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DIE NEUE SCHULE

Text: Thomas Vaterlaus, Rezepte: Claudia Casarramona, Foodstyling: Ayako Sugaya, Fotos: Lukas Lienhard

Militant vegan-vegetarische Konzepte revolutionieren die heutige Genusskultur. Sterne-Lokale servieren frittiertes Moos statt Angus-Beef oder fermentierten Rotkohl anstelle von Hummer. Ist der gute, alte Wein überhaupt noch der richtige Begleiter zu dieser neuen Küche? VINUM meint: klar doch und präsentiert neue, spannende Mariagen.

 

Beginnen wir mit einem Nachruf. Einem Nachruf auf jene grossen Mariagen, die ja eigentlich für die Ewigkeit gemacht schienen. Der Premier Cru aus Bordeaux zum Black-Angus-Filet oder der Meursault Charmes zum bretonischen Hummer. Oder das einzige vegetarische Gericht, dem halbwegs ein Drei-Sterne-Potenzial bescheinigt wurde, basierend auf weissen Alba-Trüffeln, etwa in Form eines «O Eufen surprise à l’italienne», wie es Philippe Rochat in Crissier meisterlich zubereitet und gerne mit einem erdigen Barolo serviert hat.

«Wer ins Restaurant geht, um Pingus, La Mondotte oder Grange zu trinken, dem geht es nicht ums Essen. Uns aber schon! Darum geben wir dem Wein die Rolle des Begleiters. Für unsere vegetarisch inspirierten Gerichte wären die genannten Weine aber viel zu laute, viel zu aufdringliche Begleiter. Wir brauchen leisere Weine, Weine mit Frische, Saft und Kick.»

Doch das alles war gestern. Der zeitgenössische Hedonist will in den schätzungsweise 60 aktiven Jahren, die ihm zum Geniessen bleiben, nicht mehr mit den ewig gleichen Klassikern kulinarisch zum Höhepunkt kommen. Nach dem 173. Hummer mit weissem Burgunder kann eine sorgfältig angetrocknete Bio-Karotte, die anschliessend stundenlang in Ziegenbutter niedergegart und mit Heuasche abgeschmeckt wurde, zum Erweckungserlebnis werden. Besonders wenn dazu noch ein roter Mun Jebel-Cruvon Frank Cornelissen im Glas funkelt, ein Naturwein mit vibrierender Ätna-Mineralik. Was sich in der Kunst schon vor gefühlten hundert Jahren durchsetzte, geschieht nun endlich auch in der gehobenen Küche: Die zwingende individuelle Idee ist ebenso wichtig wie die perfekte handwerkliche Umsetzung.

Was das für Reaktionen auslöst, ist in den sozialen Netzwerken hinreichend dokumentiert. Besucher von entsprechenden Etablissements wie «Noma» in Kopenhagen, «Oaxen Krog & Slip» in Stockholm, «Bubble Dogs» in London oder «Tian» in Wien sprechen von «Ergriffenheit» und «Aufgewühltheit», eine «Noma»-Besucherin schreibt sogar: «Ich hätte nie gedacht, dass ein einziges Dinner mein Leben verändern kann…» Nun, wer «Babettes Fest» von Tanja Blixen gelesen hat, weiss allerdings, dass dies immer schon so war…

L’art pour l’art?

Doch tatsächlich ist es aus heutiger Sicht unfassbar, wie statisch die Haute Cuisine über uns thronte, von Escoffier (1846–1935) bis Bocuse. Das gilt auch für die Weinauswahl. Schon in den Büchern von Honoré de Balzac (1799–1850) becherten sie in den Pariser Séparées jungen Loire-Muscadet zu Austern, roten Burgunder zu Coq au Vin und Sauternes zur Gänseleber. Und genau das empfehlen all die Gastrojournalisten noch heute in ihren weitgehend nutzlosen Ratgebern über Wein und Speisen.

«In unserem Konzept einer vegetarisch inspirierten Küche sprechen wir zunehmend von Getränke und nicht mehr von Weinbegleitung. Zwar spielt der Wein die Hauptrolle. Doch zwischendurch ein Saft, ein Fruchtwein, Cidre oder Bier, das sorgt für den nötigen Break, und schärft die Sinne neu. Davon profitieren dann auch die nachfolgenden Weine.»

Man muss zugeben, dass es Ferran Adrià («elBulli») und die ihn kopierenden «Pipetten-Clowns» waren, die das alte Haute-Cuisine-Regime endgültig gesprengt haben. Mittels Techniken wie Gefriertrocknen im Vakuum oder dem Gelieren von Flüssigkeiten entstanden Gerichte mit völlig neuen Aromen und Texturen. Was die begleitenden Getränke zu seiner revolutionären Küche anbelangt, blieb Ferran Adrià aber überraschend uninspiriert, ja konservativ. Sicher gab es da Gin-Spray zur Erfrischung des Gaumens und ein selbst entwickeltes, mit Koriander und Lakritze aromatisiertes Bier. Doch die Gäste in seinem «elBulli» hielten sich durchweg an die zwar sensationell bestückte, aber letztlich klassisch konzipierte Weinkarte. Ja, sie war für viele der einzige sichere Anker in diesem kulinarisch bewegten Gewässer. Die Tatsache, dass der Molekularküche mit den klassischen Regeln der Mariage nicht mehr beizukommen war, hat bisher niemand nachhaltig analysiert. Und heute interessiert dies auch niemanden mehr. Denn letztlich blieb diese höchst aufwändige Hightech-Küche weitgehend «L’art pour l’art» ohne jegliche Breitenwirkung.

Saft oder Wein?

Als grösstmöglicher Gegensatz erscheint jene «vegetarisch-vegan orientierte Regionalküche», die im Fahrwasser vom «Noma» und von seinem Küchenchef René Redzepi nun schon seit gut fünf Jahren ganz Nordeuropa elektrisiert. Sie beruht auf der verblüffenden Intention, dass bisherige Beilagen wie Karotten, Rote Bete, Radieschen oder Kartoffeln zu Hauptakteuren einer Kreation werden sollen. Sie rücken also vom Rand des Tellers in die Mitte und werden von neuen Beilagen wie Sauerampfer, Hopfen, Flechten, Moos, Kräutern, Heu oder Asche begleitet. Uralte Zubereitungsarten wie das Fermentieren von Gemüse oder das Räuchern ergänzen das klassische Garen, Braten und Frittieren.

Über zwölf Gänge zieht sich im «Noma» dieses revolutionäre Schauspiel hin. Schnell wird klar: Mit den traditionellen Kombinationsregeln von Speisen und Wein ist dieser Küche noch weniger beizukommen als der Molekularküche. Ausser man macht es sich einfach und kredenzt zum geräucherten Wachtelei einen ebenfalls rauchigen Weisswein und zum Kräutertoast einen herbalen Rotwein. Im «Noma» wird zum Menü auch eine entsprechende Saftbegleitung angeboten, das ist innovativ und konsequent, vor allem aber auch ein Signal dafür, dass der Wein möglicherweise sein Monopol als das standesgemässe Getränk in der gehobenen Küche nicht auf ewig für sich gepachtet hat.

«Weil wir auch in den Hauptgängen mit entsafteten Gemüsen und fruchtig süssen Komponenten arbeiten, dominieren auf unserer Karte die animierenden Weissweine. Wenn Rot, dann aus dünnschaligen Sorten, also hell in der Farbe, mit weniger als 13 Volumenprozent und ohne Eichenholzwürze. Wichtig: Rotweine müssen kühl serviert werden.»

Aber bei den Zehntausenden von verschiedenen Weinen, die heute erhältlich sind, müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht ein paar Gewächse mit dabei wären, die perfekt mit Gurke, Sauerampfer und frittiertem Moos harmonieren würden. Die klassische Haute Cuisine konnte dank ihrer kontinuierlichen Entwicklung eine Systematik etablieren, die es einfach macht, zu jedem Gang innerhalb eines Menüs einen passenden Wein zu kredenzen. Die neue nordeuropäische Naturküche dagegen ist jung und entwickelt sich so dynamisch, dass noch keine diesbezüglichen Regeln bestehen. Aber statt zu jedem Gericht einen passenden Wein suchen zu wollen, ist es hier womöglich vorteilhafter, sich von einem gut ausgewählten Wein über alle Gänge hinweg begleiten zu lassen, er bildet dann die Konstante in einem Abenteuer mit vielen Unbekannten.

Angesichts der subtilen Konsistenzund Aromatik vieler Gerichte sind alkoholstarke, tanninbetonte, aber auch zu kitschig primärfruchtige Weine die falsche Wahl. Komplexe, aber gleichzeitig unaufdringliche Weine mit saftiger Säure und viel Schmelz harmonieren dagegen in fast allen Fällen. Mit einem hochwertigen weissen Burgunder von der Côte de Beaune oder einem Riesling Grosses Gewächs kann nichts schiefgehen. Allerdings wird in den einschlägigen Lokalen die Weinauswahl nicht einzig aufgrund der sensorischen Qualitäten getroffen. Im «Noma» beispielsweise stammt der Grossteil der angebotenen Weine aus biodynamischem Anbau, viele sind schwacho der gar nicht geschwefelte Naturweine (Orange Wine). Wer hier seinen Wein übrigens mit reinstem Gewissen geniessen möchte, wählt einen Cabernet Franc Pur Breton von Olivier Cousin, weil der nämlich per Frachtsegler von der Loire nach Kopenhagen geschafft worden ist.

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