Wein-Dossier

Wein täglich?!

Bis vor 200 Jahren galt Wein – vor allem in städtischen Gebieten – als mikrobiologisch sauberer als Wasser. Es galt als gesund, Wein zu trinken. Später avancierte die tägliche Flasche Wein zum kleinen Helfer für Musse am Feierabend und zum Animator für gesellige Tischrunden. Doch welche soziale Rolle spielt der Wein im dahinrasenden Online-Zeitalter? In unserem VINUM-Dossier «Täglich Wein?!» suchen wir nach Antworten.

Eigentlich war «Täglich Wein?!» nur der Arbeitstitel für dieses Dossier. Doch er hat sich hartnäckig gehalten und zum Schluss gar durchgesetzt. Ohne die zwei Satzzeichen am Schluss steht er für Genuss. Das Glas Wein zum Essen. Das Glas Wein als Begleitung von guten Gesprächen. Das Glas Wein am Ende des Tages, um mit einem sinnlichen Ritual zur Ruhe zu kommen. Mit einem Ausrufezeichen versehen ist unser Titel eine Aufforderung, um täglich ein Glas Wein zu trinken, beispielsweise um damit den Winzern aus der Patsche zu helfen. Das «Viertele» als kleiner Beitrag zum Abbau der Überproduktion im südlichen Europa. Oder noch besser «ein Halber» zur Förderung des Steillagen-Weinbaus an der Mosel oder im Wallis, quasi als gute Tat zur Erhaltung dieser spektakulären, aber leider akut gefährdeten Kulturlandschaften. Das Fragezeichen schliesslich steht für die gesundheitlichen Aspekte. Die gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Konsequenzen des Alkoholkonsums sind heute omnipräsent. Staatliche Präventionskampagnen wollen uns die Abstinenz schmackhaft machen. Doch ein Leben ohne Wein ist nicht unbedingt gesünder, garantiert aber trauriger. Es ist unbestritten allein die Dosis, die darüber entscheidet, ob Weinkonsum unsere Gesundheit fördert oder eben nicht. 20 Jahre sind vergangen, seit der Ernährungswissenschaftler Nicolai Worm mit seinem provokativen Sachbuch «Täglich Wein» den moderaten Weinkonsum zur Förderung unserer Gesundheit propagiert hat. Mit Thesen wie «Abstinenzler leben gefährlich» oder «Der gute Tropfengegen Herzinfarkt» empfahl er zwei bis drei Gläschen täglich für die Frau und drei bis vier Gläschen für den Mann. Zahlreiche Studien stützen diese These. So zeigen Untersuchungen in Europa, dass die Gesamtsterblichkeit der 55- bis 65-Jährigen in Ländern mit vergleichsweise noch immer hohem Weinkonsum wie Frankreich oder der Schweiz markant tiefer liegt als in jenen europäischen Ländern mit deutlich geringerem Weinkonsum.

Mehr Tempo – weniger Musse

Trotzdem steht der tägliche Weinkonsum zur Debatte. Erhebungen zeigen, dass der Prozentsatz jener, die tatsächlich täglich Wein geniessen, laufend abnimmt. So bekennen sich nur noch acht Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zum täglichen Weingenuss, 17 Prozent genehmigen sich immerhin mehrmals in der Woche ein Gläschen Rebensaft. Dem gegenüber gaben aber 27 Prozent der Befragten an, lediglich einmal im Monat Wein zu trinken, sowie 28 Prozent unbestimmt «von Zeit zu Zeit». Die Werte in Deutschland und Österreich sind vergleichbar. Dies ist nach Meinung von Fachleuten eine direkte Folge der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Verschärfung der Alkohol-Promillegrenze im Strassenverkehr in den letzten Jahrzehnten hat beispielsweise dazu geführt, dass nur noch 23 Prozent der Weinkonsumenten im Restaurant die Mariage von Wein und Essen pflegen. Wein wird heute zu 60 Prozent zu Hause getrunken, aber auch hier abnehmend. Galt vor 50 Jahren die allabendliche Tischrunde bei einer Flasche Wein im Kreise der Familie oder an der erweiterten Tafel mit Freunden als Inbegriff für Lebenslust und Daseinsfreude, so ist unser heutiges Leben von extremer Individualität, Ruhelosigkeit und permanenter Kommunikation geprägt. Für Musse bei einem Glas Wein bleibt da kaum noch Zeit. Vor allem im südlichen Europa, etwa in Italien und Spanien, wo Wein über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg ein fixer Bestandteil des mediterranen Lebens war, wenden sich die Menschen in gravierender Weise vom Rebensaft ab. Die Italiener beispielsweise konsumierten 1995 durchschnittlich 62 Liter Wein pro Kopf und Jahr, heute sind es nur noch 36 Liter. Noch viel extremer verlief die Entwicklung in Spanien. Hier lag der jährliche Durchschnittskonsum im Jahr 1975 noch bei stolzen 77 Litern, heute sind es gerade mal 21 Liter. Weil die Winzer in diesen Ländern die Produktion nicht konsequent der sinkenden Inlandsnachfrage angepasst haben, herrscht heute Überproduktion. So erzeugen die Spanier inzwischen fast viermal so viel Wein, wie sie selber trinken. Die Folge ist ein weltweiter Weinüberschuss von 3,5 Milliarden Litern pro Jahr. Das ist so viel Wein, wie Argentinien, Deutschland, Portugal, Neuseeland, Österreich, die Schweiz und Grossbritannien zusammen alljährlich herstellen.

Kein Getränk wie jedes andere…

Für Weinliebhaber mutet diese Entwicklungparadox an. Denn noch nie gab es so viele qualitativ gute Weine wie heute. Die bestausgebildetste Winzer-und Önologengeneration aller Zeiten produziert heute mit ausgeklügeltstem Know-how im An- und Ausbau eine solche stilistische Bandbreite an Rebengewächsen wie nie zuvor in der rund zehntausendjährigen Geschichte des Weinbaus. Selbst im Bereich zwischen 5 und 10 Euro werden heute Qualitätenangeboten, von denen die vorangehenden Generationen nicht mal zu träumen wagten. Vielleicht ist das Angebot inzwischen gar so gross, dass es manche Konsumenten irritiert. Allein für die kleine Schweiz listet etwa der Weinführer «vinfox» eine Auswahl von rund 120 000 verschiedenen Weinen auf. Die weltweitführende Online-Suchmaschine «Wine-Searcher» vereint gar 4,38 Millionen verschiedene Weine von 22 000 Weinhändlern und Weingütern. Damit ist der Wein das vielfältigste Genussmittel der Welt –das Angebot ist um ein Vielfaches grösser als bei Käse, Tee, Bier, Schokolade oder Kaffee. Weshalb der Weinkonsumin Europa trotzdem abnimmt, zeigt eine Studie des «International Journal of Entrepreneurship» am Beispiel Frankreichs. Der Bericht unterteilt die Weintrinkerin drei Altersklassen. Nur die 60- bis 70-Jährigen würden noch immer täglich Wein konsumieren. Während die 40- bis 50-Jährigen immer seltener, dafür besser trinken, betrachten die jungen Erwachsenen Wein als Getränk wie jedes andere auch. Sie würden zudem immer später –oft erst Mitte 20 – mit dem Weintrinken anfangen. Als Gründe für diese Entwicklung nennt die Studie den Verlust sozialer Qualitäten in der französischen Gesellschaft wie Geselligkeit, Traditionsbewusstsein oder Genussfähigkeit.

Es liegt an uns Weinfreaks, diese Abwärtsspirale zu stoppen. Wenn wir im kleinen Kreis vorleben, wie genussvoll und gesundheitsfördernd der moderate Weinkonsum ist, das tägliche Gläschen nach Feierabend zum Abendessen, werden wir auch andere wieder zu einem verantwortungsbewussten «Walk on the Wine Side» inspirieren können. Damit werden wir zwar dem Wein nicht zu jener Bedeutung verhelfen können, die er noch vor 30 oder 40 Jahren hatte. Aber ist es nicht mindestens so reizvoll, zu einer attraktiven, weil Genuss repräsentierenden Minderheit zu gehören? Tja, vielleicht sollte man nicht nur Weinlandschaften wie dem Douro-Tal, den Piemont-Gebieten Langhe, Roero und Monferrato oder den Steilhängen des Lavaux am Genfersee den Status eines UNESCO-Weltkulturerbes verleihen, sondern der abendländischen Weinkulturals Ganzem…

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