Winzerlegende: Marlène Soria, Bordeaux

Rosa ist mein Herz 

Text: Barbara Schroeder, Fotos: Rolf Bichsel

  • Marlène Soria
    "Rosa ist meine Lieblingsfarbe. Rosa wie meine Lebenshaltung, rosa wie die Steine hier, wie die Zistrose, meine Lieblingsblume, wie meine Schnürsenkel."
  • Marlène Soria
    Marlène Soria, Bordeaux
  • Marlène Soria
    Pure Garigue im Glas
  • Marlène Soria
    Sogar ihre Schnürsenkel sind rosa.
  • Marlène Soria
    Peyre Rose ist in rund 40 Jahren vom baufälligen Schuppen zur spartanisch eingerichteten und doch topmodernen Winery geworden.
  • Marlène Soria
    Das Portrait war ein Geschenk von einem Kunden.

Dass die andere grosse Legende des Languedoc, Aimé Guibert, in die ewigen Weingründe eingegangen ist, hat sie von uns erfahren. Die mit ewiger Jugend beseelte gute Hexe des Languedoc lebt auch im Alter von 70 Jahren weiter weltabgeschieden auf ihrem Gut Peyre Rose im Hérault-Tal bei Montpellier, umgeben von Reben, Wein, Familie und ihrem Lieblingsesel. 

1997 hatten wir uns das letzte Mal gesehen, doch ist es, als wäre das gestern gewesen. Marlène Soria ist Marlène Soria geblieben, einmalig und unbequem. Nur die ziehbrunnentiefen Augen, in denen man zu versinken droht, zeugen von den zwei vergangenen Jahrzehnten. Und die weisse Mähne der einst pechschwarzen Winzerin. Der damalige Titel des ihr gewidmeten VINUM-Artikels, «Die gute Hexe des Languedoc», sei an ihr hängen geblieben, meint sie gleich zu Beginn unserer erneuten Begegnung, sehr zum Entsetzen ihres Sohnes, der keine Hexe als Mutter wollte. Marlène schüttelt den Kopf und lässt die Locken fliegen, mit einer Energie, die jeden Haarpflegespot alt aussehen lässt, hüpft und springt und blinzelt kokett in die Runde. «Kokett? Das passt. Ich habe immer gerne in den Spiegel geschaut.» Sie kann das noch heute. Marlène ist und bleibt die Schönste im ganzen Land.

Vom Spiegel an der Wand zum Rückspiegel ist es nur einen Halbjahrhundertschritt: «Es war einmal ein Paar, das arbeitete unten an der Küste in der damals futuristischen Touristensiedlung La Grande Motte», beginnt sie ihre Lebensgeschichte. «Ich arbeitete im Immobiliengeschäft, mein Prinz verdiente seine Brötchen als Segellehrer.» Doch das High Life an der Küste war nur das halbe Leben. Bald einmal dürstete das Traumpaar nach Ruhe und Entspannung in der Einsamkeit des Hinterlands. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre erwarb Marlène für ein Butterbrot eine Ruine mit Umland in der Nähe des verschlafenen Dörfchens Saint-Pargoire, mitten in der Wildnis des Hérault-Tals, ohne Strom, ohne Telefon, ohne Trinkwasseranschluss. «Genau das Richtige für uns. Leben auf dem Bauernhof, zurück zur Natur und so...» Alles ging gut, bis Marlène unter den Büschen der Heide ein paar knorrige Rebstöcke entdeckte. Dass Reben zu ihrem Gut gehörten, hatte der frühere Besitzer wohlweislich verschwiegen, denn wer wollte sich schon mit unproduktiven Ranken herumschlagen? Weinbau war zu dem Zeitpunkt in dieser Gegend Sisyphusarbeit, die niemand freiwillig leistete. Doch Marlène ist nicht nur kokett, sie besitzt auch einen besonders dicken Schädel. Und wenn der einmal erwacht, dann fliegen die Fetzen – oder in diesem Fall Äste und Reiser. Sie begann sich für Weinbau zu interessieren, schnitt sich durch Busch und Dornensträucher und legte so einen kleinen Wingert frei, dessen Stöcke sie eigenhändig veredelte. Wo sie das gelernt hat? Sie zuckt die Schultern und lacht.

«Das Porträt hat mir ein Kunde geschenkt, der sich als Maler versucht. Ich finde, er hat mich sehr gut getroffen, oder? Ich weiss, das klingt eitel. Aber ich war immer gerne kokett und lege bis heute Wert auf mein Aussehen.»

Anfang der 1980er Jahre fasste sie einen Entschluss, der selbst engere Bekannte überraschte: Sie wollte sich endgültig in Saint-Pargoire niederlassen. Der Lohn ihres Mannes und das Einkommen aus dem Immobiliengeschäft sollten fortan den Aus- und Umstieg finanzieren. 1981 rodete sie weitere Parzellen, die ganz von der Heide überwachsen waren, sprengte Löcher in den besonders kargen, steinigen Boden und pflanzte ihre ersten eigenen Reben. «Die Leute aus dem Dorf schauten mich nur mitleidig an und nannten mich ‹la folle de la garrigue›, die Verrückte von der Heide», erzählt Marlène. «Aus der damaligen Sicht verständlich! Verrückt war allein schon, dass ich hier Reben anlegte. Dann wollte ich diese erst noch biologisch bestellen, liess zwischen den Rebzeilen Rosmarin, Fenchel und Zistrosen spriessen.» Zistrosen? «Rosa war immer schon meine Lieblingsfarbe. Wenn ich die Farbe meines Blutes wählen könnte, wäre das Rosa, Rosa wie meine Lieblingsblume (eben die Zistrose), die das Etikett der Weine schmückt, wie das Lied der Piaf (‹La Vie en Rose›), wie die Farbe der Steine und Felsen hier, wie der Name meines Gutes, Peyre Rose (rosa Stein).»

Weil Marlène nichts nur ein bisschen macht, schrieb sie sich auch gleich in die Abendschule ein und schaffte auf dem zweiten Bildungsweg einen Berufsabschluss in Landwirtschaft. «Eine erschütternde Erfahrung. Was hier gelehrt wurde, hatte mit Terroir und Natur nichts zu tun. Insekten, egal ob Schädlinge oder Nützlinge, wurden erbarmungslos gekillt, Rebkrankheiten masslos mit Chemie bekämpft und damit basta. Wer das hinterfragte, galt als gefährlicher Terrorist. Zwischen dem, woran ich glaubte, und dem, was ich lernte, klafften Welten.» Bis sie überhaupt Wein erntete, musste sie einiges Lehrgeld bezahlen. Jungreben wurden vom Sauerwurm befallen und gingen ein – sie begann einfach wieder von vorne. Erträge blieben klein – egal, die Weine gerieten nur besser. Die Spötter liess sie links liegen.

Wohin mit den Trauben?

1988 hatte sie zum ersten Mal genügend Trauben an den Stöcken, dass sie an ernten denken konnte. Doch das wurde gleich wieder zum Problem. Wohin mit dem plötzlichen Traubensegen? Sie lebte in einer baufälligen, nur zum kleinsten Teil wohnhaft gemachten Ruine, ohne Anschluss ans öffentliche Stromnetz (bis heute kommt der Saft vom Generator), mit Trinkwasser aus eigener Bohrung. Nur die Telefonleitung war gezogen. Sie wendete sich an die Genossenschaft: Doch deren Vorgabe, sich für 25 Jahre zu engagieren, war nicht akzeptabel. Sie rief einen befreundeten Önologen an, der ihr als Erstes nahelegte, ihre Trauben selber zu vinifizieren – günstiges Gebrauchtmaterial dafür gäbe es zur Genüge.

Dank einer Annonce im Landwirtschaftsblättchen «Paysan du Midi» wurde sie fündig: Sie schaffte eine alte Presse, drei Stahltanks und eine Pumpe an – und als wichtigstes Utensil eine verbeulte Theke, die bis heute zum Verkosten der Weine dient. In der Nähe von Marseille trieb sie zwei alte Orangina-Tanks auf, die sie auf einen klapprigen Anhänger stemmte, mit Hanfseilen notdürftig festknotete und in zwei abenteuerlichen Fahrten nach Peyre Rose brachte. Statt Limonade sollten sie einen der besten Weine der Gegend bergen.

In den nächsten Jahren vergrösserte sie die Anbaufläche auf stolze 17 Hektar, setzte Gebäude instand, liess ihre Brotarbeit ganz fallen. 1989 verkaufte sie zum ersten Mal etwas Offenwein, zu einem Spottpreis zwar, doch das erlaubte weitere Investitionen. Ihr Vorschlag, den Wein separat abzufüllen, wurde vom Händler dankend abgelehnt: Languedoc war kein Thema. Trotzig lagerte sie ihre Ausbeute weiter, überzeugt davon, dass ihr Wein, an den sie glaubte, früher oder später einfach Käufer finden musste. «Ich nannte das Philosophie, meine Umgebung sprach von Leichtsinn.»

Über Nacht zur Vorzeigewinzerin

Doch das Wunder geschah. Ein amerikanischer Importeur, eigentlich auf Burgunder spezialisiert, stiess durch Zufall auf ein Muster ihres Weins, reagierte enthusiastisch und finanzierte die erste Flaschenabfüllung. Die Kunden teilten seine Begeisterung, Marlène wurde fast über Nacht zur Vorzeigewinzerin des Languedoc, ganz oben auf dem Podium mit anderen Pionieren wie Aimé Guibert und Olivier Jullien. Auf die Amerikaner folgten die Franzosen, das übrige Europa, die Japaner und die Welt wurden auf die Weinrevolution im Languedoc aufmerksam. VINUM widmete der Winzerin 1993 einen ersten Beitrag. Mehr und mehr Güter traten ins Rampenlicht, die Region verwandelte sich in ein neues Wein-Eldorado, und für Marlène schien die Sache geritzt. Denkste. «Fast scheint es, ich komme nur vorwärts, wenn ich gegen Windmühlen ankämpfen muss. La vie en rose n’était pas toujours rose. (Das rosa Leben war so rosa nicht immer.) Ich bin offenbar nicht auf die Leichtigkeit des Seins abonniert.»

Mit dem Erfolg, erst recht dem unerwarteten, kamen die Neider. Solang sie erfolglos im Staub schuften musste, hatten diese für die verrückte Marlène nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Doch als sich plötzlich Journalisten und Fernsehequipen nach dem Weg nach Peyre Rose erkundigten, wurde die Sache ernst. Die Kriegserklärung kam aus dem nahen Dorf. Marlène legte sich wegen einer Bagatelle mit dem Bürgermeister an – Kompromissbereitschaft gehört nicht zu ihren Stärken. Der konterte, indem er den ungeteerten, staubigen Weg zum Gut (der nur dieses bedient!) für Laster über 2,5 Tonnen sperren liess, was den Abtransport der Weine zum Spiessrutenlauf machte und den Kellerausbau drei Jahre lang verzögerte. «Dieser Kleinkrieg zehrte an meinen Nerven. Dabei wollte ich nichts anderes als in aller Ruhe guten Wein produzieren!»

Als der heiss ersehnte Keller fertig war, der endlich komfortables Arbeiten ermöglichen sollte, tauchte völlig unerwartet ein neues Problem auf. Die modernen neuen Betontanks, die sie bei einem regionalen Anbieter bestellt hatte, der diese in Italien fertigen liess, entpuppten sich als fehlerhaft: Der Innenanstrich war ungeeignet und führte zu Fehlgeschmack. Vier Ernten (1997 bis 2001) waren davon betroffen. Sie versuchte die Sache freundschaftlich zu regeln. Der Anbieter wollte nichts wissen, Marlène ging vor Gericht, ungeachtet der astronomischen Anwaltskosten, der Fabrikant reichte vorsichtshalber Konkurs ein, das Justizverfahren dauerte ganze 14 Jahre. Das Urteil wurde erst kürzlich, im März 2016, gefällt. Marlène erhielt natürlich vollumfänglich Recht – doch entschädigt wurde sie ausschliesslich für die Behälter, nicht den verlorenen Wein. Es sei schliesslich ihr Entscheid gewesen, die Weine in diese fehlerhaften Tanks zu geben, die offenbar nur zur Zierde dienten.

«Rosa ist meine Lieblingsfarbe. Rosa wie meine Lebenshaltung, rosa wie die Steine hier, Rosa wie die Zistrose, meine Lieblingsblume, wie meine Schnürsenkel.»

«Das war der grösste Schicksalsschlag meines Lebens. Alles lief gut, wir waren bekannt, unsere Produkte begehrt, das Unternehmen lief auf Hochtouren – und plötzlich hatten wir keinen Wein mehr. Ich musste ganz unten durch, Leute entlassen, war einmal mehr dem Spott ausgesetzt.» Was einen Bullen zu Fall bringen würde, verschonte selbst die mit allen Wassern gewaschene Marlène  nicht. Sie brach zusammen: wortwörtlich wie im übertragenen Sinn.

Doch sie raufte sich einmal mehr auf. Mit dem Jahrgang 2002 begann die Renaissance. Marlène konnte an alte Erfolge anknüpfen. Heute funktioniert der Keller, der Rebgarten ist auf 22 Hektar angewachsen, umgeben von 50 Hektar fast unberührter, paradiesischer Natur, ihre Weine sind besser denn je, und ihr Sohn, der lange von Weinbau nichts wissen wollte («Wein hat meine ganze Jugend vergiftet»), steht ihr heute zur Seite und will den Betrieb übernehmen, wenn Marlène, so in 50 oder 60 Jahren – denn vorher wird sie nicht aufgeben, das ist sie sich schuldig –, dann wirklich nicht mehr mag. Endlich sieht die Zukunft, nach 50 Jahren Kampf gegen Windmühlen und Elemente, tatsächlich rosig aus. «Ich fühle mich trotz meiner 70 Jahre tatkräftig wie schon lange nicht mehr und habe tausend neue Ideen», gesteht sie zum Abschied und reibt sich verschmitzt ihr Jungmädchen-Näschen. Mein Gott, wir fürchten das Beste! 

Die pure Garigue im Glas

Die 22 Hektar von Peyre Rose sind vorwiegend mit Syrah bepflanzt. Zwei Hektar sind mit weisser Rolle, Roussanne und Viognier bestockt. Die drei roten und der weisse Languedoc AOP werden nach zehn Jahren abgefüllt. Sie beeindrucken durch Konzentration, Kraft und Komplexität. 

 

Clos des Cistes 2006

19 Punkte | 2018 bis 2026 

Cistes, oder Zistrose, ist der Name des wilden, buschigen Strauches, der in der Garigue wächst und im Frühsommer weiss oder rosa blüht. Die sieben Hektar Reben wachsen auf kühlen Böden aus Lehm und gelbem Kalk. Abgefüllt wird diese eleganteste der drei Cuvées, eine Assemblage aus Syrah mit 15 Prozent Grenache, seit 1990. Aktuell kommerzialisiert Marlène Soria den Jahrgang 2006, der eben erst auf die Flasche kam. Herrliche Kirschnase, fruchtig auch im Mund, raffiniert, von würziger Eleganz und Frische, noch etwas verschlossen. Unbedingt karaffieren. 

 

Syrah Léone 2006

18 Punkte | 2019 bis 2024 

So gut der Name auch klingen mag: Erfunden ist er nicht. Léone bezeichnet eine Parzelle, auf der Syrahund Mourvèdre-Reben gedeihen. Die Böden bestehen aus rotem Lehm und Geröll. «Namen müssen für mich einen Sinn haben», erklärt Marlène Soria. Dunkles Rubin; orientalische Würze, noch sehr jugendlich, fest gebautes, dichtes Tannin, konzentriert, langanhaltendes Finale. Imposant und doch zugänglich. 

 

Marlène N° 3 2006

17.5 Punkte | 2016 bis 2025 

Warum Nummer drei? «Weil die Cuvée Marlène schon anderswo existiert. Und drei, weil es sich um die dritte rote Cuvée des Hauses handelt.» Sie besteht aus 60 Prozent Syrah und 40 Prozent Grenache und wird seit 2003 produziert. Verführerisch fruchtig, feines Tanningerüst, sonniger, temperamentvoller Südwein, der trotzdem erstaunlich bekömmlich mundet. 

 

Clos des Cistes 2002

18.5 Punkte | 2016 bis 2025 

Der Jahrgang des «Comebacks» nach vier Jahren ohne Wein. Aromen von Gewürzen und frischen Kräutern, rassiges, feingebautes Tannin, von besonders bemerkenswerter Mineralität und Frische.

 

Syrah Léone 2002

17.5 Punkte | 2016 bis 2022 

Herrlich saftig, fruchtig, doch auch gut strukturiert und lang auf würzigen Garigue-Noten endend. Superb, kann noch reifen. Zu Mittelmeerküche. 

 

Oro Blanc Sec 2000

 19 Punkte | 2016 bis 2030 

Marlène Soria hat ihren weissen Peyre Rose vorwiegend aus Rolle gekeltert, ergänzt durch Roussanne und Viognier. 16 Jahre lang hat er alle Kellerkatastrophen überlebt und wurde erst jetzt abgefüllt. Das ermöglichte der Winzerin, den Wein zu stabilisieren, ohne ihn zu filtrieren oder zu schönen. Das Resultat ist einzigartig in jeder Hinsicht: Aromen von weissen Blüten und gelbem Steinobst, im Mund reif, vollmundig und gleichzeitig elegant und frisch, ein echtes Erlebnis.

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