Grosse Gewächse

Gross, grösser, Grosses Gewächs

Text: Eva Maria Dülligen, Fotos: Thomas Epping

«Das Bessere ist der Feind des Guten», hat sich der französische Denker Voltaire vor geraumer Zeit aus dem Gesicht fallen lassen. Hat der weinaffine Aufklärer damit etwa die Grands Crus aus dem Burgund vorweggenommen? Oder die Grossen Gewächse hiesiger VDP-Winzer? Und hätte er die reformierte Lagen-Klassifikation vom Verband deutscher Prädikatsweingüter auf Anhieb verstanden?

Da haben wir ihn, den Salat. Einen der Sorte Grosses Gewächs. Klingt gut, schmeckt gut, sorgt aber für Irritation. Seit der VDP die Lagenklassifikation von drei auf vier Stufen erweitert hat – also die «Erste Lage» in «VDP Grosse Lage» umbenannt wurde und in die zweite Stufe gerutscht ist – korrelieren die Begriffe «Grosses Gewächs» und «Grosse Lage». Der eine bezieht sich auf den Wein, der andere auf dessen Herkunft – verwirrend wegen der begrifflichen Ähnlichkeit.

Im Burgund etwa steht Grand Cru an der Spitze für sich allein, ohne Zusatz. Wörtlich übersetzt heisst Grand Cru zwar auch Grosses Gewächs, rekurriert aber einzig auf die Einzellage. Im Bordeaux garantiert Grand Cru oder Cru Classé die Exklusivität eines Château. So oder so existiert ein Fokus, entweder auf das Terroir oder auf ein Weingut, das nachweislich seit Jahrzehnten und darüber hinaus überdurchschnittliche Weine hervorbringt.

Im Weinland Deutschland könnte es genauso funktionieren, zumal Lagen von Weltruhm spätestens seit der Jahrtausendwende wieder Angstperlen auf die Gesichter der benachbarten Weinländer treiben: «Wir haben eine Schatzkammer an Hammer-Terroirs, die ein fettes Stück deutscher Weinkultur sind. Für mich gibt es nur Grosse Lagen», sagt Reinhard Löwenstein, Terrassenmoselwinzer und Vize des Bundes-VDP. Der 58-jährige Winninger Weinmacher sieht im Terroir-Gedanken der Grossen Lage das Epizentrum der Aufmerksamkeit, das, was «parzellengenau abgegrenzte Terroirs, in denen Weine mit ganz besonderem Charakter wachsen» ausmacht. Nichts anderes stellt für Löwenstein das Klassifikationsprimat des VDP dar: «Wir hatten viele Jahre ein System, das nur auf Öchsle aufgebaut war. Was für ein Fortschritt, dass wir wieder auf die Lagenklassifikation, wie sie bis 1892 gültig war, zurückgekommen sind. Ob der Konsument einen Wein, der aus dem Frühlingsplätzchen oder dem Erdener Treppchen stammt, grossartig findet, soll er am Ende doch selber entscheiden.»

Keine beflügelte Carte Blanche

Bereits vor der VDP-Reform im Januar 2012, als die Grosse Lage für Deutschlands renommierteste Einzellagen noch nicht «erfunden» war, konnten die Verbandsmitglieder ihre Weine aus der Ersten Lage mit den Buchstaben GG adeln. Das Grosse Gewächs ist mittlerweile zu einer Art Eigenmarke – wenn weingesetzlich auch nicht geschützt – avanciert. «Der Markt reguliert sich selbst», meint Bundes-VDP-Präsident Steffen Christmann, «das Grosse Gewächs wird nicht angenommen, wenn die Qualität nicht stimmt. Da ist es besser, die Lagen weiter unten anzusetzen und günstigere Preise zu verlangen.»

Eins steht so fest wie die modifizierte herkunftsbezogene Klassifikationspyramide des VDP: Die beiden Initialen erzielen Aufmerksamkeit. Christmann vergleicht das mit einem «Hier-Schrei», mit einem «Wir machen die besten Weine» in einem Pool von 202 VDP-Mitgliedern, in dem sich die Guten von den Besseren teilen. Hat ein Rieslingfreund das Grosse Gewächs vom VDP-Winzer XY einmal für gut befunden, rückt die optisch erhabene Auszeichnung auf dem Flaschenhals wahrscheinlich in den Hintergrund, und Label-deklarierte Lagen wie Hermannshöhle, Kiedrich Gräfenberg oder Scharzhofberger sind die ausschlaggebenden Kaufimpulse. «Der erste Schuss muss sitzen, wenn man ein Grosses Gewächs probiert», so der Rheinhessische Jungwinzer Kai Schätzel. «Aber die Treffsicherheit für den Verbraucher ist einfach höher, wenn die Kapsel ein Adler ziert. Der VDP ist schon eine sichere Bank.»

Wie sich die Aufnahme in den VDP und damit die Option, einen Wein aus einer Grossen Lage «GG» zu nennen, auswirkt, haben zwei Neuzugänge kontrovers beantwortet. Für Sebastian Schäfer (Weingut Joh. Bapt. Schäfer, Burg Layen) war der Eintritt im Januar 2014 so was wie ein Michelin-Stern: «Wir hatten schon längst Weine auf GG-Niveau», meint der 37-jährige Nahe-Winzer, «aber jetzt ist es ein offizielles GG. Es gibt deutlich mehr Anfragen von Händlern und Gastronomen, seit unsere Rieslinge mit dem Traubenadler oder gar zusätzlich mit einem doppelten G auf der Flaschenkapsel ausgestattet sind.» Problematisch ist es laut Schäfer für die Restaurateure, VDP-GG und hervorragende Gewächse, die keine VDP-Qualifikation besitzen, in ein und dieselbe Weinkartenspalte zu hieven: «Manche versuchen es mit ‹VDP-GG und andere Grosse Weine› zu lösen, das relativiert die Grossen Gewächse aber irgendwie.»

Pyramide oder drei Sterne de luxe?

«Ich war eh immer ausverkauft», fasst Kaiserstuhl-Winzer Fritz Keller die Zeit vor der Aufnahme in den 104 Jahre alten Verband in einem Satz zusammen. Dass er seit Anfang dieses Jahres die 200-Mitglieder-Marke des VDP gesprengt hat, stimmt ihn trotzdem euphorisch: «Der Ehrgeiz wird massiv angeheizt. Auf VDP-Ebene zu konkurrieren hat eine andere Qualität, es existieren Richtlinien, auf den Sitzungen wird heftig diskutiert. Ständig muss man seine Position neu überdenken und will sich permanent verbessern.» Unterm Strich hat der Beitritt für ihn eine schärfere Kontur der Qualität zur Folge. Strenge Ertragsobergrenzen, selektive Lese und charaktervolle Weine mit aussergewöhnlichem Reifepotenzial als einige wichtige Vorgaben für die Grosse Lage hat Fritz Keller schon vor seiner Mitgliedschaft umgesetzt. Mit sieben verschiedenen Vulkangesteinen in Einzellagen von der Oberbergener Bassgeige bis zum Achkarrer Schlossberg war es für den 57-jährigen «Botschafter der Weinkultur Badens» aber an der Zeit für eine Terroir-Klassifizierung.

Zustimmung findet die VDP-Pyramide bei ihm nicht nur, weil er in ihr eine Konterrevolution zum Zeitalter des Öchsle sieht. Die Parallelen zum Qualitätssystem der Bourgogne machen das deutsche Modell aus seiner Sicht international attraktiv. Die Grosse Lage korrespondiert mit den Grands Crus, die Erste Lage mit den Premiers Crus, die Ortsweine sind synonym mit den Villages und die Gutsweine mit den Domaines. «Im Burgund brauchen die das System eigentlich gar nicht mehr, weil eingefleischte Pinot-Liebhaber ohnehin genau wissen, wo was wächst», so Keller.

«Wenn man die Welt mit deutschen Toplagen bedienen will, muss ein System her, das international verstanden wird», insistiert Prof. Dieter Hoffmann, ehemaliger Leiter für Betriebswirtschaft und Marktforschung an der Hochschule Geisenheim University. Dem Marktanalytiker scheint das VDP-Modell mit seinen Vorgaben und dem regionalen Variieren zwischen Drei- und Vierstufigkeit zu kompliziert. «Wir haben noch keine Lösung für ein weltweites Weinerfolgskonzept», führt der 66-Jährige weiter aus, «es muss eine markenbezogenere Kommunikation her. Und der deutsche Weinbau muss mindestens 20 Prozent Grosse Gewächse auf den Markt bringen, damit wir endlich auf die Ebene kommen, von der wir seit langem träumen.»

Um herkunftsbezogene Spitzenweine abzugrenzen, sollten historisch grosse Standorte vom Escherndorfer Lump bis zum Graacher Himmelreich noch brutaler popularisiert werden. So die einen. Nach verschlankten Konzepten verlangen die anderen. Ganz oben auf dem Marketingwunschzettel steht ein dreisterniges System: ein Stern auf Flaschen für zehn Euro, zwei für 20 Euro teure Tropfen und drei Sternchen für Weine, die mit 30 Euro und mehr ins Rennen gehen. Auf dem Label sollten Weingut, Rebsorte und die – schwer an Michelin erinnernde – Sterne-Bewertung prangen. Passt irgendwie nicht zu der deutschen Winzermentalität. «Mag sein», sagt Prof. Hoffmann, «aber das versteht man auf der ganzen Welt – bis nach China.»

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