimmermann: «Unsere Systeme sind kompatibel. Warum also nicht gemeinsam auftreten, vor allem international? Wir teilen die Idee von Herkunft. Das verbindet.»