An der Wiege des Weins

Text: Beat Gerber

  • Marktfrau mit Areni-Wein.
  • Weinfelder mit dem Berg Ararat im Hintergrund.

Armenien ist bekannt als Land der Steine, kaum aber für seine Weine. Der gebirgige und geschichtsträchtige Staat zwischen Europa und Asien hat jedoch ein grosses Potenzial für variationsreiche, innovative Tropfen. Von den intensiv fruchtigen und würzigen Aromen der Nationaltraube Areni liess sich auch ein Schweizer Weinhändler begeistern. Die öno- logische Spurensuche im armenischen Kaukasus führt von zwei gegensätzlichen Gütern aus der Sowjetzeit und der Moderne bis in eine Höhle zur weltältesten Kellerei.

Areni ist gewiss kein malerischer Ort, ungeachtet des melodiösen Namens. Die gleichförmigen, grauen Häuser liegen verstreut in der kargen Gebirgslandschaft. Eindrucksvoll hingegen thront die grosse Kirche auf einem Hügel über dem 1800-Seelen-Dorf. Der kunsthistorisch bedeutsame Kreuzkuppelbau aus dem 14. Jahrhundert ist von weitem zu sehen.

Areni ist ausserhalb Armeniens ein unbekannter Fleck, sein Weinfest im Herbst wird aber gut besucht. Das Provinznest im Süden des Landes auf 1000 Meter Höhe gilt als nationales Weinzentrum. Den gleichen wohlklingenden Namen trägt auch die regional verbreitete Traubensorte, die auf den Hängen ringsum gedeiht. Und in einer benachbarten Höhle haben Archäologen vor einigen Jahren die weltweit älteste «Weinkellerei» ausgegraben. Doch alles schön der Reihe nach, wie bei einer ordentlichen Verkostung.

Das rege Geschäftsleben von Areni findet ausserhalb des Dorfzentrums statt. Wir stehen an der nahen Durchgangsstrasse, einer der wichtigsten Transitverbindungen des Landes. Hier reihen sich auf einem Kilometer kleinere Weinkellereien und vor allem eine Vielzahl wackliger Verkaufsbuden, die den lokalen Wein feilbieten, randvoll abgefüllt in grossen Cola- und anderen Softdrink-Flaschen.

Die Grenze zum Iran ist nicht weit entfernt, und die LKW-Fernfahrer legen auf ihrem weiten Weg nach Teheran hier eine kurze Einkaufspause ein. Getarnt schmuggeln sie den Wein in den islamischen Gottesstaat, der die Einfuhr von alkoholischen Getränken streng bestraft. Doch die Zöllner würden oft beide Augen zudrücken, natürlich gegen ein Bakschisch, sagt spöttisch eine Marktfrau.

Der kaschierte Wein in den PET-Flaschen ist nicht von hoher Qualität, ein fruchtiger, aber leicht saurer und simpler Tropfen. Den Winzern im Lande gelingen heute aber immer bessere Produkte. Internationale Experten bescheinigen Armenien mit seinem Kontinentalklima ein grosses Potenzial für den Weinbau. Die Rebberge liegen auf 1200 bis 1800 Meter Höhe, die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht sind während der Reife vorteilhaft hoch. Zudem gibt es mannigfaltige Böden, steinig, aber nährstoffreich und mit jeweils unterschiedlichem Mikroklima.

«Launische Schwester» des Pinot Noir

Solche Bedingungen sind ideal für variationsreiche Weine aus der ansässigen Areni-Traube. Die autochthone Rebsorte gilt als Nationaltraube und unter kundigen Önologen als «launische Schwester» des Pinot Noir. Sie ergibt Weine mit einer besonders fruchtigen Note und relativ wenig Tanninen.

Die armenische Vorzeigetraube blickt auf eine lange Geschichte zurück, ihre wilde Stamm-Mutter war eine der Urweinbeeren dieser Welt. Die erste Weinkellerei lag nämlich in einer Höhle beim Dorf Areni, zumindest nach dem neusten Stand der Altertumsforschung. In dieser knochentrockenen Kalksteinkaverne haben seit jeher Heerscharen von Vögeln Unterschlupf gesucht, doch auch der Mensch hatte sich in der 500 Quadratmeter grossen Grotte zum Leben eingerichtet.

Hier nahm ein internationales Team von Archäologen von 2007 bis 2012 umfangreiche Ausgrabungen vor. Die Forscher fanden nicht nur Werkzeuge aus der Stein- und Kupferzeit, auch die Überreste einer Weinproduktion kamen zum Vorschein, samt steinalten Kernen der antiken Areni-Traube. Entdeckt wurde ebenfalls ein gut erhaltener Lederschuh, der wohl älteste Treter unseres Planeten. Gemäss den wissenschaftlichen Auswertungen sind die sensationellen Funde rund 6000 Jahre alt. Die Ausgrabungsarbeiten sollen weitergehen, es gebe noch viel zu erforschen, sagen die Wissenschaftler. Noch ist aber die Finanzierung offen.

Ehrfurcht vor der Wiege des Weinbaus

Armenak Melkonyan wartet am Eingangstor zur «Vogelhöhle», wie sie die Einheimischen nennen. Der Wächter von «Areni-1», so die offizielle Bezeichnung, führt uns den steilen Weg hoch zur Felsöffnung und dann hundert Meter hinein in die Grotte. Dort stehen wir ehrfürchtig vor der Wiege des Weins. Armenak zeigt die einzelnen Elemente der Produktion, die ausgeleuchtet vor uns liegen. Leidenschaftlich erklärt er, wie damals die Trauben in der rudimentären Presse mit den Füssen ausgequetscht wurden. Man glaubt ihm aufs Wort. Der Saft floss nachher (mutmasslich zusammen mit der Maische) in die umliegenden Tonkrüge und wurde vergoren. Die feuchtigkeitsarme Klause eignete sich vortrefflich für die Produktion und Lagerung von Nahrungsmitteln und Getränken.
Auf 4000 Jahre vor Christus werden die gefundenen Traubenkerne datiert. Ein bemerkenswerter Jahrgang! Die önologischen Relikte stammen aus der frühen Bronzezeit. Der Ackerbau war damals noch wenig entwickelt, die Menschen im Kaukasus hausten vornehmlich in Höhlen, wo sie auch Speis und Trank konservierten. Angesichts der historischen Bedeutung des Orts vergessen wir die Zeit. Unser Höhlenführer will jedoch in die Mittagspause und geleitet uns wieder nach unten – zurück in die heutige Welt. Am stahlblauen Himmel zwitschert ein vorbeiziehender Vogelschwarm.

Eine Reise in die nähere Vergangenheit, aber gleichwohl in eine verflossene Epoche bietet der Besuch bei der Getap Winery, nicht weit von Areni entfernt. Das 1938 gegründete Unternehmen war einst ein wichtiger staatlicher Lieferant von Wein und Brandy in der ehemaligen Sowjetunion, hauptsächlich für eine finanzstarke Kundschaft in Moskau. Heute gehört die Weinkellerei einem privaten Konsortium. Produziert werden jährlich etwa 700 000 Flaschen, überwiegend trockene und feinfruchtige Rotweine aus der Areni-Traube.
Beim Betreten des weitläufigen Fabrikareals sticht das Gerüst mit acht verrosteten, verbeulten Blechbehältern ins Auge. Die Riesengefässe dienen zum Abtransport des Weins. Emil Manukyan und sein Team begrüssen uns herzlich. Der Chef-Winzer ist stolz auf sein Unternehmen, dem er seit Jahrzehnten vorsteht – noch unter sowjetischer Herrschaft. Sein Leben galt weitgehend dieser in die Jahre gekommenen Fabrik.

Vor zwei alten Pressen erklärt Emil wild gestikulierend den Produktionsablauf, vom Anliefern und Auspressen der Trauben über das Gären in Betontanks bis zum Einlagern im Fass. Kyrillische Buchstaben stehen auf dem grünen Blech der Anlage, ein Exponat fürs technische Museum. Inzwischen reichte das eingenommene Geld, um eine moderne, weit effizientere Presse samt Abbeermaschine hinzuzukaufen. Notabene von «Bucher Vaslin», einer französischen Tochterfirma der Schweizer Bucher Industries.

Unvergesslicher Kellerduft

Wir steigen die Treppe hinunter in den geräumigen Keller, vorbei an verblassten Wandgemälden. Sie verewigen Areni als verdienstvolle Stätte des sowjetischen Weinbaus. Dabei dient die stolze Kirche als regionales Wahrzeichen, ein paradoxer Fokus im damals atheistisch geprägten Kommunismus. Nicht nur auf den zahlreichen Maschinen und Anlagen zum Keltern hat sich dicke Patina angesetzt, ebenso betroffen vom Zahn der Zeit sind die über 50 Jahre alten 10 000-Liter-Holzfässer, worin der vergorene Wein über Jahre dahinreift. Die Fässer verströmen den Duft einer strengen, pelzigen, aber dennoch angenehmen Muffigkeit. Das unvergleichliche Aroma ziehen wir in unsere Nasen und werden es nie vergessen.

Hinten im Keller erwartet uns eine kleine Verkostung. Ohne Schnickschnack, sympathisch improvisiert. Der Wein wird in grossen Glaskrügen und in Flaschen ohne gedruckte Etiketten serviert. Der gekühlte Weisse schmeckt vornehmlich nach Quitten und auch Gemüse, für unsern Gaumen etwas ungewohnt, hat etwas Suppenartiges und wenig Struktur. Der junge, trockene Rote danach kommt direkt vom Fass, mit viel Frucht, aber charakterlich noch unbedarft.

Der abgefüllte, zehnjährige Areni dagegen macht viel Freude. Ein gut ausgebauter, harmonischer Rotwein, in der Nase eher zurückhaltend, schmeckt aber vollmundig nach reifen Beeren und Kirschen, mit weichen Gerbstoffen. Zum Abschluss kommt ein feinfruchtiger Areni ins Glas. Den Gaumen erfreuen da Aromen von eingemachten Beeren und dank robustem Körper lässt sich der Tropfen buchstäblich kauen, das Finale ist lang.

Areni reift in Schweizer Eiche

Insgesamt hinterlässt Getap einen sehr abenteuerlichen Eindruck, weitab vom gefälligen Mainstream der globalen Weinwelt. Die verkosteten älteren Weine sind sehr fruchtig, dicht, samtig und gut lagerfähig. Auch der Schweizer Weinhändler Jakob Schuler liess sich davon begeistern. Fest entschlossen, einen aussergewöhnlichen Wein in Georgien und Armenien zu finden, ist Schuler nach dem Besuch praktisch aller Kellereien schliesslich bei Getap gelandet. Ihn interessierten nicht die neu angelegten, grossflächig mit Cabernet Sauvignon, Merlot und Chardonnay bepflanzten Weinberge, sondern die alten, autochthonen Rebsorten. Und er fand sie in Form der Areni-Traube weitab der Eine-Million-Hauptstadt Jerewan in der Provinz.

«Die autochthone Rebsorte gleicht einem Rohdiamanten, der durch gekonnte Vinifikation und gewiefte Lagerung zu einem einzigartigen Wein wird.»

Jakob Schuler Doyen der St. Jakobskellerei in Schwyz und Entdecker der Areni-Traube

Getap stimmte zu, für Schuler einen eigenen Wein aus den besten Areni-Lagen zu assemblieren. Sofort wurden einige Verbesserungen eingeführt. So etwa ein späterer Erntezeitpunkt, um die Tannine sowie die Aromen besser ausreifen zu lassen. Zudem eine geordnete und saubere Vinifikation, da Getap immer noch mit dem sowjetischen Erbe der Massenweinproduktion kämpft. Nach zahlreichen Verkostungen und langen Diskussionen war «Noah of Areni» (mit Jahrgang 2013) geboren, den die St. Jakobskellerei seither erfolgreich verkauft. Der komplexe Rotwein hat dieses typische Fruchtaroma von Kirschen und Holunder mit edlen Gewürz- und Röstnoten und zurückhaltenden Tanninen. Schuler ist sichtbar stolz, diesen «Rohdiamanten» in Areni entdeckt zu haben, der durch gewiefte Lagerung unter anderem in Schweizer Eichenfässern veredelt wird. «Die Zusammenarbeit in Armenien geht weiter, wir investieren jetzt auch in die Rebberge.»

Um die Weinerzeugung auf eine moderne Stufe mit realistischen Exportchancen zu heben, sind in den armenischen Kellereien erhebliche Investitionen für einen Technologieschub nötig. Auch bei Getap stehen etliche Erneuerungen an, der Maschinenpark ist extrem überaltert. Armenien ist als Weinland relativ unbekannt und hat daher auch keinen schlechten Ruf aus der Vergangenheit auszumerzen wie etwa Georgien. Das eröffnet ungeahnte Chancen für innovative Produkte.

«Bling-Bling»-Keller für 60 Millionen Dollar

Diese Faktoren nutzten zwei armenische Geschäftsleute zu ihrem Vorteil und gründeten 2008 die Firma Armenia Wine in der Nähe von Jerewan. Die beiden IT-Firmenbesitzer machten ihr grosses Geld mit Software für Spielprogramme in Casinos. Man sagt, dass die passionierten Quereinsteiger bisher umgerechnet mindestens 60 Millionen US-Dollar in die moderne Winery gesteckt haben. Armenia Wine ist denn auch das genaue Gegenstück von Getap. Ein «Bling-Bling»-Unternehmen, in dessen funkelnder Maschinenwelt der Diplom-Önologe Josef Watzl seine kostbare Spielwiese gefunden hat. Der 56-jährige Baden-Württemberger leistete zuvor für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) mehrere Jahre Aufbauarbeit im armenischen Weinbau. Vor anderthalb Jahren stieg er als Chef-Önologe bei Armenia Wine ein.

Watzl präsentiert uns eine Armada glitzernder, computergesteuerter Stahltanks, schildert seine Vision der Weinerzeugung hier in Armenien: Die verschiedenen Rebsorten will er zu runden, eleganten und dennoch charaktervollen Produkten verarbeiten – unter Einsatz modernster Technik. Vom traditionellen Amphorenausbau hält Watzl wenig. «Dieser führt selten zu irgendwelchen trinkbaren Erzeugnissen.» Noch gebe es aber viel zu tun, vor allem in den Weingärten, wo die Pflege im Argen liege, etwa der Rebschnitt oder die Düngung. 80 Prozent des Traubenguts seien qualitativ ungenügend. «Daraus entsteht selbst mit fortschrittlicher Technologie kein guter Wein.» Wir wandeln weiter im Fabrikareal und bestaunen den Keller nach Bordelaiser Vorbild. In der unterirdischen Kathedrale türmen sich über 2000 erstklassige Eichenfässer. Auf unserem Rundgang begleitet uns Syune Barseghyan, stets charmant und kompetent. Die junge PR-Dame, ausgestattet mit einem Master in Kulturwissenschaft der Universität Jerewan, erläutert das breite Sortiment von mehr als 30 Weinen. Armenia Wine gilt als Marktführer im Lande.

War Noah der erste Winzer am Berg Ararat?

Zu guter Letzt führt uns Syune in den hellen, luxuriös eingerichteten Verkostungsraum. Bei den Weissen überzeugen die trockenen Takar und Yerevan aus der in Armenien heimischen Rebsorte Kangun, einer Neuzüchtung. Die jungen, angenehm frischen Weine (Jahrgang 2015) sind elegant, überraschend filigran und harmonisch. Selbst gegenüber einem vorzüglichen Chardonnay oder Sauvignon Blanc fallen sie keineswegs ab. Der komplexere Takar lag sechs Monate im Fass, hat eine intensive fruchtige Nase mit blumigen, auch holzigen Noten. Im Mund gefällt eine erstaunlich breite Aromatik von Konfitüren, Vanille und sogar Fruchtgebäck. Interessant zum Schluss der Tariri (2014), eine Assemblage aus Areni (50%), Cabernet Sauvignon (25%) und Merlot (25%). Der Prestige-Cru des Hauses reifte ein Jahr in französischer Eiche, entzückt die Nase mit einem komplexen Bouquet aus schwarzen Kirschen, Röstaromen und Pfeffer. Am Gaumen weich und balsamisch, fast etwas flach, mit Spuren von Pflaumen-Konfitüre. Dieser Bordeaux-Blend auf armenische Art könnte nach einigen Jahren der Optimierung durch Chef-Önologe Watzl die Welt erobern. Derzeit wird er vornehmlich nach Russland und den USA exportiert.

Unterdessen nähert sich draussen die Sonne dem Horizont, das Licht leuchtet so zauberhaft wie in der Provence. Vom Weingut aus erblicken wir im Süden den symbolträchtigen Berg Ararat. Ein fast kitschiges Panorama. Der Ararat ist das Nationalsymbol der Armenier und im Staatswappen abgebildet, er liegt jedoch seit 1920 politisch auf türkischem Boden. Der schneebedeckte Vulkan ist 5137 Meter hoch und seine Form erinnert an die Arche Noah. An der Bergflanke soll Noah nach der Sintflut mit seinem legendären Kasten gestrandet sein und danach den ersten Weinberg dieser Erde gepflanzt haben. Eine biblische Sage, bis heute wissenschaftlich nicht belegt. Doch die Verbundenheit der Armenier mit dem Wein ist keine Legende, sondern tatsächlich gelebte Kultur.

Gastronomie und Weinkultur

Armenien ist ein Paradies für Gourmets, die würziges Fleisch, schmackhaftes Gemüse und frische Früchte lieben. Die Aprikose kommt ursprünglich von dort. Der botanische Name (Prunus armeniaca) zeugt davon. Viele armenische Speisen erinnern an die türkische, arabische und persische Küche. Derzeit erzeugt das Land mit einer Rebfläche von 25 000 Hektar rund sechs Millionen Flaschen Wein, wovon ca. 20 Prozent exportiert werden, die meisten nach Russland.

Empfehlenswerte Weingüter sind:
Vanardi www.vanardi.com
Trinity www.trinitycv.com
Getnatoun www.getnatoun.am
Armas www.armas.am
Armenia Wine www.armeniawine.am
Getap (gehört zum Vedi-Alco-Konsortium) www.vedi-alco.am

Verkauf von armenischen Weinen in der Schweiz:
www.schuler.ch (St. Jakobskellerei), www.ziran.ch (mit Verkaufsladen in Zürich).

In Deutschland: www.noahsfruechte.de

vinum+

Weiterlesen?

Dieser Artikel ist exklusiv für
unsere Abonnenten.

Ich bin bereits VINUM-
Abonnent/in

Ich möchte von exklusiven Vorteilen profitieren