WINE AND THE CITY

DEUTSCHER INSELWEIN

Text: Eva Maria Dülligen

Wo ein Wein wächst, kann das nächste Dorf nicht weit sein. Irgendwo müssen die Winzer ja wohnen. So unterschiedlich Gross- und Einzellagen, ihre Böden und das Klima – so anders die Orte, die darumgewachsen sind. Manche sind sogar mehr als anders. Sie sind mystisch, bizarr, mitunter auch ein bisschen peinlich. Eins haben die vier Auserwählten jedenfalls gemeinsam, nämlich filmreif zu sein.

Den berühmtesten Schieferfelsen der Welt zu umkurven, wäre so manchem Seemann als Ponyritt erschienen, würde er jetzt neben mir in dieser Nussschale sitzen. Dreimal läuteten Schiffer einst die Glocke und forderten ihre Mannschaft damit zum Gebet auf, bevor es in die gefährliche Strömung um die Loreley ging. Bevor ich an diesem Morgen im Ruderboot vom Bacharacher Ufer aus auf die Weininsel Heyles’en Werth übergesetzt werde, umklammere ich lieber meinen Notizblock, in der Hoffnung, noch viele Sätze hineinschreiben zu können. Doch der Besitzer der sieben Hektar Mittelrheininsel ist routiniert genug, die Strudel mit seinen Rudern zu bewältigen, und keine zehn Minuten später versinken unsere Gummistiefel im Sand des Uferstrandes. Das Abenteuer auf Deutschlands wohl ungewöhnlichster Einzellage kann beginnen.

«Was passiert eigentlich bei Hochwasser mit den Rebstöcken?», drängt sich als erste Frage auf. «Einer Dauerkultur wie dieser kann das nicht viel anhaben. Betroffen sind dann eher die jüngeren Stöcke, die älteren erholen sich schnell», antwortet Friedrich Bastian in das Geschnatter der Nilgänse hinein. Die zieht es seit Jahren nicht mehr in südliche Gefilde, sondern sie machen sich stattdessen über Teile der 10 000 Rebstöcke auf dem linsenförmigen Eiland her. Für den 47-jährigen Winzer bedeuten die Traubendiebe eine grössere Plage als Inselüberflutung. Krummnehmen kann man den sesshaft gewordenen Zugvögeln ihre Gier nach den Riesling-Reben nicht, prägen sie doch auf blauem Hunsrückschiefer unter der Sandschicht feinherbes Fruchtfleisch aus. 

Filmset für Wim Wenders

Was der 400 000 Jahre alte Schieferfelsen aus nacheiszeitlichem Flusssand seit 1593 an Geschichte zu bieten hat, geht auf keine Kuhhaut: vom Inselkauf der Brüder Lang für 735  Gold-Forint über Versteigerungsschlachten bis zum Filmdreh im inseleigenen Herrenhaus – mit Kultregisseur Wim Wenders. Die Treppe zum mittlerweile zerfallenen Gebäude war Ort einer Schlüsselszene von «Im Lauf der Zeit», dem ersten deutschen Breitband-Roadmovie. Unter einer Holzstufe graben die Protagonisten Hanns Zischler und Rüdiger Vogler auf der Suche nach Spuren ihrer Kindheit eine Kassette aus und finden darin alte Comic-Hefte. «Ich muss so sechs gewesen sein, als mich Wim Wenders in einer Drehpause durch sein Teleskop in den Abendhimmel linsen liess», erinnert sich Bastian.

«Hier ist fast alles anders als auf dem Festland. Der blaue Hunsrück-       schiefer liegt unter sandigem Boden. Häufiger Nebel sorgt für ein spezielles Mikroklima. Nicht Wildschweine, sondern Wildgänse machen sich über die Reben her. Und der Riesling aus Heyles’en Werth zeigt nach einer längeren Anlaufphase als der aus den Bacharacher Einzellagen sein volles Potenzial. Insoweit ist er alles andere als ein typischer Vertreter des Mittelrhein-Rieslings.»

Friedrich Bastian Weingut Friedrich Bastian, Bacharach

Wir kehren der Herrenhaus-Ruine den Rücken und stapfen Richtung Rebzeilen. Nicht immer war das 800 Meter lange Heyles’en Werth eine reine Weininsel, sie diente Generationen für Viehzucht und Getreideanbau. Weinbau lief wie bei vielen Gemischtbetrieben so nebenher. Bastians Vater war es, der die Insel 1962 als Mittelrhein-Einzellage in die sogenannte «Weinbergsrolle» eintragen liess und adieu zu Langhörnern und Weizenhalmen sagte. Auf drei Hektar baute er Riesling an, den Rest bestockte er mit Neuzüchtungen. Die weichschalige Optima verfaulte im feuchten Inselklima und wurde wieder rausgerissen. Später widerfuhr dem Ehrenfelser dasselbe Schicksal: «Der hat immer eine Säure behalten, mit der man Badezimmerkacheln hätte schrubben können», lacht Bastian. Das nach unten hin immer feiner und kalkhaltiger werdende Bodenprofi l im Zusammenspiel mit der Drainage und dem besonderen Klima eigne sich eben am besten für den Riesling. So wurde aus der Insel eine Riesling-Insel.

Und eine Event-Insel. Auch, wenn der Winzer auf dem Festland Flächen in Topsteillagen besitzt, ihm eine Vinothek gehört und ein Gasthaus – ein Flecken Erde wie dieser frisst viel Geld und Zeit. Dass sich Bastian gegen den Willen seines Vaters zum Opernsänger ausbilden liess, rettete den Familienbesitz. Mit seinem Bariton lockt er Hunderte Abenteurer aufs Eiland. Nach Sektempfang am Strand und Inselinspektion verleiben sie sich rheinromantische Balladen in der Scheune ein. Zu seiner Vorstellung holt er die verstreuten Robinson Crusoes mit Schüssen aus einer Schreckschusspistole zusammen.

Manchmal verfluche er den Tag, an dem sein Vater bei einer Auseinandersetzungsversteigerung dessen Onkel Werner Mackenthun mit 130 000 DM ausstach und so die Hälfte der Insel zurückeroberte. Der angeheiratete Leipziger Tuchhändler hatte es sich dort mit Tante Adele im Herrenhaus bequem gemacht und nach ihrem Ableben seine zweite Gattin einquartiert. Das passte kaum ins Weltbild des erzkonservativen Neffen, der sich im Zuge einer unausgesetzten Erbengemeinschaft Kohle von reichen Verwandten lieh, den unerwünschten Inselbewohner damit überbot und für immer aus dem Paradies vertrieb. «Mein Vater war besessen von der Insel. Sie gehört uns ja auch schon 200 Jahre. Aber er hat ihre Fussangeln bis zu seinem Tod ausgeblendet.» Ob es darum geht, schweres Gerät mit einer Fähre rüberzubringen oder die Wildgänse in Schach zu halten: Für Bastian heisst das zusätzlicher Zeitaufwand. Wenn man ihn dann fragt, warum er diesen Klotz am Bein nicht einfach versteigert, antwortet der Winzer mit Operndiplom: «Probieren Sie mal.» Im Glas schwimmt ein Insel-Riesling Jahrgang 2009. Der Duft von vollreifer Ananas erinnert eher an die brasilianischen Tropen als an ein Eiland mit knorrigen Eichen. Rassige Säure und feine Extraktsüsse wetteifern am Gaumen, der sich anfühlt, als wäre er von Samt belegt. «Und?», fragt mich Bastian. «Ich leih mir Geld von meinem reichen Onkel und kauf die Insel.» 

HEYLES'EN WERTH

1955 diente das Mittelrheindorf Bacharach als Kulisse für Georg Jacobys Heimatfilm «Drei Mädels vom Rhein». Rund 20 Jahre später wählte der Kultregisseur Wim Wenders die gegenüberliegende Insel Heyles’en Werth als einen Filmset für sein Roadmovie «Im Lauf der Zeit». Ob die Protagonisten Rüdiger Vogler und Hanns Zischler – die auf der Weininsel einen Schatz ihrer Kindheit ausgraben – mit dem Insel-Riesling von Friedrich Bastians Vater angestossen haben, ist nicht überliefert. Gelohnt hätte es sich allemal.

BITTER-SÜSSES PARADIES

Noch bis in die späten 1970er stand Assmannshausen für süssen Spätburgunder. Hatte er nicht den gewünschten Öchslegrad, wurde mit Süss-Reserve nachgeholfen. Dieser Typ Rotwein mit bis zu 50 Gramm Restzucker entsprach der Sehnsucht weg von den bitteren Kriegsjahren. Mit Visionären wie Fritz Allendorf, Robert König und August Kesseler fand der Stilwechsel zum trocken ausgebauten Pinot Noir statt. Auch die Rheingauer Rotweingemeinde selbst zeigt bittersüsse Facetten.

Kennen Sie die Bahnhofsszene aus Jacques Tatis «Die Ferien des Monsieur Hulot»? In dem französischen Kultstreifen rast eine Touristenhorde in Zeitraffer durch Tunnel von einem Gleis zum anderen, weil der Lautsprecher ständig die Zugansage ändert. Am zweigleisigen Assmannshausener Provinzbahnhof fühle ich mich wie ein verspäteter Statist des 50er-Jahre-Movies. Klar, dass die Reise von Gleis 1 Richtung Koblenz und vom gegenüberliegenden Gleis gen Wiesbaden geht. Aber, wenn eine Schar von Weintouristen slapstickartig auf der einen und Sekunden später auf der anderen Plattform auftauchen würde, würde das gut ins Bild passen. Sie kämen zwar nicht wie in Tatis Film aus einem bretonischen Badeort, sondern einem Rheingauer Winzerdorf – das ist allerdings laut Tourismusprospekt ein «malerischer Ort an der romantischsten Stelle des Rheins», Assmannshausen eben.

Es ist nicht zuletzt jene Sehnsucht nach einer heilen Welt, taucht man in historisch gewachsene Weindörfer ab. Sei es Rhodt unter Rietburg, Besigheim, Iphofen, Sankt Martin oder Meißen. Vom sächsischen Elbland bis zum Bodensee geraten Weintouristen in heiter-melancholische Stimmung beim Streifzug durch mittelalterliche Klöster, römische oder gotische Baufragmente, mit Burgruinen und Fachwerk gesäumte Gassen. Man nimmt einen tiefen Atemzug Geschichte, trinkt ein paar Schlucke Weinkultur und fährt mit einem Dutzend Flaschen Riesling oder Spätburgunder wieder nach Hause. Magischer Realismus, der von Leuten wie dem Assmannshausener Winzer August Kesseler mit erzeugt, aber nicht unbedingt geteilt wird: «Als ich den elterlichen Betrieb mit 19 übernehmen musste, konnte ich meine Pläne, mich dem Autorennsport zu widmen, über den Haufen werfen», sagt der Mann, der das 980 Einwohner Dorf in Rüdesheim zu einer weltberühmten Rotweingemeinde hat werden lassen.

Hilfe bekam der Vollwaise anfangs nur von drei benachbarten Familien, die ihn zwischen Geisenheim-Studium, Weinbergarbeit und Praktikum durchfütterten. Die anderen meinten teilnahmslos: «Das schafft der Bub net.» Dass doch, hatte mit Talent und auch mit Glück zu tun. Dem jungen Kesseler gelang ein aussergewöhnlich gutes Fass Spätburgunder, von dem er einen Weinkommissionär probieren liess. Der war derart begeistert, dass er ihn für 20 DM den Liter kaufte: «Damit konnte ich ohne Geldsorgen weiterstudieren.» Bacchus sei Dank, denn was der 57-Jährige aus den Assmannshausener Einzellagen Frankenthal und Höllenberg rausholt, rangiert auf Augenhöhe mit burgundischen Grands Crus. Seine Cuvée Max, eine Assemblage der beiden Lagen, wird nur in besonders guten Jahrgängen wie 2011 oder 2013 vinifiziert und spült nach einer kurzen O2-Dusche so viele verschiedene Substanzen auf die Papillen, dass einem schwindelig wird: Die Essenz von winzigen Walderdbeeren, schön integriertes Eichenholz, Pfeffer, geräuchertes Meersalz und Zitronenzeste machen sich wohlproportioniert über den Gaumen her. 

Sterbende «Krone»

Dass er hier, und nur hier, derartige Spätburgunder-Ergebnisse erzielen kann, liegt für den VDP-Winzer am Terroir – rund um das 900 Jahre alte Örtchen, das mit seiner Rheinromantik schon den Komponisten Robert Schumann, den Dichter Clemens Brentano, die österreichische Sissi und Kaiser Wilhelm I. und II. in seinen touristischen Bann zog. Die Steilterrassen aus wärmespeicherndem Phyllit-Schiefer seien in dieser Kombination einzigartig im Rheingau.

Nirgends fände man in der Region gesünderes Traubengut, das A und O beim Spätburgunder. «Wir machen hier mit Abstand den besten Pinot Noir», fügt Kesseler hinzu, und mit seinem schokoladigen, herb-saftigen 2012er «Höllenberg» auf der Zunge fällt einem kein wirkliches Gegenargument ein. Eine kleine Sightseeing-Tour nach der Verkostung macht die fabelhafte Welt eines Ureinwohners greifbarer: «Schade, dass die Seilbahn noch nicht in Betrieb ist. Vom Sessellift aus kann man das Mittelrheintal aus der Vogelperspektive einfangen. Und die Touristen werden zu Spots wie dem 38 Meter hohen Niederwald-Denkmal aus der wilhelminischen Ära geschaukelt», erzählt der Winzer.

Wir tasten uns die Rheinpromenade entlang, gesäumt von Hotels, die jetzt Mitte Februar mit heruntergelassenen Jalousien wenig vom Run auf den Kurort erahnen lassen. Die Saison startet wie in den meisten Weindörfern ab Ostern. Trotzdem legen sich winterliche Sonnenstrahlen über das 450  Jahre alte «Gasthaus Hotel Krone». Während der 1960er war die Hotellegende mit zwei Michelin-Sternen gesegnet. Kesseler erinnert sich an die grandiose Küche, an die Gästezimmer, in denen jedes Bad mit verschiedenen Marmorkacheln ausgeschlagen war, eine gastronomische Institution, wo jeder Rheingauer Winzer stolz war, auf der Weinkarte zu stehen. Doch seit einigen Jahren und diversen Eigentümerwechseln steht es nicht mehr zum Besten mit der «Krone».

Anfang des neuen Jahrtausends verschlug es den Weingutsbesitzer aus der dörflichen Enge nach Chicago. Von da baute er in zwei Dutzend US-Staaten einen Exportmarkt für seine Rieslinge und Spätburgunder auf. Welch Kontrastprogramm zwischen einer Gemeinde am Mittelrhein und einer Metropole in Übersee! «Ach, wissen Sie, am Ende ist es doch völlig wurscht, wo Sie sind. Hauptsache, Sie haben einen Pinot Noir aus Assmannshausen im Glas.»

 ASSMANNSHAUSEN

Das Mini-Weindorf hat es faustdick hinter den Ohren. Über die mit 90 Prozent Pinot Noir bestockten Steillagen schaukelt die Niederwald-Seilbahn internationale Rheinurlauber zu Weinstuben und romantischen Laubenterrassen. Mit seinem Spätburgunder-Stil aus Einzellagen wie Frankenthal und Höllenberg schaffen es Kesseler (l.) und Weinbau-Ingenieur Max Himstedt (r.o.) bis auf die Weinkarten im New Yorker «Rockefeller Center» oder in Londons «The Fat Duck», einem Drei-Sterne-Tempel unter der Küchenleitung von Heston Blumenthal.

WEINTRIP IN DIE UNTERWELT

Statt in die Wand gehauene Grabkammern für heilige Gebeine, wie in den römischen Katakomben, lagern unterhalb von Traben-Trarbach ausgediente Moselfassfuder mehrerer Jahrhunderte. Und statt als Zufluchtsstätte für verfolgte Christen dienten viele unterirdische Reifekeller an der Mittelmosel den Bewohnern als Luftschutzkeller. Wer Geschmack an historischen und technischen Details der moselanischen Unterwelt findet, klicke einfach auf www.unterwelt-ausflug.de.

«Mystisches Halbdunkel in einem Netz aus unterirdischen, historischen, teilweise mehrstöckigen, über hundert Meter langen Gewölben.» Bei diesem Teaser im Prospekt der Touristen information Traben-Trarbach kann man nicht widerstehen, packt seinen Koffer und düst Richtung Doppelstadt an der Mittelmosel. Vor dem Tourismusbüro wartet Rolf Zang, einer von acht Fremdenführern, die normalerweise bis zu 40 Personen durch drei von 33 stillgelegten Weinkellern begleiten – eineinhalb Stunden lang für 7 Euro pro Person, inklusive eines Glases Wein.

Heute führt der ehemalige Lehrer für Physik und Sport mich ganz allein durch die Katakomben des Weins. Eine veritable Sondershow, die Fragen und Einblicke zulässt, wie sie in Reisegruppen aus Dänemark, den USA, England oder Finnland kaum möglich wären. «Wir können und wollen nicht mit touristischen Magneten wie Cochem oder Bernkastel-Kues konkurrieren», sagt der Ex-Pauker beim Gang vorbei an ausgedienten Holzfässern und Edelstahltanks unterhalb des Weinguts Carl Emert, einst im Besitz von August Wehr. «Aber während sich die Wein-Touristen gegenseitig die Terrassenstühle im Altstadtkern der weltberühmten Weinmetropolen wegschnappen, zeigen wir, was unterirdisch an Weingeschichte stattgefunden hat.» Zum Beispiel die im Jahre 1896 vom Unternehmer August Wehr eingeführte, zeitsparende und praktische Verlademöglichkeit von Fuderfässern via Elektrokahn auf die nahe gelegenen Eisenbahnen.

Nicht viel scheint sich in den Kreuzgratgewölben seit Ende des 19. Jahrhunderts verändert zu haben. Der 50 Meter lange, in vier Segmente unterteilte Keller wurde in einen Schieferfelsen hineingeschnitten, der ihn durch hereintropfendes Frischwasser feucht für ein optimales Fassklima hält. Warum werden derartige Kleinode überhaupt in Museen verwandelt und nicht weiterhin als Weinkeller genutzt? «Der hier ist noch teilweise in Betrieb. Die anderen sind zu gross oder zu kostenintensiv», sagt der Mittsechziger und bittet in die Verkostungsstube des vier Hektar grossen Weinguts Emert eine Etage höher. Hier lagern auch einige unverkäufl iche Riesling-Raritäten, die ältesten vermutlich aus den 1950ern. «Vermutlich», weil Mosel-Hochwasser die Etiketten von den meisten Flaschen gelöst hat. Als Axel Emert letztens einem befreundeten Pfarrer einen dieser Rieslinge mitgab, meinte er, dass das wahrscheinlich Jahrgang 1967 wäre. Der Kirchenmann entgegnete: «Allein der Glaube zählt.» 

Hautnah statt virtuell

Man würde den beiden Weinspots rechts und links der Mittelmosel nicht gerecht, beschränkte man sich auf deren vinologisches Schattenreich. Allein, dass Traben in der Eifel und Trarbach im Hunsrück liegt, gibt der Doppelgemeinde einen besonderen Anstrich. Riesling oder Spätburgunder, je nachdem, auf welcher Seite des Flusses sie wachsen, bringen unterschiedliche Nuancen ins Glas. Verschiedene Variationen von Flammkuchen, gebratener Forelle und Tresterfleisch sind Rezeptresultate der Oma aus Traben oder Trarbach. Erst 1898 wurden die beiden im Mittelalter entstandenen Dörfer durch eine Eisenbrücke verbunden (zerstört 1945, wiederaufgebaut 1947/48). Traben sei weitläufiger, ginge um die Moselschleife, erklärt Zang.

Wir befinden uns jetzt in Trarbach, am Prallhang, mit einer kesselartigen Talatmosphäre. Anke Eggert empfängt uns vor ihrem Weingut Caspari, einem 3,5-Hektar-Betrieb, den die gelernte Innenarchitektin 2006 von den Casparis übernommen hat. Für eine viertel Million Euro samt Weinbestand, Weinbergen und Kundenstamm. Und einem in einen Felsen geschlagenen Gewölbekeller mit 40 verwaisten Fuderfässern. Das Relikt von fünf Winzergenerationen ist heute reine Deko für Weintouristen. Eigentlich schade, angesichts der Holzfässer und des Reifeklimas: «Ein einziges Fass zu säubern, dauert etwa so lange, wie unseren ganzen neuen Keller, in dem ausschliesslich Edelstahltanks liegen, zu reinigen. Das rechnet sich betriebswirtschaftlich nicht», sagt Frau Eggert. Dafür geht das Konzept der Unterwelt-Odysee umso besser auf. Ähnlich wie im katalonischen Penedès, wo Besucherscharen durch die Reifekeller von Freixenet und Codorniu geschleust werden, setzt man auf hautnah erlebte Nostalgie. Ganz nebenbei gibt’s eine feinherbe Riesling-Auslese aus der Enkircher Ellergrub, und wer will, kann sich zum Schluss in Casparis Gästestube mit moseltypischer Kost versorgen. Das bindet stärker, als sich durch Online-Weinportale zu klicken.

Der letzte Tauchgang unter die Mosel führt 26 steile Stufen hinab in den Tiefkeller von Langguth Erben. Vier historische Korbgewölbe werden rechtwinklig von einem Verbindungsgewölbe durchschnitten. Von den Aberhunderten Moselweinfudern, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts hier lagerten, sind noch etliche runde und ovale zu besichtigen. Aber das aufregendste liegt am Gewölbetunnel-Ende, besteht aus Beton und fasst 102 400 Liter. Ich stecke meinen Kopf in das 120 Jahre alte Gebinde, das an einen leeren Walfischbauch erinnert. «Welcher Wein hat denn in diesem Monster gelagert?», halle ich ins Fassinnere. «Ab den 1950ern das ‹himmlische Mosel-Tröpfchen›, ein standardisierter, lieblicher Markenwein, der auf die Literflasche kam», ruft Rolf Zang zurück. Dann ist es wohl besser, wenn es nie wieder in Betrieb genommen wird.

TRABEN-TRARBACH

Nach Bordeaux war Traben-Trarbach einst der zweitgrösste Weinumschlagplatz Europas. 1899 etwa wurden per Schiff und Eisenbahn 18000 Fuder aus über hundert Weingütern und Kellereien über den Kontinent verteilt. Die Nachfrage nach Riesling aus der Doppelstadt war so enorm, dass die unterirdischen Lagerhallen wie in keiner anderen Moselgemeinde expandierten und dafür grosse Flächen des Stadtkerns unterkellert wurden. Die meisten der historischen Fasswein-Gewölbe sind heute stillgelegt, können aber besichtigt werden.

PINOT-HOCHBURG MIT KANTEN

Das Seitental des Rheins hat für seine geringe Grösse eine enorme Erlebnisdichte: vom ältesten Kloster an der Ahr, dem «Marienthal» mit rustikaler Regionalküche und Outdoor-Events wie Rockkonzerten und Stunksitzungen bis zum Regierungsbunker, der die einstige Bonner Politelite im Fall eines atomaren Angriffs schützen sollte. Drum herum ranken sich Weindörfer, die den Grimm-Märchen entsprungen sein könnten. Ein besonders traumhaftes haben wir herausgepickt – Ton ab!

«Auf hundert Hektar kommt hier im Schnitt ein VDP-Winzer», sagt Meike Näkel. Kunststück, denn das Ahrtal ist drittkleinstes Weinbaugebiet Deutschlands. So ist die 36-Jährige mit Geisenheim-Diplom für Weinbau und Önologie auf rund 550 Hektar Mitglied eines von sechs VDP-Familienweingütern an der Ahr. Was sich um Betriebe wie Jean Stodden, Adeneuer oder Meyer-Näkel an Historischem und Landschaftlichem auftut, beeindruckt. Bevor es ans Eingemachte geht, ich also einige der besten Spät- und Frühburgunder der Republik probiere, muss ich mich für ein urbanes Schmuckstückchen entscheiden. Welche Kulisse, 55 Kilometer südlich von Köln, liefert den dichtesten Stoff? Dernau, Walporzheim oder Blankenheim?

Der Zufall lenkt zum Zwischenstopp nach Ahrweiler. Bingo. Hinter der 1,8 Kilometer langen althistorischen Stadtmauer lauert über tausendjährige Geschichte. Der Halbschalenturm zur Verteidigung von Ahrweiler wurde im ausgehenden Mittelalter als baulicher Querschnitt konstruiert. Dürfte man die Leiter hoch auf den Kanonenturm klettern, sähe man von oben vielleicht die Fachwerkhäuser am Markt, zweigeschossige Barockbauten, die älteste, dreischiffige Hallenkirche im nördlichen Rheinland und «Haus Palm», in dem Ludwig van Beethoven 1781 auf Besuch bei der Familie seines Orgellehrers Kanonikus Schopp gewesen sein soll. Aber dann würde man vieles nicht erfahren. Zum Beispiel von den Leuten, die nach dem Gottesdienst in der gotischen St.-Laurentius-Kirche auf die Volksbank gegenüber zeigen. Das moderne Gebäude inmitten der verträumten Fachwerkwelt durfte nur unter der Prämisse gebaut werden, dass ein Balkon an der Fassade errichtet wird – für das Festkomitee, wenn der Karneval auf dem Marktplatz rockt. Man wäre auch um die witzige Tatsache der einzigen Schützengesellschaft mit eigenem Weinberg ärmer. Zigarrenrauchende Herren in paramilitärischer Uniform reichen mir ein Glas von ihrem selbstgemachten Spätburgunder, selbstredend unverkäuflich, nur für den eigenen Verzehr. Möglicherweise besser so. Vor allem, wenn man eine Stunde später den herrlich komplexen Frühburgunder der deutschen Weinkönigin von 2012 dagegen verkostet.

Die hübsche rotblonde Frau ist an diesem Sonntag extra von ihrem Weingut in Dernau nach Ahrweiler gekommen, um ihr Ahr-Gewächs im Weindorf meiner Wahl gemeinsam zu verkosten. Julia Bertram ist nicht das personifizierte Klischee einer Art Miss Germany, die ein bisschen was von Wein versteht. Nach dem Bachelor of Science in Weinbau und Önologie entschied sich die 26-Jährige, aus dem Nebenerwerbs-Weinbetrieb ihrer Eltern sich in den Vollerwerb zu wagen. Mit schmeckbarem Erfolg. Als Joker zum Loup de Mer mit Krustentier-Ravioli profiliert sich ihr 2014er Frühburgunder aus der Einzellage Sonnenberg mit Anklängen von Marzipan, Majoran und feiner Kirschfrucht ebenso wie zur Wachtelroulade. Wir sitzen im Restaurant «Lanz am Kautenturm», in dem Küchenchef Gerd Lanz Menügänge zaubert, als habe er dabei Julias rote Burgunder vor Augen gehabt.

Kegelclubs und Komasaufen

Die Winzerin ist nicht durchtränkt von ihrer eigenen Vita. Sie ist beseelt vom Ahrtal, bis in die 1990er keine unbedingt prosperierende Weinregion, die «Vor-Meyer-Näkel-Ära» sozusagen. Denn Werner Näkel ist einer der Pioniere, die der Welt zeigten, zu was Ahr-Burgunder in der Lage sind. «Er hat angeschoben, wovon unsere Generation heute profitiert», sagt Julia. Auch beim Winzer-Jungvolk wie den Gebrüdern Schäfer vom Weingut Burggarten in Heppingen. Die stellen den regionalen Rebsortenspiegel mit rund 85 Prozent roten Sorten ein wenig auf den Kopf und produzieren 40 Prozent Weiss, darunter cremige Chardonnays und fein strukturierte Grauburgunder. Oder beim Kellermeister Hans-Jörg Lüchau vom Deutzerhof in Mayschoss, wo bereits 1989 die hauseigene Spätburgunder-Auslese in neuer Barrique ihrem Höhepunkt entgegenreifte.

Der Önologe wird nicht müde, das Experiment Barrique in immer neuen Spielarten weiterzutreiben, bis das eleganteste Verhältnis von Holz und Frucht herauskommt. Kaum vorstellbar, dass nur wenige Kilometer westlich von Ahrweiler mal der «Ballermann an der Ahr» war. Busladungen voller Kegelclubs wurden in Mayschoss vor den sogenannten «Saufkellern» freigelassen, um sich mit lieblichen Spätburgundern in die Besinnungslosigkeit zu schiessen. Am Ausgang der Keller standen Verkäufer mit fertig gepackten Sechserkartons. Von dem halben Dutzend Festsälen existiert nur noch «Keller 6», wie manche diese letzte Bastion scherzhaft taufen. Platz finden dort 250 Personen, für die der alte Spruch «Wer an der Ahr war und noch weiss, dass er an der Ahr war, war nicht an der Ahr» mitunter zum Zungenbrecher wird.

Aufzuhalten ist der exzellente Ruf zahlreicher Pinot Noir aus den VDP Erste Lagen zwischen Altenahr und Heppingen längst nicht mehr. Und das Geld, das man verglichen mit manchen Grands Crus aus dem Burgund für Spitzengewächse von Weingütern wie Brogsitter, Jean Stodden oder H.J. Kreuzberg spart, kann man schön investieren. Zum Beispiel in ein Abendmenü von Sternekoch Hans-Stefan Steinheuer. Das Landgasthaus «Zur Alten Post» liegt einen Steinwurf entfernt von Ahrweiler. Um die Kabeljauschnitte mit Champagnersenfsauce sollte man sicherheitshalber eine winzige Stadtmauer ziehen, damit nicht wie am Nebentisch der junge Mann mit der Gabel im Teller seiner Freundin danach pickt.

AHRWEILER

Ahrweiler wirkt auf den ersten Blick, als hätte jemand ein antikes Disneyland aus der Taufe gehoben. Wie ein architektonisches Elysium tritt der Altstadtkern am linken Nebenfluss des Rheins mit Stadtmauer, Wehrtürmen, Mühlrädern und Fachwerk unterschiedlicher Epochen vor die touristischen Handy-Auslöser. Damit nicht genug, wachsen im Ahrtal einige der bemerkenswertesten Pinot Noir Deutschlands. Aus Ersten Lagen wie Mönchberg, Rosenthal oder Burggarten bereiten sechs regionale VDP-Weingüter Spät und Frühburgunder mit Weltruf.

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