Südtirol

Vibrierendes Erbe

Als der deutsche Agrarwissenschaftler und Winzer Rainer Zierock im Jahr 2009 starb, galt er als Weinbau-Visionär mit wenig Bodenhaftung. Wer heute die neu selektionierten Weine aus seinen letzten Lebensjahren verkostet, die nach dem Prinzip des Mischsatzes und des gezielt oxidativen Ausbaus entstanden sind, stellt fest: Der Mann war seiner Zeit weit voraus!

Der Begriff Gesamtkunstwerk umschreibt Utopien von Individualisten, die eine ganzheitliche soziale Wirklichkeit geschaffen haben. Was Rainer Zierock zwischen 1999 und seinem Tod im Jahr 2009 im Ansitz Sacker, den er in Dolomytos umbenannte, geschaffen hat, entspricht exakt dieser Definition. Nur war sein Gesamtkunstwerk zugleich auch ein experimentelles Weingut. Die Anfahrt zu diesem führt von Bozen aus zuerst hoch auf den Ritten und dann wieder in unzähligen Kurven hinunter nach Unterinn, wo das Anwesen spektakulär auf einem Felsrücken thront, hoch über dem engen Eisacktal, das hier einem bedrohlich dunklen Schlund gleicht, in dem der Nord-Süd-Verkehr brodelt. Hier steht der Besucher vor einem rohgezimmerten Portal, das signalisiert: Achtung, Sie betreten nun die freie Republik Dolomytos.

Nachdem 2012, also drei Jahre nach dem Tod von Rainer Zierock, auch seine Partnerin Margret Hubmann starb, der der Ansitz Dolomytos gehört hat, kam das stark verschuldete Anwesen schliesslich 2013 zur Versteigerung und wurde vom 72-jährigen Önologen Norbert Marginter und seiner Familie erworben. Dem Nachlassverwalter eines Künstlers gleich hat Maginter seither, zusammen mit dem Winzer Alois Ochsenreiter (Harderburg, Salurn), die Hinterlassenschaft des im Alter von 61 Jahren verstorbenen Rainer Zierock geordnet und die vorgefundenen Weine, über die es keinerlei Aufzeichnungen gibt, verkostet, analysiert, danach neu assembliert und abgefüllt. Rund 2000 Liter mussten eliminiert werden. In anderen Fässern dagegen fanden sich grossartig ausgereifte Weine, mit einer höchstkomplexen, kräutersalzigen Aromatik und einer fantastischen, weil tänzerischen Frische.

Bis zu 30 Erntedurchgänge

Diese Crus sind das Resultat eines einzigartigen Konzeptes. So soll Rainer Zierock in den zehn Jahren seines Wirkens im Ansitz Dolomytos bis zu 250 verschiedene Sorten gepflanzt haben, viele davon im Mischsatz, wobei es grössere Bestände von Ruländer, Weissburgunder, Riesling und Sauvignon Blanc gibt. Zierock erntete ohne Rücksicht auf Sorten, sondern ausschliesslich nach optimaler Reife, weswegen bei jedem der bis zu 30 Erntedurchgänge eine andere Zusammensetzung an Sorten zustande kam. Anschliessend wurde jeder Lesegang separat vergoren und dann in 150 Liter fassenden Fässern ausgebaut. Zierock hatte beider Entwicklung dieses «Cigarillo» genannten Fasstyps von Taransaud in Cognac persönlich mitgewirkt. Er versprach sich davon einen subtil oxidativen Ausbau und eine präsente, aber feinkörnige Gerbstoffstruktur bei gleichzeitiger Vermeidung oberflächlich wirkender Eichenholzwürze.

Zierocks extrem arbeitsintensive Weinbereitung endete mit der separaten Abfüllung jedes einzelnen «Cigarillo». Um den Überblick über diese vielen Abfüllungen zu behalten, liess er Holzregale zimmern, die genau die Flaschenzahl eines einzelnen «Cigarillo» aufnehmen konnten. Das Resultat waren Unikate, wie sie wohl kein anderer Winzer vor und nach ihm in Flaschen gebracht hat. Erschien Zierocks Konzept vor zehn Jahren vielen als verrückt, so hat er in Bezug auf Mischsatz oder oxidativen Ausbau vieles von dem vorweggenommen, was heute von der rasantan Zulauf gewinnenden Naturweinbewegung praktiziert wird. Nur zum Schwefel hatte er wohl ein ambivalentes Verhältnis. In seinem Nachlass finden sich sowohl Weine mit geringen als auch Gewächse mit sehr hohen Schwefeldosierungen.

«Was mich an Rainer Zierock besonders faszinierthat, war seine Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen. Weinbau, griechische Mythologie, deutsche Literatur, Gesetzmässigkeiten der Natur, all das verknüpfte er zu einem Kosmos, der mich bis heute begleitet», sagt sein langjähriger Freund Alois Lageder. Wer heute den Ansitz Dolomytos besucht, wo die Familie Marginter die ungewöhnliche Hinterlassenschaft ihres Vorbewohners pflegt, trifft überall auf die Spuren des Visionärs. Die Darstellungen des Granatapfels und des Quastenflossers, das allgegenwärtige Pentagon, das nicht nur die Form des Balkons bestimmt, sondern auch sein eigenes Verkostungsschema, bestehend aus den Eckpunkten Bouquet, Säure, Harmonie, Polyphenole und Extrakt. Der gewaltige Beobachtungsturm für Flora und Fauna mit Plattformen für Götter, Geistliche und profane Erdenbürger. Der Glockenturn, sein Thron mit Aussicht auf die gegenüberliegende Talseite, Malereien, Gedichte, Pläne. Er wollte eine Brücke auf die andere Talseite bauen und einen Schaumwein abfüllen, mit einem Stück Dolomitgestein in jeder Flasche. Er hätte hundert Jahre alt werden müssen, um nur die Hälfte seiner Ideen zu realisieren. Sieben Jahre nach dem Tod von Rainer Zierock wachse das Interesse an seiner Person und dem Projekt Dolomytos rasant, sagt Norbert Marginter. Warum erst jetzt?

Eis-Klimatos

«Die Dialektik des Mikro und Makrokosmos, der Wanderer Uranos am Firmament des Gaumens als Mikrokosmos zur menschlichen Perzeption des Urgewächses im Wein und den Genüssen der Natur beistimmt. Seid willkommen! Die Dialektik – Sie lebe hoch!»

Dieser Text von Rainer Zierock stammt vom Etikett des Weines Eis-Klimatos, für den Fässer auf der Terrasse des Hauses gelagert wurden, um sie wechselnden Temperaturen auszusetzen. Das Urgewächs gelangte nie in den Verkauf.

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