Marken

Der Bianco v on der Adria

Text: Christian Eder

  • Stefano Antonucci
  • Matelica

Was für den Rhein der Riesling, das ist für die Adriaküste der Verdicchio: der wichtigste Weisswein des Gebietes der Marken, die sich von Rimini 200 Kilometer nach Süden erstrecken. Und einer der langlebigsten und elegantesten Italiens noch dazu.

Stefano Antonucci will uns noch etwas zeigen, und flugs verschwindet er im Keller. Zurück kommt er wenige Minuten später mit einer Flasche seines Le Vaglie 2007: Eigentlich müsste dieser Jahrgangs-Verdicchio schon längst getrunken sein, aber Stefano beweist das Gegenteil. Der zehn Jahre alte Bianco duftet überraschend frisch nach Früchten und Kräutern, wirkt mineralisch und jung, mit einer feinen Bittermandelnote im Finale. Feine Petrolnoten, die sich mit der Belüftung entwickeln, erinnern gar an einen gereiften Grünen Veltliner. Ein breites Lächeln ziert das Gesicht Antonuccis:

«Da sieht man das Potenzial dieser Rebsorte: Dabei war dieser Wein dazu gedacht, jung – viele sagen: zu jung – getrunken zu werden, wie es bei Jahrgangs-Weissweinen leider in Italien immer noch üblich ist.»

Sonnengebräunt und mit graumeliertem halblangem Haar würde der ehemalige Banker auch auf eine Harley oder ein Segelboot passen, aber in seinem alten Weinkeller fühlt sich der Winzer sichtlich wohler. Neben eleganten Roten aus Montepulciano und Merlot reifen dort vor allem Weine aus der ureigensten Rebsorte der «Regione Marche», Verdicchio. Die Varietät gilt als weisses Aushängeschild der Adriaküste, aus ihr werden Weine gekeltert, die zwar jung schon Spass machen, aber auch überraschend gut lagern können. In den Hügeln der Castelli di Jesi, dem wichtigsten Anbaugebiet der Rebsorte in den Marken, sind mehr als 2000 Hektar mit Verdicchio bestockt.

«Meine Weine sollen nie gewöhnlich oder langweilig sein», meint Stefano Antonucci, bevor wir seine ganze Verdicchio-Palette durchprobieren. Diese reicht von einem knackigen Metodo-Classico-Schaumwein über den kernigen Le Vaglie, die holzgereifte Riserva Stefano Antonucci, die exotisch-elegante Spätlese Tardiva Ma Non Tardo bis zum opulent-süssen Passito Lina.

Grüne Hügel und Meeresbrise

Das Weingut Santa Barbara liegt in einem ehemaligen Kloster im Dörfchen Barbara, im Herzen der fruchtbaren Hügellagen des Anbaugebietes. 45 Hektar Reben stehen in einer Höhe zwischen 200 und 280 Metern über Meer auf sandigen Tuffsteinböden, die sich sanft in Richtung Berge wellen, immer wieder unterbrochen durch Getreidefelder, Wälder und kleine bewehrte Dörfer, die deshalb auch Castelli di Jesi genannt werden.
Jesi ist der Hauptort der Region, ein von einer 1,5 Kilometer langen Stadtmauer umgebenes Städtchen inmitten grüner Hügel: In einem Zelt auf dem Hauptplatz wurde – so will es die Legende – zu Weihnachten 1194 der Stauferherrscher Friedrich II. geboren.

Seine besonderen Noten erhält der Verdicchio dei Castelli di Jesi vor allem aus dem Wechselspiel der Einflüsse des nahen Apennins im Westen und des Adriatischen Meeres im Osten. Erst ab 100 Metern Meereshöhe fühlt sich die Rebe zuhause, aber auch auf 900 Metern ist sie noch zu finden. Das moderate Klima bietet dafür ideale Voraussetzungen: Lange trockene Sommer lassen der spät reifen Traube genug Zeit, um optimal auszureifen. 

Einst ein einfacher Schoppenwein

Lange Zeit wurde aus der Verdicchio-Traube ein einfacher Schoppenwein gekeltert, der vor allem an der Adriaküste getrunken wurde – und am liebsten aus der Anfora: Das renommierte Weingut Fazi Battaglia schrieb nämlich schon vor Jahrzehnten einen Wettbewerb für die Flaschenform aus. Ein Behältnis mit Taillenform – manche sagen einer alten Amphore, manche sagen Sofia Loren nachempfunden – war der Sieger und wurde ein Synonym für den Verdicchio.

Die Anfora gibt es auch heute noch, aber die meisten Winzer setzen inzwischen auf Burgunder- oder Bordolaiserflaschen, um ihre Spitzen-Verdicchio abzufüllen. Und das ist nicht selten eine Riserva-Qualität, die im Gegensatz zur DOC-Annata seit 2010 ein DOCG-Wein ist.

«Die grossen Temperatur-schwankungen zwischen Tag und Nacht und die Mineralität der Böden sorgen dafür, dass vor allem die Riserva sehr langlebig ist», meint Lorenzo Marotti Campi.

Lorenzos Familie bewirtschaftet seit Generationen Rebberge nahe dem Dörfchen Morro d’Alba, seit 1991 füllt sie ihn unter dem Gutsnamen Marotti Campi auch in Flaschen. Das Herz der Produktion des Gutes ist der Hügel von Sant’Amico nahe Morro d’Alba. Von hier blickt man weit über die Landschaft bis zu den schneebedeckten Bergen des Apennins im Hinterland. Rund um Morro d’Alba liegt auch die Heimat des Lacrima DOC, eines kleinen roten Juwels des Weinbaus in den Marken, das nur hier produziert wird. In den 60 Hektar, die nur mit autochthonen Reben bestockt sind, keltert die Familie Marotti Campi fünf verschiedene Lacrima-Typen, aber auch vier verschiedene Arten Verdicchio. Eine davon ist der Salmariano Riserva, das Aushängeschild der Kellerei. Die Trauben werden erst Mitte Oktober gelesen, die Riserva erhält ihre Komplexität unter anderem dadurch, dass sie ein Jahr sur lie bleibt, zu 80 Prozent im Stahl, den Rest im Holz.

Eine Vertikale demonstriert das Potenzial der Rebsorte: vielschichtig und würzig der Jahrgang 2007, mit guter Säure und Salzigkeit. Überraschend jugendlich der Jahrgang 2002, aber das Highlight ist der 1999er – der erste Salmariano, der je produziert wurde: ein balsamisch duftender Wein mit Säure und Struktur und verführerischen Noten von Akazienhonig und Mandeln im Finale. Lorenzo Marotti Campi: «Verdicchio ist als spät reifende Traube sehr empfindlich, benötigt ein gut ventiliertes Klima mit warmen Tagen und kühlen Nächten.» Dazu hat noch fast jedes der Dörfer des Anbaugebietes sein spezielles Mikroklima: Dafür sorgen die von vielen kleinen Tälern zerfurchte Landschaft, die unterschiedlichen Böden – Tuffstein, Lehm, aber auch Schwemmböden und Sand – und die Meereshöhe. Viele Winzer setzen daher bei ihrem Verdicchio auf Einzellagen.

Aus dem Vollen kann dabei Moncaro Terre Cortesi schöpfen, die grösste Genossenschaftskellerei der Marken: 928 Mitglieder kultivieren rund 1400 Hektar Rebberge. Vor allem autochthone Rebsorten werden angebaut. 1964 gegründet, verfügt die Kellerei heute über mehr als 200 Hektar Bio-Rebberge, davon 130 Hektar im Gebiet des Verdicchio dei Castelli di Jesi. Die Palette – kreiert von dem Önologen Giuliano D’Ignazio und dem renommierten Winemaker Riccardo Cotarella – umfasst die elegante Verdicchio-Riserva Vigna Novali, den Verde Cà Ruptae, einen Verdicchio dei Castelli di Jesi Classico Superiore, und den Jahrgangs-Verdicchio Le Vele. 

Die Spezialität

Eine Spezialität ist der Tordiruta Verdicchio Passito 2009, dessen Trauben in der Gemeinde Castelplanio in 300 bis 350 Metern Meereshöhe gelesen werden. D’Ignazio lässt sie bis in die Zeit der Herbstnebel hängen und dabei Botrytis entwickeln: Nach einem zwölfmonatigen Ausbau in Barriques duftet der Wein verführerisch nach exotischen Früchten, am Gaumen ist er klar und ausgewogen, sehr harmonisch mit einem wunderbaren Zitrus-, Honig- und Nussfinale.

Aber Verdicchio gibt es nicht nur in unterschiedlichen Spielarten, seine zwei Herzen schlagen in unterschiedlichen Teilen der Marken: Das eine pocht in den grünen Hügeln rund um Jesi, beeinflusst von Meer und Bergen, das andere im hochgelegenen Hinterland der Marken bei Matelica, überragt von den steilen Hängen des Apennins.

«Die Rebberge im Alta Valle Esina liegen zwischen 400 und 900 Metern Meereshöhe, die Weine haben daher einen anderen Charakter als die Verdicchio aus Jesi: Sie sind mineralischer und duften nach exotischen Früchten, weissen Blumen und den charakteristischen bitteren Mandeln», erzählt Roberto Potentini, Önologe der Kellerei Belisario. «Das Gebiet des Verdicchio di Matelica macht allerdings mit rund 210 Hektar nur ein Zehntel des Gebietes des Verdicchio dei Castelli di Jesi aus.»

Die Kellerei Belisario ist der wichtigste Produzent der Zone, eine Kooperative, deren 180 Mitglieder 300 Hektar im Alta Valle Esina bewirtschaften, 100 Hektar hat die Kellerei im Eigentum.

Die Verdicchio-Riserva Cambrugiano wird seit 1988 produziert: Vor allem die Jahrgänge 2010 und 2009 sind geschmeidige Weine mit grosser Eleganz, die noch lange Freude bereiten, charaktervoller auch als eine elegante Riserva aus den Castelli di Jesi. Potentini gibt uns recht: «Man nennt den Verdicchio aus Matelica oft einen Weisswein, der als Rotwein verkleidet ist.»

Aber ob Matelica oder Jesi, Riserva oder Annata, ein Verdicchio ist vor allem ein perfekter Essensbegleiter. Er passt zu den deftigeren Gerichten des Apennins ebenso wie zur mediterranen Küche. Zur Probe aufs Exempel machen wir daher von Matelica aus noch einen Abstecher ans Meer nahe Ancona, der Hauptstadt der Marken. In einer kleinen Trattoria am Strand lassen wir uns eines der Aushängeschilder der lokalen Küche munden – den leckeren Fischeintopf Brodetto all’anconetana, für den exakt 13 Sorten Fisch verwendet werden müssen. Als Begleiter haben wir uns einen Verdicchio dei Castelli di Jesi Riserva Stefano Antonucci 2010 gewählt. Komplex, geschliffen und voller Eleganz harmoniert er perfekt mit dem würzigen Brodetto. Aber einen solchen Wein muss man zum Essen geniessen. Am besten nur leicht gekühlt und natürlich vorzugsweise auf einer sonnenbeschienenen Terrasse am Meer, mit Blick auf Strand und Wellen.

Zur Krönung fehlt dann nur noch ein Dolce aus Reis, Schokolade und Trockenfrüchten, Bostrengo genannt, und dazu ein Brumato 2006 von Garofoli: Gekeltert aus edelfaulen Trauben in den Hügeln von Jesi, ist dieser Verdicchio wie die Region aus der er stammt – harmonisch und facettenreich zugleich.

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