Rheinhessen, Nierstein

Tatort Roter Hang

Text: Eva Maria Dülligen, Fotos: Jana Kay

  • Die Zusammenkunft der Talente vom Roten Hang war eine gute Gelegenheit, denaktuellen Jahrgang zu vergleichen.
  • So verschieden die Etiketten, so abwechslungsreich der Inhalt der Flaschen.

Abgeblättertes Mauerwerk, Lautsprecherboxen in Jaffa-Kisten und ein Filmprojektor, der von der Kellerdecke baumelt – eine etwas andere Kulisse für eine Verkostungsrunde als gewöhnlich. Immerhin hat Gastgeber Kai Schätzel seinen Vorführraum zu Recherchezwecken in ein Degustationskino mit langer Holztafel und bequemen Stühlen verwandelt. Film ab!

Es tröpfelt in das alte Kelterhaus. Statt Regentropfen sind es indes Winzer, erschöpft von Partys. Kai Schätzel hat es am härtesten getroffen, er liess es am Vortag krachen auf der «Gault & Millau»-Präsentation in Mainz – schliesslich hatte er erneut drei Trauben von der deutschen Weinbibel geerntet. Gut, dass er das halbe Dutzend Winzerkollegen und mich auf seinem eigenen Weingut empfängt. Ein Heimspiel. Im Heimkino. Denn das ehemalige Kelterhaus dient regelmässig als cineastischer Treffpunkt, wo unter dem Motto «Tatort & Blutwurst» dem sonntäglichen Krimispektakel gefrönt wird. Schätzels Mutter Nanne stiftet hausgemachte Spezialitäten, verwurstet ganze Schweinehälften, so dass keiner verhungern muss in den nostalgischen Kinositzen mit Blick auf die heruntergerollte Leinwand.

Heute geht es ebenfalls um die Wurst. Und der Krimi heisst «Roter Hang»: ein 280 Millionen Jahre alter Boden aus kalkreichen Ton-, Schluff - und Sandsteinen des Oberrotliegenden zwischen Nackenheim und Schwabsburg, den man hier ob seines aussergewöhnlichen, isolierten Profils auch «Nierstein-Formation» nennt. Saurierknochen und in Harz gegossene prähistorische Insekten hat man in dem nährstoffarmen Gestein gefunden. Bis zu 165 000 Euro müssen Kaufinteressierte hinblättern, wollen sie sich einen Hektar der begehrten Bodenformation unter den Winzernagel reissen. Laut lokaler Flüsterpropaganda soll Klaus-Peter Keller vor einigen Jahren gar eine Viertelmillion in eine Ein-Hektar Parzelle am Roten Hang investiert haben. Zur Geburt des britischen Thronfolgers Prinz George wurde sein 2013er Riesling Kabinett aus dem Niersteiner Hipping im Buckingham-Palast ausgeschenkt. Bereits zur Krönung Elizabeths II. anno 1953 gab es Riesling aus der renommierten Einzellage.

Eine Handvoll Rieslingtäter

Was die neue Generation aus diesem Ausnahme-Terroir raushaut und wie sehr man den Weinen die isolierte Lage anschmeckt, sind die heutigen «Tatort»-Fragen. Der nächste, der reintröpfelt, heisst Jochen Seebrich, einer der 29 Weinmacher aus Rheinhessen, die sich die rund 200 Hektar auf dem «roten Steinbuckel» teilen. Trotz gestriger Mammutverkostung wirkt der Kellermeister mit randloser Gelehrtenbrille wie aus dem Ei gepellt: «Das macht der Riesling», sagt der Sohn eines 14-Hektar-Familienbetriebs in Nierstein mit 4,5 Hektar im Rotliegenden und entschraubt seinen 2012er Riesling aus der Lage Schloss Schwabsburg. «Im Gegensatz zu Kai arbeiten wir konventionell, setzen keine Algenextrakte gegen Pilzbefall oder Hornmist zur Vitalisierung des Bodens ein und vergären auch nicht spontan. Aber – ob ökologisch, biodynamisch oder konventionell – wir vom Roten Hang sind ein Team und wollen kollektiv wahrgenommen werden.»

Um dieses Credo überhaupt öffentlichkeitstauglich zu machen, gründete man vor 25 Jahren den Verein Wein vom Roten Hang. Sein Präsident Konstantin Guntrum hat es sich nicht nehmen lassen, ebenfalls hier aufzuschlagen: «Die Betriebe tauschen sich aus. Es geht um rebsortenbedingte Anpassung an den Klimawandel oder um gemeinsame Auftritte wie bei Riesling on tour, wo wir die Leute in sechs Zelten im Weinberg an unsere Einzellagen vom Pettenthal bis zum Ölberg heranführen.» Interne Blindproben im Vorfeld, zu denen alle Winzer vom Roten Hang ihre Weine einreichen können, filtern eine Auswahl von Leuchtturm-Rieslingen heraus, die das Lagenprofil besonders präzise wiedergeben. Sie sind schlanker, klarer, mineralischer als viele Rieslinge von den angrenzenden Löss- und Lehmböden und machen in den Verkostungsgläsern deutlich, dass sie von einer mikroklimatischen Insel stammen. Der einem Grossen Gewächs entsprechende Riesling, den Nicht-VDP-ler Albrecht Schneider mitgebracht hat, profiliert sich mit Extrakt bei gleichzeitiger Filigranität. Vinifiziert hat den Wein allerdings Schwiegersohn Steffen Müller. Nach 43 Ernten übergab der Grandseigneur ihm den Betrieb mit dem Jahrgang 2011.

Klimawandel

Kai Schätzels 2013er Pettenthal-Riesling tanzt zart und verspielt durch die Mundhöhle. Der Jungwinzer versucht die Frucht zu zähmen und den Alkohol auszublenden. Er bietet der zunehmenden Erderwärmung und dem damit einhergehenden steigenden Alkoholgehalt die Stirn, indem er die Reben an uralten Rebstöcken zum langsamen Reifen zwingt. «Mein Vater mag diese Richtung überhaupt nicht», sagt der 35-Jährige. «Meine Rieslinge sind alles andere als mollig, nämlich in ihrer Jugend recht verschlossen und auf Entwicklung ausgelegt.» Die generationenbedingte Zäsur ist spür- und schmeckbar. Von der Begrünung in den Rebgassen bis zum gelassenen Laisser-faire im Keller ringt der experimentierfreudige Schätzel (der ursprünglich BWL in Hamburg studierte) den Trauben so viel Authentizität wie möglich ab.

Das optimale, vom Wind geschützte Kleinklima und der Nimbus, mit der Nähe zum Rhein einen zusätzlichen Wärmespeicher zu haben, heizen Diskussionen an. Auch wenn der Erntezeitpunkt immer weiter nach vorne rücke, sei das bei gesundem Traubenmaterial und rund 95 Öchsle kein Thema, selbst dann, wenn Mitte September gelesen wird. «Der Boden liefert ein Gleichgewicht», so Guntrum. «Nährstoff - und Wasserhaushalt federn das ab.»

Felix Peters hingegen hält die Lage Pettenthal direkt am «Ofen» Rhein für geeigneter, um Blaufränkisch zu kultivieren. Der Winzer des Niersteiner Bio-Weinguts St. Antony ist mit seinem Riesling in die hinteren Reihen des Roten Hangs ausgewichen: «Riesling schöpft keine Vorteile mehr aus den immer wärmeren Parzellen. Unser Blaufränkisch profitiert von dem Standort. Wir haben vorgesorgt und sind mit unserem Riesling in die kühlere Lage Orbel gegangen.» Schwer zu sagen, ob man Peters’ blutroten Tropfen mit Anklängen von Brombeeren, Minze und Salbei Pettenthal-kompatibler findet oder Guntrums exotisch-fruchtigen, honigschmelzigen Riesling. Spannend bis zur letzten Krimiminute bleibt die breite Tonspur der verkosteten Weine – die völlig unterschiedlichen Interpretationen einer Rebsorte auf solch einem kleinen Flecken Erde.

Ambitionierte Kandidaten für unsere Winzerrunde hätte es noch einige gegeben. Selbst der jüngste Darsteller, der 18-jährige Dominic Schmitz, zelebriert grosses Kino und sorgt mit seinem mineralisch-kühlen Riesling der Lage Rothenberg für Gänsehaut. In kleinen Dosen bringt er sich in den elterlichen Betrieb ein und nimmt aus seiner Lehre im namhaften Freinsheimer Weingut Rings viel Wissensstoff mit, um im «Tatort Roter Hang» bald eine Hauptrolle spielen zu können.

Steckbriefe

Jochen Seebrich | Weingut Seebrich | Kellermeister

Er mache den klassischen Rheinhessen-Riesling, lautet das Understatement des 37-Jährigen, der seit 2000 für die Seebrich-Weine verantwortlich ist. Im Verkostungsglas hat man stattdessen den mineralischen Fingerabdruck der Lage Schloss Schwabsburg. Die Rieslingreben bringen zudem opulente, konzentrierte Frucht auf den Gaumen.

Dominic Schmitz | Weingut BertholdSchmitz – Hof am Teuerborn | Nachwuchswinzer

Der 18-Jährige steht in den Startlöchern. Aus dem pfälzischen Weingut Rings saugt er im zweiten Lehrjahr die Weinberg-Details, um sie in das Rotliegende des Nackenheimer Rothenbergs zu übertragen. Ziel: knackige, hocharomatische Rieslinge mit Roter-Hang-Profil.

Felix Peters | Weingut St. Antony | Winzer & Betriebsleiter

Eigentlich wollte er Lehrer werden. Jetzt heissen seine Schüler Riesling und Pinot Noir. Mit dem Blaufränkisch Reserve hat der früher im Burgenland tätige Önologe (35) eine bemerkenswerte Zäsur in den Roten Hang gesetzt: eigenständige Rotwein-Stilistik in seltener Gesteinsformation.

Konstantin Guntrum | Weingut Louis Guntrum | Winzer & Geschäftsführer

«Monsieur le Président» wird der Vorsitzende von Wein vom Roten Hang e.V. im Verein genannt. Zu Recht. Mit klarem Blick und Innovationswut schiebt er das Rotschiefer-Filetstück an der Rheinfront zunehmend ins Interesse internationaler Weinliebhaber.

Kai Schätzel | Weingut Schätzel | Winzer & Weingutsbesitzer

Etliche Schätze hat Kai Schätzel in der Nierstein-Formation verbuddelt. Einen ganz besonderen haben wir mit seinem 2013er Riesling aus der Lage Pettenthal gehoben: fordernd, kein Klotz und unglaublich lang im Finale. Der Besitzer des 650 Jahre alten Familienweinguts zählt zu den spannendsten Jungwinzern am Roten Hang.

Albrecht Schneider | Weingut G.A. Schneider | Weingutsbesitzer

Bei fetten Böden müsse sich der Rebstock keine Mühe geben, das sei wie bei einem Cheeseburger, da müsse man auch nicht kauen. Albrecht Schneider agiert seit 2011 aus dem Hintergrund heraus und hat das Wissen über den kargen, mineralischen Roten Hang an Tochter Ursula und seinen Schwiegersohn weitergegeben.

Johannes Hasselbach | Weingut Gunderloch | Kellermeister

Der studierte Wirtschaftswissenschaftler hat sich in der internationalen Weinwelt umgesehen. Australien, Chile und Neuseeland sind Spots, aus denen Johannes Hasselbach die Wurzeln für sein Grosses Gewächs Rothenberg-Riesling zog. Mineralische Prägung und vorbildhafte Balance sind das Ergebnis im Glas.

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