Junger deutscher Kabinett

Der Kabinett ist tot, lang lebe der Kabinett!

Text: Eva Maria Dülligen, Fotos: Jana Kay

Wenn man es mal auf die Essenz herunterkocht: Kabinett klingelt bei weitem nicht so in den Ohren wie Grand Cru oder Erstes Gewächs. Bei vielen hinterlässt diese Prädikatsbezeichnung immer noch einen faden Beigeschmack. In den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts war wohl kaum ein Weinstil toter innerhalb der deutschen Weinszene. Als hip galt, wer knochentrocken trank. Liebhaber von halbtrockenen oder feinherben Tropfen behielten das besser für sich, wollten sie nicht zu vinophilen Vollpfosten gestempelt werden. Warum die Geschmacksdiktatur dem Ende zugeht und das fruchtsüsse Leichtgewicht eine verdiente, wenn auch schleichende Renaissance hinlegt, erfahren Sie hier. 

London ist ein Seismograph in Sachen Trends, ob bei Mode, Kunst, Fressstätten oder Wein. Von Shoreditch und Hammersmith bis Soho und East End verteilen sich nicht nur die coolsten Graffitis über die Fassaden und die authentischsten internationalen Imbisse über die Gassenränder – in den Vierteln findet man auch die angesagtesten Weinbars. The Kensington Wine Rooms, Sager & Wilde und andere vernachlässigen deutsche Kabinette allerdings als eine Art «Rare Birds» auf der Weinkarte. Und dann wird eher geklotzt als gekleckert: Oberhäuser Riesling Kabinett von Dönnhoff gibt es für fette 9,90 britische Pfund das Glas. J.J. Prüms Kabinett-Riesling aus der Wehlener Sonnenuhr schlägt mit 83 Pfund die Flasche zu. «Mit dem Begriff Kabinett können viele junge Leute hier nichts anfangen. Und die Nachkriegsgeneration bringt ihn oft mit klebrig süssem German Wine in Zusammenhang», sagt die Londoner Sommelière Emily. Ihrer Erfahrung nach trinkt das Gros lieber einen Riesling aus dem australischen Clare Valley, wo schlicht Rebsorte, Produzent und Jahrgang auf der Flasche stehen und keine Prädikatsstufen. «Man sollte die englischen Weinkonsumenten nicht damit irritieren. Dann merken sie schnell, wie harmonisch und subtil diese Weinkategorie sein kann.»

Fühlen sich auch Weintrinker aus dem Geburtsland des Kabinetts durch das harmlose Wort verunsichert? Oder sind die Deutschen näher an dem «Prädikatswein der gehobenen Güteklasse», der per Definition für «feine, leichte Weine aus reifen Trauben mit geringem Alkoholgehalt» steht? Allgemeingültige Aussagen liegen Tobias Ludowigs zwar fern, aber der Sommelier und Miteigner der gastronomischen Institution «Tante Anna» in der Düsseldorfer Altstadt kann durchaus einen repräsentativen Ausschnitt bieten. Immerhin ist das Gasthaus mit 630 Weinpositionen breit aufgestellt. 433 der Gewächse kommen aus deutschen Anbaugebieten, 25 davon sind Kabinette. «Die Klientel teilt sich in die, die preispolitisch entscheiden, weil das Prädikat günstiger kommt als ein Grosses Gewächs, und die, die einfach auf diesen Stil abfahren. Die Letzteren sind oft sehr gut im Thema.» Grob überschlagen, muss das 1971 vom deutschen Weingesetz eingeführte Prädikat eine amtliche Prüfnummer tragen und bestimmten gesetzlichen Prämissen wie einem Mindestmostgewicht von 73 Öchsle oder dem Verzicht auf Chaptalisierung entsprechen. Kabinette sind nicht angereicherte Naturweine, deren Geschmacksausprägung restsüss oder trocken sein kann.

«Das Allerbeste, vor allem für die gehobene Gastronomie», schmückt Ludowigs weiter aus, «ist, dass das Extrakt im Kabinett nicht von hohem Alkoholgrad erschlagen wird.» So können seine Gäste auch mal mehrere Flaschen von Hanno Zilliken, dem «Leuchtturm an der Saar», oder Emrich Schönleber trinken, ohne nach Hause zu schwanken. Und das bei vollem Aromenausgleich. Dass dieser Weintyp vom Aussterben bedroht sei, hält der Sommelier für unwahrscheinlich. Er selbst bunkert einige Kisten davon im eigenen Keller. Noch wären exzellente Kabinette für kleines Geld zu haben: «Aber nicht mehr lange. Die Preisentwicklung wird senkrecht durch die Decke gehen.»

Fragen an

Reinhard Löwenstein

 

Als «Sargnagel für den deutschen Wein» empfindet der Terrassenmosel-Winzer die Bezeichnung «Kabinett trocken». Reinhard Löwenstein setzt diese Prädikatsstufe kompromisslos auf eine Linie mit leicht süssen Gewächsen. Alles andere verursacht in seinen Augen nur Chaos in der Kommunikation. Sehen kann man das, wie man will.

 

Herr Löwenstein, als VDP-Präsidiumsmitglied haben Sie eine klare Haltung zum Begriff «Kabinett trocken».
Kabinett trocken macht keinen Sinn, da Prädikatsweine von den meisten Menschen mit Restzucker verknüpft werden: Kabinett mit leichter, Spätlese mit fruchtiger, Auslese mit gehaltvoller Süsse.

Warum nennen einige Winzer ihre Kabinette dann trocken?
Weil viele Winzer nach dem 1971er-Weingesetz mit dieser Bezeichnung viele Flaschen Wein verkauft haben und diese Bezeichnung bei ihren Kunden eingeführt haben. Die 1980er Jahre bilden eine Art Zeitenwende des Geschmacks. Zumindest für den deutschen Markt hiess das Dogma jetzt knochentrocken. In der Folge wurde von Winzerseite die Qualitätspyramide von Qualitätswein, Kabinett, Spätlese et cetera beibehalten – nur die Weine wurden jetzt trocken vinifiziert.

Das Problem für den VDP liegt worin genau?
Es liegt nicht mehr – es lag. Einmal darin, dass der Fokus auf der Frage «Wie viel Öchsle?» und nicht auf der Bonität des Weinbergs lag. Ein paar Gramm Zucker mehr oder weniger im Traubensaft haben aber herzlich wenig mit dem Weincharakter zu tun. Das zweite Problem war, dass der «Weltmarkt» gelernt hatte, mit den Prädikatsweinen fruchtige Weine zu assoziieren. Die Auslandskunden wurden mit trockenen Prädikatsweinen völlig aus der Bahn geworfen und haben den Deutschen mit Recht den bezeichnungsrechtlichen Vogel gezeigt.

Wie haben Sie das gelöst?
Wir haben im VDP den Schwerpunkt von den Öchsle auf die Bonität des Weinbergs verschoben und eine Qualitätspyramide vom Gutswein bis zur Grossen Lage entwickelt. Gleichzeitig haben wir uns darauf verständigt, – momentan allerdings nur in den höchsten Stufen – die Prädikatsweine ausschliesslich fruchtig zu vinifizieren. Also so, wie es bis Ende der 70er Jahre praktiziert wurde.

Viele VDP-Winzer werfen der Vereinigung vor, dass sie auf den Etiketten ihrer Kabinette die Lagen-Herkunft nicht erwähnen dürfen.
In Regionen, wo fruchtige Kabinettweine eine untergeordnete Rolle spielen, haben die VDP-Winzer beschlossen, in ihren Grossen Lagen keine Kabinettweine zu vinifizieren. Wir haben uns auch daraufhin geeinigt, in Grossen Lagen keine Dornfelder oder Müller-Thurgaus zu produzieren, die Weine später zu vermarkten und vieles mehr. So ist das eben mit der Demokratie – und das ist auch gut so. Da, wo der Kabinett eine grosse Rolle spielt, wird er in der leicht fruchtigen Variante nach wie vor mit Lagenamen ausgestattet.

Sorry, aber das könnte für den Weinliebhaber, der sich nicht täglich mit dieser Materie beschäftigt, durchaus verwirrend sein.
Möglich. Aber für die meisten Erdenbürger ist es gerade anders herum. Sie sehen jetzt wesentlich einfacher, um welchen Geschmackstyp es sich handelt. Natürlich produzieren wir mit dieser Systematik kurzfristig Chaos, da ja das alte Bezeichnungssystem von vielen Nicht-VDPlern noch benutzt wird. Aber was sollen wir machen? Warten, bis der Gesetzgeber die Systematik ändert? Übrigens: Verwirrt war der Weintrinker schon vorher. Wir sind daher angetreten, um zu entwirren und eine klare Kommunikation zu schaffen. Was natürlich bleibt: Hochwertiger Wein ist kompliziert.

Ungefiltert

Mit scharfzüngigen Thesen provoziert der Winninger Winzer immer mal wieder die Weinszene. Ob er rhetorisch gegen die biodynamische Ikone Nicolas Joly schiesst oder den inflationär gewordenen Punktesegen eines Robert Parker als «wichtigstes Verkaufsargument» entlarvt. Weichspülen gehört auch in den eigenen Reihen des VDP nicht zu seiner Strategie. Dass der 63-jährige Besitzer von Parzellen in klassifizierten Ersten Lagen an der Terrassenmosel es ablehnt, die Begriffe «Kabinett» und «trocken» in einem Atemzug zu nennen, stösst nicht überall auf Gegenliebe.

Polarisierender Neo-Pionier

 

Seine rheinhessischen Grands Crus erregen Aufmerksamkeit genug. Dass Kai Schätzel sich trotzdem dem nervenaufreibenden Kabinett verschreibt, ist für ihn unumstösslich. Historisches Erbe mit Zeitgeist aufzuladen, hat zu 
viel Reiz. Ökologisch angebaut und spontan vergoren, provozieren Schätzels Lagen-Kabinette dazu, den Daumen rauf- oder runterzustrecken.

«Kabinett ist wahrscheinlich die deutscheste Art, Wein zu interpretieren», bemerkt Kai Schätzel und führt in eine Stube, die aussieht, als hätten hier gestern noch Kurfürsten über die Zukunft des Heiligen Römischen Reiches entschieden. Butzenscheiben, Kachelofen und dunkles Holz verströmen spätmittelalterliche Stimmung. Im Nebenraum pulst Neo-Punk aus Surround-Lautsprechern. Beim ersten Schluck von Schätzels Nierstein Riesling Kabinett 2015 hat man genau das auf der Zunge: eine irritierende Mischung aus Barockem und Anarchistischem, nach einer Weile die Reformation, schliesslich, nach weiteren 30 Sekunden, den vollendeten Frieden in Form herrlicher Süsse-Säure-Balance.

Für den 38-jährigen Winzer stellen seine Kabinettweine längst keinen Nebenschauplatz mehr dar. Über 50 Prozent der Orts- und Lagenweine werden restsüss ausgebaut. Wenn die Natur ihm Beeren für eine Auslese schenken würde, ginge er auch in die viskose Ecke. Vorbei sind in Schätzels Augen die Zeiten des Geschmacksdiktats, die 80er und 90er, wo als Honk galt, wer knochentrocken nicht zu seiner Geschmacksmaxime erhob. «Man hat viel zu lange nicht darüber nachdenken dürfen, ob leichte Weine schmecken. Die Food-Drink-Generation von heute hat Bock auf gute Lebensmittel, setzt sich mit Wein auseinander. Kabinett ist zu einer Art Stil für sie geworden. Und die fettesten Wein-Nerds, die alles an Wein durchhaben, trinken wieder Kabinett.» Endlich sei man befreit von der selbst verschuldeten Trockenheit, legt er hinterher.

Das allein kann aber nicht der Grund dafür sein, dass Kenner rund um die Welt – Sommeliers, Riesling-Junkies, Köche, ja sogar Winzer aus der eigenen Region – Schätzels Kabinette kaufen. Je intensiver man sich mit den Prädikaten aus von rotem Sandstein geprägten Lagen auseinandersetzt, umso näher kommt man der Antwort. Köche und Sommeliers erkennen in der kühlen, mineralisch ummantelten Frucht, die Länge hat, den grossen kulinarischen Spielraum: Von der Languste bis zum Dry-Age-Steak lassen sich die natursüssen Leichtgewichte kombinieren. In den Fine-Dining-Restaurants des Londoner Hotels «The Dorchester» entkorken Sommeliers die langhalsigen Magnum-Formate aus dem Niersteiner Weingut zum schottischen Lachssteak ebenso selbstverständlich wie zum Roastbeef vom Aberdeen-Angus. Mittlerweile geht es Schätzel auf die Nerven, wenn seine universell einsetzbaren Kabinette immer noch als Asia-Food-Weine abgetan werden, als gäbe es ausser Currys und Sushi nichts anderes, was diese vibrierenden Gewächse ergänzen können.

Prädikat ohne Verfallsdatum
Kai Schätzel ist von der dynamischen Sorte. Stillsitzen liegt ihm nicht. Lieber nimmt er einen mit in den 800 Jahre alten Gewölbekeller und streicht vorsichtig dunklen Weinkellerschimmel von einer Flasche. Darunter taucht die Inschrift eines weingutseigenen Kabinett-Rieslings von 1990 auf. Mit seinen 26 Jahren eigentlich noch ein Teenager, denn das Alterungspotenzial mancher dieser Weine ist aussergewöhnlich: Die natürliche Fruchtsüsse – Kabinette werden nie chaptalisiert – gibt dem Rebensaft während der Flaschenreifung auf Jahrzehnte zu tun. Je penibler die Arbeit im Weinberg, je kompatibler die topographischen Bedingungen für die jeweilige Rebsorte, und je schonender die Behandlung im Reifekeller, desto grösser die Chance, einen Kabinett zu bekommen, den man noch in 50 Jahren trinken kann. Wenn so viel Zeit ist. Wenn nicht, auch kein Problem, weil schon junge Vertreter dieser Kategorie das Bild von Gestein und Mineralien im Glas präzise widerspiegeln können.

Beim Rotliegenden in Schätzels Parzellen übersetzen sich die rund 280 Millionen alten Sand-und Tonablagerungen, in denen kalkige Bänder eingelagert sind, etwa mit einem Duftbad aus Austern und Meerschaum. Feingliedrig, schiefrig und rassig macht der 2015er am Gaumen weiter. Der 8,5-prozentige Kabinett hat trotz seines niedrigen Alkohols eine schwindelerregende Tiefe. «Die physiologische Vollreife zu einem frühen Ernte-Zeitpunkt einzufangen, macht die hohe Kunst des Kabinetts aus.» Bei nahezu der Hälfte des Alkohols habe man den doppelten Trinkspass, so der Diplom-Kaufmann weiter. Während seiner Hamburger Studienzeit ging es ihm nicht nur um Betriebswirtschaft. Er hätte ebenso Kunst oder Architektur belegen können, Hauptsache, weg aus der heimischen Dorfenge. Nach vier turbulenten Jahren in der hanseatischen Metropole kehrte er 2008 nach Nierstein zurück, um das elterliche Weingut zu übernehmen. Und alles umzusetzen, was geht: Öko-Weinbau, Spontanvergärung, sanftes Fusspressen. Aber vor allem entwaffnende Kabinette produzieren.

Schätzels Kabinette

Druckreife Sätze kommen ihm so flüssig über die Lippen, wie sein KabiNett vibrierend auf dem Gaumen landet: «Kabinett ist keine Preisklasse, sondern Interpretation.» Aphorismen finden sich auch in Schätzels feinherben Rieslingen, die er gern auf den Dreisatz «Boden, Säure, Süsse» bringt. In der Summe ergibt sich ein symmetrischer Riesling mit geringem Alkohol-Volumen. Dem Kabinett allgemein attestiert der ausgebildete Ökonom und Besitzer des 11,5 Hektar ökozertifizierten Familienweinguts eine lang angelegte Perspektive.
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Der Mann mit dem M

 

Extrem frischen Wind pustet er in die deutsche Kabi-Szene. Der 25-jährige Winzer trifft mit seinem Kabinett den Geschmacksnerv junger Weintrinker. Wie das geht?
 Sebastian Michel macht aus dem Klischee-getrübten Weinprädikat einfach eine Marke.

Das M steht unter anderem für Morstein: eine weltbekannte rheinhessische Einzellage, ein Erinnern ans tertiäre Urmeer, in dem Korallenbänke wuchsen, bevor es sich zu grossen, wasserführenden Kalkfelsen verwandelte. Dass der Grossbuchstabe auf Sebastian Michels Flaschenlabels seiner Linie M die schweren Tonmergelböden mit Kalkstein-Einlagerungen symbolisiert, ist Interpretationssache. Die einen erkennen darin auch die Initiale Michels, andere eine Anspielung auf das sozialrealistische Drama «M – eine Stadt sucht einen Mörder», mit dem Regisseur Fritz Lang Anfang der 1930er das Kinopublikum in Angst und Schrecken versetzte.

Beim 2014er Riesling Kabinett im Verkostungsglas bleibt einem weniger aus Horror die Spucke weg. Sebastian Michel hat in das Morsteiner Gewächs mit einem Zuckergehalt von 34 Gramm, 8 Gramm Säure und 9,5 Volumenprozent Alkohol vielmehr bemerkenswerte Balance gezaubert. «Vom Süssegrad geht mein Kabinett in Richtung Apfelschorle», sagt er. «Die abfedernde Säure ist auch vergleichbar mit diesem Erfrischungsgetränk. Nur, dass Promille statt Kohlensäure meinen Riesling untermauert, und er sich durch weitaus grössere Aromenkomplexität profiliert.»

Kabinett, der Unbestechliche
Vor drei Jahren kam der 25-jährige Bachelor of Science wieder auf das Prädikat. Ausgelöst wurde der Relaunch während einiger Wochenendtrips quer durch die Moselregion, auf denen er und seine Geisenheim-Clique Riesling-Ikonen von Clemens Busch bis Ernst Loosen anpeilten. Die verkosteten Kabinette und Spätlesen überzeugten die angehenden Weinakademiker von der Brisanz restsüsser Prädikate, einem deutschen Alleinstellungsmerkmal, das manche zu Unrecht immer noch mit altmodischer Plörre verwechseln.

Ausgerechnet junge Leute bestellen den Grossteil von Michels fruchtsüssem Tropfen. Onlineshops wie Geile Weine machen sie neugierig auf dessen schlanke Gewächse mit Überraschungspotenzial. «Die Urart vom Riesling kommt beim Kabinett deutlich raus, weil der geringe Alkohol viel Raum für Aromen lässt. Er ist ein unbestechlicher Wein, man schmeckt Boden und Lage eins zu eins.» In Michels Fall spendiert der Kalk in den Morsteiner Südhängen den Kabinett-Rieslingen feine Meersalzigkeit, parallel zu exotischer Frucht und angerissenen Raucharomen. Bei aller Freude über Neo-Pioniere wie Michel darf man nicht vergessen, warum viele deutsche Winzer keine Kabinette anbauen. Vor allem der spätreifende Riesling macht den angestrebten niedrigen Alkohol-Gehalt für fruchtsüsse Kabinette zur Zitterpartie, bedeutet das Mostgewicht mitunter, dass die Reben noch nicht ihren vollen Sorten-Charakter ausgebildet haben. Extrem warme Jahrgänge wie 2011 lassen die Öchsle früh hoch schiessen, ohne dass Vollreife in Sicht wäre. Michel löst das durch selektive Lese. In mehreren Durchgängen holt er die reifen Trauben raus und macht aus der Vorlese tiefgründige Kabis.

Der Winzer aus Hochborn hat nach dem ersten Lehrjahr bei Jochen Dreissigacker seine Ausbildung bei Dorothee und Karoline Gaul abgerissen. Auf ihrem pfälzischen Weingut sorgen die jungen Schwestern für wachsende Aufmerksamkeit. Eine Traube im Weinguide «Gault & Millau» haben sie bereits. Für Michel ein Vorbild. Irritierend sind dagegen preisliche Kalkulationen wie die 5,80 Euro für den Sausenheim Honigsack Riesling Kabinett vom Weingut Gaul, die weit hinter der Qualität zurückliegen. Bei so manchen begabten Produzenten dieses Prädikats wären mutigere Preise angebracht, um dessen Wertigkeit anzuzeigen.

Zum Mittagessen tischt Oma Helgard krosse Backes-Kartoffeln mit Dörrfleisch auf. Braun gebrannt aus dem österreichischen Ski-Urlaub zurück, löffelt Michel die Hausmannskost. Das getrocknete salzige Schweinefleisch erhält am Gaumen karamellartige Noten mit dem Morstein-Kabinett. Auf der Ski-Hütte habe er sich abends immer einen Veltliner zum Schnitzel gegönnt. Der Jungwinzer wird des Reisens nicht müde – ob um dem Pinot Noir im neuseeländischen Central Otago auf die Spur zu kommen oder die Pisten Österreichs runterzufegen. Reisen eröffnet neue Horizonte, baut Vorurteile ab. Nicht zuletzt jenes, dass Kabinett-Wein ein aus der Mode gekommenes Phänomen wäre.

Michels Kabinette

Wenn der Bachelor of Science für Weinbau und Önologie im Weinkeller schuftet, hört er deutsche Hip-Hop-Klassiker – Materia oder Beginners –, das pusht seine Kreativität. Die bringt der 25-Jährige im trocken ausgebauten Grau- und Weissburgunder, Silvaner und Riesling wie auch im restsüssen Riesling Kabinett unter. Sebastian Michel streckt seine Fühler nach weiteren Flächen in der Einzellage Höllenbrand aus, weil die kalkigen, tonigen Böden beim Riesling ausgeprägte Charakteristik rausholen.
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Kabinett für Könige

 

So was nennt man auch einen Jackpot. Der Winzer-Veteran Franz Karl Schmitt suchte eine Nachfolge für seine Tafelsilber-Parzellen. Den eigenen Söhnen stand nicht 
der Sinn danach – obgleich sich bereits Queen Elisabeth II. die Kabinett-Rieslinge des rheinhessischen Weinguts zu ihrer Krönung anno 1952 hatte anliefern lassen.

Was tun mit einem Terroir, auf dem Wein wächst, der königlichen Geschmack bedient? Klaus Peter Keller muss schon länger auf der Prioritäten-Liste des rheinhessischen Altmeisters Schmitt gestanden haben. Die Einladung zur Vertikal-Verkostung kann kaum dem Zufallsgenerator entsprungen sein. Zurück bis zum Jahrgang 1893 tischte er seine Riesling-Prädikate auf: «Da waren teilweise noch grüne Reflexe in den alten Jungs», sagt Keller. «Der 1904er und der 1911er versprühten federleichte Rasse – leider war der 1893er verkorkt.» Nur ein paar Tage später entfaltete sich ein meterlanges Fax von Schmitt in Kellers Büro. Darauf gedruckt waren Parzellen aus Niersteiner Lagen wie Hipping oder Pettenthal. «Sie können sich aussuchen, was Sie wollen», stand als Kommentar darunter. Für die Kellers bedeutete das den Start in eine frische Weinguts-Ära. Eines der wichtigsten Kapitel: Kabinette aus zwei weltberühmten Einzellagen. Doch leichter gesagt als herkunftsbezogen durchgesetzt. Der rheinhessische VDP erlaubte nämlich im Zusammenhang mit dem Prädikat «Kabinett» bis vor einigen Jahren nicht die Nennung der Lage auf dem Etikett. So ersetzten Klaus Peter Keller und seine Frau Julia Hipping und Pettenthal durch deren Initialen H und P. Kein grosses Ding für Kenner, das zu decodieren.

Legale Lagen-Kabinette
Schwerer zu knacken ist die Frage, in welcher Beziehung Kleinklima und Kabinett stehen. Dass Rebsorten bestimmte Standortbedingungen lieben, ist klar: Riesling verdankt Schiefer optimalerweise präzise Frucht und ausgeprägte Mineralität. Aber eine Weinkategorie wie Kabinett hat doch keine Rebwurzeln. «Das nicht», erwidert Keller, «aber dieses Prädikat muss ja bei geringem Alkoholgehalt enorme Aromendichte entwickeln. Das funktioniert nur mit alten Rebstöcken auf interessanten Böden. Wenn wir also fruchtsüsse Kabinette auf VDP.Grossen Lagen reifen lassen, soll der Kunde das auch auf der Flasche lesen dürfen.» Kann er, seit dem Jahrgang 2014, dem ersten «legalen Lagen-Kabinett» des 1789 gegründeten Weinguts in Dalsheim, das der Geisenheim-Absolvent in neunter Generation leitet. Im Buckingham-Palast scheint es niemanden zu jucken, ob H oder Hipping auf dem Label steht. Zur Geburt ihres Urenkels George wollte die Queen keinen anderen als einen Kabinett wie damals. Dass die Parzellen mittlerweile den Besitzer gewechselt hatten, konnte sie nicht ahnen. Palasteigene James Bonds machten das Keller’sche Weingut ausfindig, im Auftrag ihrer Majestät wurde der «Baby-Wein» persönlich von dem Winzerpaar nach London gebracht und damit gemeinsam zum Fest an der königlichen Tafel angestossen. «Danach gab es eine private Führung durch Krönungs- und Thronsaal», erinnert sich Julia Keller, «später kam sogar ein Dankesbrief von Kate für unsere Kabinette.»

«Das ist das neue Brooklyn» klingt dagegen wie eine Rapper-Hommage. Allerdings meinte der Wein-Journalist damit Kellers Silvaner, als er ihn kürzlich bei ihm degustierte. Der frisch abgefüllte Riesling Kabinett vor mir könnte das neue Berlin-Mitte sein. Exzellentes Handwerk im Weinberg und viel Ausbau-Freiheit in Form von Spontanvergärung und Verzicht auf Schönung bilden sich später im Glas mit energiegeladener Knackigkeit ab. «Guter Kabinett ist wie ein Aufputschmittel ohne Nebenwirkungen», sagt Keller. Ein 9,90 Euro-Schnäppchen dürfe man allerdings nicht erwarten: Seine Kabinette seien keine Brot-und Butter-Weine. Trotz Preisen um die 28 Euro verkaufen sich die leichten Prädikate wie geschnitten Brot. Der Nachfrage – zunehmend auch im Ausland von UK bis Südkorea – wird man kaum mehr gerecht. Warum nicht einfach mehr Kabinett-weine produzieren? «Ein Sterne-Restaurant wird auch nicht besser, wenn man mehr Stühle 
reinstellt.»

Kellers Kabinette

Zwischen seinen GG und seinen Ka-
binettweinen macht der international 
umjubelte Winzer keinen qualitativen 
Unterschied. Schon gar nicht, wenn 
sie aus VDP-klassifizierten Lagen stammen. Mit Events wie «Go Kabi 
go», auf denen Kellers und die Kabinette anderer Winzer, etwa von Max von Kunow und Dorothee Zilliken, 
vertikal verkostet werden, rückt er das Prädikat vermehrt in den öffentlichen Fokus.
www.keller-wein.de 

Best of Kabinett

Weingut Künstler, Rheingau
Hochheimer Kirchenstück

Riesling Kabinett trocken 2016 | 17 Punkte | 2017 bis 2023

Da hat Künstler aus dem Kirchenstück ein Kunststück herausgeholt: Lösslehm auf kalkigem Untergrund hat sich zu rauchiger Cremigkeit verwandelt. Bereits im Duft gebärdet er sich als mineralischer Rheingauer, zart mit aalglatter Textur. Packende Säure wird durch feingestrickte Fruchtsüsse harmonisiert.
Preis: 13 Euro | www.weingut-kuenstler.de

 

Karthäuserhof, Mosel
Eitelsbacher Karthäuserhofberg

Riesling Kabinett 2007 | 16.5 Punkte | 2017 bis 2025

Wenn man das Wappen mit bischöflichen Insignien auf dem Flaschenlabel sieht, rechnet man mit barocken Noten. Stattdessen zwirbeln sich ledrige Nuancen in die Nase. Am Gaumen in Butter geschwenkte Aprikose und Honigmelone. Pompös wird es dann doch im Ausklang – mit Karamell und Nougat.
Preis: 13,50 Euro | www.karthaueserhof-shop.de

 

Weingut von Othegraven, Saar

Wiltinger Kupp Riesling Kabinett 2015 | 16.5 Punkte | 2017 bis 2021

Das Kupfergold beschäftigt das Auge, Anklänge von mildem Camembert in der Nase, und der Gaumen bekommt es mit dezent gezuckerter Limone zu tun. Mit viel Luft in der Mundhöhle verwirbelt, ringen Exotik und regionale Früchte miteinander. Bildet das Potenzial der Einzellage Kupp differenziert ab.
Preis: ca. 13 Euro | www.von-othegraven.de

 

Julius Treis, Mosel
Reiler Mullay-Hofberg

Riesling Kabinett 2015 | 16.5 Punkte | 2017 bis 2022

Der blaue Schiefer mache seinen Kabinett schlank und filigran, so Julius Treis. Mehr noch. Die Einzellage Mullay-Hofberg bringt mineralischen Nerv in das Leichtgewicht. Wie ein flüssiges Zitronen-Dessert mit süsser Würze. Lebendige Struktur hält tropische Fruchtsüsse im Zaum und sorgt für Trinkfluss.
Preis: 14,50 Euro | www.julius-treis.de

 

Weingut A. Waigand, Franken
Erlenbacher Hochberg

Silvaner Kabinett trocken 2015 | 16 Punkte | 2017 bis 2020

Spürbare Sortentypizität: die volle Ladung Stachelbeere und Williams-Christ-Birne.
Gleichzeitig trockene Mineralität und feine Kräuterwürze. Eher der ernste denn der verspielte Typ. Auch nach einigen Tagen im Kühlschrank hat der animierende Silvaner nichts an Dichte eingebüsst.
Preis: 6,50 Euro | www.waigand-wein.de

 

Weingut Robert König, Rheingau
Assmannshäuser Höllenberg

Spätburgunder Kabinett trocken 2014 | 17 Punkte | 2017 bis 2025

Mitverkoster nannten ihn einen «germanischen Pinot». Gemeint war die ausgeprägte Säureader, die einen Fluss aus zuckersüssen Erdbeeren durchzieht. Am Ufer winken Cherry-Tomaten und Szechuan-Pfeffer. Feinkörniger Gerbstoffschliff. Zum gerösteten Hühnchen spielt er gewitzt mit Rosmarin und Majoran.
Preis: 9,75 Euro | www.weingut-robert-koenig.de

 

Dr. Loosen, Mosel
Wehlener Sonnenuhr

Riesling Kabinett 2015 | 17 Punkte | 2017 bis 2025

Ernst Loosen holt sich seine internationalen Lorbeeren nicht nur mit Grossen Gewächsen und Auslesen von der Einzellage Erdener Prälat. Dem Schiefer-Boden der Wehlener Sonnenuhr trotzt er kontrastreiche Kabinette ab, wie diesen, der im Duft Ananas und Kokos gegen Kiesel und Estragon spielen lässt. Ein Marathon-Läufer, kein Sprinter.
Preis: ca. 13 Euro | www.gute-weine.de

 

Weingut Schätzel, Rheinhessen
Nierstein Pettenthal | VDP.Grosse Lage

Riesling Kabinett 2015 | 17.5 Punkte | 2017 bis 2035

Kräftige Goldrobe. Im Duft schmeichelnde Würze und Anklänge von heissem Rauch. Dann macht der Spontanvergorene Platz für Pfeffer, Meersalz und weichen Rohmilchkäse. Am Gaumen feine Limonennoten im Wechsel mit Blutorange und Schiefer-Facetten. Ausgewogen und vibrierend bis ins Finale.
Preis: 35 Euro | www.schaetzel.de

 

Weingut Stigler, Baden

Grauburgunder trocken 2014 | 16 Punkte | 2017 bis 2021

Blasses nobles Gold und seidige Textur sind seine prägnantesten Merkmale. Aber der Grauburgunder geht noch tiefer. Kalkreicher Staub in den Lössböden hat die Säure abgepuffert und in dezent-herben Zitronensaft verwandelt. Trotz läppischer 4,4 Gramm Restzucker spürbare, eingepflegte Süsse. Ausgeprägter Nachhall.
Preis: 9,90 Euro | www.weingut-stigler.de

 

Weingut Keller, Rheinhessen
Nierstein Hipping

Riesling Kabinett 2015 | 17.5 Punkte | 2017 bis 2037

Geräuchertes Zitronengras, kandierte Orange, flambierte Ananas. Trotz seiner Jugend eine beeindruckende Süsse-Säure-Balance. Die schiefrige Nase konkretisiert sich am Gaumen durch sonnengetrockneten Kieselstein. Viel Ananas und Grapefruit treten dazu. Strahlige 
Textur mit mineralischer Ader. Enormes Reifepotenzial.
Versteigerungswein | www.keller-wein.de

 

Weingut Clemens Busch, Mosel
Pündericher Marienburg
VDP.Grosse Lage

Riesling Kabinett 2015 | 17 Punkte | 2017 bis 2034

Auf der Aromen-Wippe sitzt auf der einen Seite viel Fruchtsüsse, auf der anderen aufgeladene Säure. Ein schwebender Zustand auf der Zunge, weil beide gleich wiegen. Süsse Orange trifft erfrischenden Zitronensaft. Duftfaden aus Limonenzeste, Heublume, Kieselstein. Unaufdringliche Intensität, eine Spur gebrannter Mandeln im Finish.
Preis: 14,50 Euro | www.clemens-busch.de

 

Weingut Schloss Ortenberg, Baden

Sauvignon Blanc Kabinett trocken 2015 | 16 Punkte | 2017 bis 2020

Die sortentypische Stachelbeere ist hier in Rauch verpackt. Mandarine und vegetabile Aromen sprengen das Bouquet-Korsett. Trockene Süsse. Glasklarer Food-Partner: Zur Bolognese brachte er Frucht ins Rinderhack und verlängerte die süssen Noten im Tomatensugo.
Preis: 8,90 Euro
www.weingut-schloss-ortenberg.de

 

Weingut Michel, Rheinhessen
Westhofener Morstein

M Riesling Kabinett 2014 | 16 Punkte | 2017 bis 2023

Seit 2014 tragen die Gewächse aus der Lage Morstein Sebastian Michels Handschrift. Dieser Kabinett aus wasserführenden Kalkfelsen macht sich am Gaumen mit reifem Pfirsich und tonnenweise Ananas breit. Im Duft breit gefächert. Feinmineralisch strukturiert. Gradliniger Sea-Food-Partner.
Preis: 8 Euro | www.weingut-michel.de

 

Schloss Wackerbarth, Sachsen
Seußlitzer Heinrichsburg

Scheurebe Kabinett 2015 | 16 Punkte | 2017 bis 2022

Ein scheuer Sachse, dessen weissgoldene Robe an Modeschmuck erinnert. Heller Blütenstaub fegt in die Nase. Der subtile Duft deckt sich mit dem Gaumeneindruck von verhaltener Süsse und Sommerblumen. Tonic-herber Abgang.
Preis: 14,90 Euro
www.schloss-wackerbarth.de 

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