Sancerre

Ehrlich schmeckt am längsten

Text und Fotos: Rolf Bichsel

  • Der Kanal der Loire führt haarscharf an Sancerre vorbei.
  • Reblagen bei Sancerre (Dorf im Hintergrund)

Sincère Sancerre – hinter dem Stabreim (ehrlicher Sancerre) steckt ein ganzes Programm. Die Winzer am Oberlauf der Loire haben den Anschluss an die Weltspitze nicht mit überteuerten, holztriefenden Sauvignon-Monstern gesucht und gefunden, sondern mit ehrlichen, authentischen Terroirweinen.

 

Ja, Sancerre ist ein beliebtes Touristenziel. Nein, Sancerre ist kein Disneyland des Weins, das erstaunt mich seit über 30 Jahren, und ich weiss bis heute nicht, ob ich diese Tatsache bewundere oder bedauere. Einerseits verdiente das pittoreske Dorf oben auf dem Hügel mit Schloss und Kirche und winkligen Gassen und stattlichen Herrenhäusern ja schon eine Generalüberholung. Andererseits ist der Ort so erfrischend echt geblieben, bodenständig und leicht angestaubt, doch ohne Klagen und Komplexe genauso authentisch und klischeeresistent wie die Einheimischen, die im Stammlokal an der Bar lehnend ihren heiligen Apéro-Deziliter Weisswein schlürfen, das wertlose Lotterielos neben den Mülleimer schnippen, sich lauthals über das verpatzte Drittliga-Fussballmatch vom letzten Sonntag auslassen oder über die Tatsache, dass auch das Wetter nicht mehr so sei wie früher, die Lokalzeitung auf der Seite der Todesanzeigen aufgeschlagen haben, weil sie wissen wollen, wen sie bereits alles überlebt haben, bis das Handy in der Hosentasche aufschreit wie ein Papagei und darüber informiert, dass zu Hause die Pizza im Ofen anbrenne.

Von etwas verblichenem Charme waren auch die Sancerre-Weissen lange, standen im Schatten der Pouilly-Fumé, die dank Ladoucette, Dagueneau und Co. ab den 1980ern international Erfolge feierten, und ich fragte mich mehr als einmal, wie Weine, die im Januar oder Februar im Tank verkostet so herrliche Nuancen zeigten, mal voll und kräftig, mal mineralisch und schlank, mal elegant und mit Rasse, nach Assemblage und Abfüllung bereits nach kurzer Reifephase zu einem so ölig-blassen Abziehbild eines Weissen verkommen konnten. Dieser Stil war so sprichwörtlich, dass ich während meiner Ausbildung zum professionellen Alkoholiker dumm vor mich hin skandierte: Pouilly-Fumé, rauchig und mineralisch, Sancerre, füllig und fad.

Heute ist es vielleicht nicht gerade umgekehrt, denn die Pouilly sind nicht schlechter geworden – doch zumindest so, dass beide Appellationen Weissweine besonderer Klasse produzieren, Weine mit Komplexität, Frische und Rasse. Sancerre hat mit dem flächenmässig kleineren Pouilly gleichgezogen oder hat diese Gemeinde gar überholt, was Ruf und Erfolg anbelangt. Von hundert verkosteten Sancerre wirkt heute genau einer oxidiert und ausgezehrt, und das auch nur wegen eines Flaschenfehlers. Und wenn jetzt jemand von mir wissen will, wo die Sorte Sauvignon Blanc ihren schönsten Ausdruck finde, antworte ich, ohne lange zu studieren: in Sancerre, weil sie hier nie nach Sauvignon Blanc schmeckt, eine Sorte, die ich wie alle Sorten nicht ausstehen kann, die einzig nach Sorte munden.

Von Rot zu Weiss

Natürlich hat das mit seinem kontinentalen Klima und dem besonderen Terroir zu tun. Die 14 Gemeinden, die Sancerre abfüllen dürfen, verfügen über aussergewöhnliche Weinbaulagen. Ebene, flache Hochplateaus und Gräben sind vom Rebbau ausgeschlossen, einzig die Hänge tragen zwei Sorten: wenig Pinot Noir und jede Menge Sauvignon Blanc. Drei Bodentypen werden gemeinhin unterschieden: Terres Blanches aus Lehm über Kalk, die besonders komplexe und komplette Weine ergeben; Caillottes, grobe Kalksplitterböden, die für finessenreiche, schlanke Weine mit Rasse sorgen; Böden aus Lehm und Feuerstein (Silex) für Weine mit Mineralität und Dichte. In Tat und Wahrheit ist die Sache natürlich viel komplexer, sowohl was die Terroirzonen anbelangt als auch deren Einfluss auf den Wein. Das ist nur gut so: Die Varianten und Unterschiede von Domäne zu Domäne und von Winzer zu Winzer sind umso grösser und interessanter. Womit wir beim wirklichen Auslöser der Renaissance – oder besser, der Evolution des Sancerre – angelangt wären, dem Menschen und seiner Geschichte.

Vor der Reblauskrise ist Sancerre als ausgewiesene Rotweinappellation vornehmlich mit Pinot Noir bestockt. Farbkräftige Weine gelten als rustikal und sind verpönt, Finesse und Bekömmlichkeit sind angesagt, die roten Sancerre werden schon im Mittelalter mit den (besonders geschätzten Rot-) Weinen aus Aÿ oder Epernay in der Champagne gleichgesetzt. 1573 wird das protestantische Sancerre von katholischen Truppen belagert: «Es fehlt an allem, nur nicht an Wein», schreibt ein Zeitgenosse. Doch Geschmack und Sitten ändern sich, besonders Ende des 19. Jahrhunderts. Der weisse Sauvignon gilt neu als bewährte, moderne Sorte, nicht zuletzt, weil er das Pfropfen auf amerikanische Unterlagsreben gut übersteht, und nach den Jahren der Krise kommt er (zu unserem Glück) als Garant für einen gelungenen Wiederaufbau wie gerufen. Was in ihm steckt, wenn man ihn nach Burgunder Vorbild als Herzog der Terroirunterschiede adelt, zeigt die Entwicklung seit nunmehr 20 Jahren.

Doch zuerst einmal dient er der Produktion von preiswerten, süffigen Weissen, die in den Pariser Bistros und den lokalen Schenken guten Absatz finden, dank denen die Winzer, die ihr Leben nach der Krise als Landwirte, Züchter und Ziegenbauern fristen, ein willkommenes Zubrot verdienen. Als der Tourismus wiedererwacht und die Autobahn rasch und sicher immer zahlreichere Besucher nach Sancerre oder Bourges mit seiner berühmten Kathedrale führt, die der Einladung zum Picknick mit einem Glas einfachem, frischem Wein nie entsagen, wächst die Nachfrage weiter. Beträgt die Rebfläche nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenig mehr als 400 Hektar, wächst der Rebbestand rasch wieder.

Heute stehen in Sancerre fast 3000 Hektar unter Reben, und über 300 Familien sind als Produzenten eingetragen, die ihre Erzeugnisse zur Hälfte ausserhalb Frankreichs absetzen, vornehmlich in EU-Ländern. Doch die Konkurrenz schläft nie, der Sauvignon Blanc wird als pflegeleichte Modesorte plötzlich in der ganzen Welt angebaut. Will Sancerre nicht zum neuen Krisenfall werden, müssen die Winzer sich etwas einfallen lassen.

Winzer von echtem Schrot und Korn

Wenn Sancerre erfolgreich den Weg ins 21. Jahrhundert findet, ist das nicht allein dem Erfolg bekannter Spitzenproduzenten wie den Mellots, Henri Bourgeois, Vincent Pinard oder den Vacherons zu verdanken. Sie bringen vor allem das Wunder fertig, die ganze, breite Winzerschar zu motivieren und in ihrem Sog mitzureissen, Handel und Genossenschaften eingenommen. Weitsicht zeigen die Sancerre-Winzer bereits 1972, als sie die historischen Felsenkeller der Caves de la Migonne rehabilitieren und zum Veranstaltungsort für 2000 Personen (Jazz- und Rock-Konzerte, Weinmärkte) ausbauen. 1991 lassen sie das Centre Technique des Appellations Vinset Fromages erstellen, in dem heute mehrere Organisationen für Landwirtschaft, Weinbau und Käse aus kontrollierter Herkunft sowie ein unabhängiges Forschungslabor untergebracht sind, und 2005 wird das Maison du Sancerre eingeweiht, das önotouristische Schaufenster der Appellation. Hinter diesen nützlichen offiziellen Kulissen arbeiten mehr und mehr Winzer an der Qualität ihrer Produkte, diversifizieren und füllen eine wachsende Zahl von Lagen-Cuvées ab, interessieren sich für naturnahen Anbau, hinterfragen und verbessern Keltertechniken und tragen so das Ihre zur Kollektivanstrengung bei.

Sancerre produziert Rosés und Rotweine. Doch das Spitzenprodukt bleibt der Weisswein, der seine Reinheit und Ehrlichkeit heute auf mannigfaltige Art ausdrückt. Der weisse Sancerre ist zum Leuchtturm für alle Weissweinproduzenten geworden, die einen Ausweg aus dem Nebel der Standardisierung im Meer der Weltweinproduktion suchen. Als Vollblutwinzer von echtem Schrot und Korn widerlegen die Sancerre-Winzer nonchalant eine andere weit und breitgetretene Theorie: dass grosser Wein automatisch aus kleinsten Erträgen zu pressen sei und darum rar und teuer gerate. Wie sagt doch François Crochetso schön: «Der Preis einer Flasche Sancerre entspricht einer Stunde Arbeit zum französischen Mindeststundenlohn. Das ist auch richtig so. Denn Sancerre soll sich jeder leisten können.»

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